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HRRS-Nummer: HRRS 2020 Nr. 1164

Bearbeiter: Holger Mann

Zitiervorschlag: BVerfG, 2 BvR 412/20, Beschluss v. 29.09.2020, HRRS 2020 Nr. 1164


BVerfG 2 BvR 412/20 (1. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 29. September 2020 (OLG Hamm / LG Dortmund)

Verfassungsrechtliche Bedenken gegen die Anordnung einer gesetzlich nicht vorgesehenen Disziplinarmaßnahme im Strafvollzug auf der Grundlage einer Generalklausel; Unzulässigkeit der Verfassungsbeschwerde (kein Offenhalten der Verfassungsbeschwerdefrist durch Einlegen einer offensichtlich aussichtslosen Gehörsrüge).

Art. 2 Abs. 1 GG; Art. 103 Abs. 1 GG; § 90 Abs. 2 BVerfGG; § 93 Abs. 1 BVerfGG; § 2 Abs. 4 StVollzG NRW

Leitsätze des Bearbeiters

1. Die Heranziehung einer vom Gesetzgeber explizit für subsidiär erklärten Generalklausel zur Anordnung von Sicherungsmaßnahmen als Ermächtigungsnorm für eine gesetzlich nicht vorgesehene Disziplinarmaßnahme („Freizeit- und Umschlusssperre“) begegnet unter dem Gesichtspunkt der allgemeinen Handlungsfreiheit verfassungsrechtlichen Bedenken.

2. Eine offensichtlich aussichtslose Anhörungsrüge, mit der keine Gehörsverletzung gerügt, sondern ausschließlich eine fehlerhafte Rechtsanwendung geltend gemacht wird, gehört nicht zu dem vor Erhebung einer Verfassungsbeschwerde zu erschöpfenden Rechtsweg und ist daher nicht geeignet, die Monatsfrist des § 93 Abs. 1 BVerfGG offen zu halten.

Entscheidungstenor

Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.

Gründe

Die Verfassungsbeschwerde ist unzulässig, weil sie nicht innerhalb der Monatsfrist des § 93 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG ab Zustellung des angegriffenen Beschlusses des Oberlandesgerichts Hamm vom 21. Januar 2020 - III - 1 Vollz (Ws) 618/19 - erhoben wurde. Daran ändert auch die vom Beschwerdeführer eingelegte Gehörsrüge nichts.

Die Erhebung der fachgerichtlichen Gehörsrüge war nicht geeignet, die Frist zur Einlegung der Verfassungsbeschwerde offen zu halten, denn sie war von vornherein unzulässig (vgl. BVerfGE 5, 17 <19>; 48, 341 <344>; BVerfGK 11, 203 <205>). Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts wird durch die Einlegung eines offensichtlich unstatthaften oder offensichtlich unzulässigen Rechtsmittels und die darauf ergehende gerichtliche Entscheidung die Monatsfrist zur Einlegung der Verfassungsbeschwerde nicht neu in Lauf gesetzt (vgl. BVerfGE 48, 341 <344>). Offensichtlich unstatthaft oder unzulässig ist ein Rechtsmittel, wenn der Beschwerdeführer nach dem Stand der Rechtsprechung und Lehre bei Einlegung des Rechtsmittels über die Unstatthaftigkeit oder Unzulässigkeit nicht im Ungewissen sein konnte (vgl. BVerfGE 28, 1 <6>).

Es kann offenbleiben, ob der Beschwerdeführer lediglich perpetuierte Gehörsverstöße des erstinstanzlichen Gerichts rügt, da er jedenfalls in der Sache ausschließlich eine fehlerhafte Rechtsanwendung der Generalklausel des § 2 Abs. 4 des Strafvollzugsgesetzes Nordrhein-Westfalen geltend macht. Darin, dass ein Gericht der Rechtsauffassung des Rechtsschutzsuchenden nicht folgt, liegt jedoch kein Gehörsverstoß, der im Gewand der Gehörsrüge verfassungsbeschwerdefristwahrend gerügt werden könnte (vgl. BVerfGE 87, 1 <33>; BVerfGK 13, 480 <481 f.>).

Dass das Oberlandesgericht Hamm in seiner Entscheidung vom 6. Februar 2020 - III - 1 Vollz (Ws) 618/19 - die Zulässigkeit der Gehörsrüge ausdrücklich offengelassen hat, kann an diesem Ergebnis nichts ändern. Die vom Ausgangsgericht vorgenommene Zurückweisung als unbegründet ist für die Bewertung der Zulässigkeit dieses Rechtsbehelfs mit Blick auf die Monatsfrist zur Einlegung der Verfassungsbeschwerde nicht von Bedeutung und der eigenständigen Prüfung des Bundesverfassungsgerichts ohne Bindungswirkung an die Entscheidung des Fachgerichts überantwortet (vgl. BVerfGK 11, 203 <205 ff.>).

Vor diesem Hintergrund kann dahinstehen, ob die vom Beschwerdeführer gerügte Auslegung und Anwendung des § 2 Abs. 4 des Strafvollzugsgesetzes Nordrhein-Westfalen durch die Entscheidungen des Landgerichts Dortmund vom 4. November 2019 sowie des Oberlandesgerichts Hamm vom 21. Januar 2020 als Eingriffsgrundlage für die Anordnung einer Freizeit- und Umschlusssperre Bedeutung und Tragweite des Grundrechts der allgemeinen Handlungsfreiheit nach Art. 2 Abs. 1 GG ausreichend berücksichtigt (zur allgemeinen Handlungsfreiheit vgl. BVerfGE 130, 76 <110 f.>). Nach der Intention des nordrhein-westfälischen Gesetzgebers, die in der Subsidiaritätsklausel in § 2 Abs. 4 des Strafvollzugsgesetzes Nordrhein-Westfalen verankert ist, sollte die Generalklausel gerade nicht dazu dienen, die gesetzlich geregelten Disziplinarmaßnahmen durch die Anwendung derselben auszuweiten (vgl. LTDrucks 16/5413, S. 79). Über die Generalklausel des § 2 Abs. 4 des Strafvollzugsgesetzes Nordrhein-Westfalen können lediglich allgemeine Sicherungsmaßnahmen, für die es keine ausdrückliche anderweitige Regelung im Gesetz gibt, angeordnet werden (vgl. LTDrucks 16/5413, S. 79). Die Subsumtion einer wenn auch zeitlich kurzen Disziplinarmaßnahme in Form einer Umschluss- und Freizeitsperre unter § 2 Abs. 4 des Strafvollzugsgesetzes Nordrhein-Westfalen (vgl. § 80 Abs. 1 Nr. 4 StVollzG NRW) begegnet insoweit verfassungsrechtlichen Bedenken.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

HRRS-Nummer: HRRS 2020 Nr. 1164

Bearbeiter: Holger Mann