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HRRS-Nummer: HRRS 2020 Nr. 1133

Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 1 StR 247/20, Beschluss v. 18.08.2020, HRRS 2020 Nr. 1133


BGH 1 StR 247/20 - Beschluss vom 18. August 2020 (LG München II)

Unerlaubter Besitz von Betäubungsmitteln (freie Zugänglichkeit des Rauschgifts nicht ausreichend).

§ 29 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 BtMG

Leitsatz des Bearbeiters

Besitz im Sinne der § 29 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 BtMG setzt ein tatsächliches Innehaben, ein tatsächliches Herrschaftsverhältnis und einen Besitzwillen voraus, der darauf gerichtet ist, sich die Möglichkeit ungehinderter Einwirkung auf die Sache zu erhalten (st. Rspr.). Allein eine „freie Zugänglichkeit“ des Rauschgifts genügt nicht.

Entscheidungstenor

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts München II vom 3. März 2020, soweit es ihn betrifft, mit den Feststellungen aufgehoben; jedoch bleiben die Feststellungen zum Angriff auf den Polizeibeamten K. einschließlich der von diesem erlittenen Verletzungen aufrechterhalten.

2. Die weitergehende Revision wird als unbegründet verworfen.

3. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine allgemeine Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht - Jugendkammer - hat den Angeklagten wegen unerlaubten Besitzes von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in Tateinheit mit tätlichem Angriff auf Vollstreckungsbeamte und mit vorsätzlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und vier Monaten verurteilt. Die hiergegen gerichtete Revision des Angeklagten, mit der er die Verletzung sachlichen Rechts beanstandet und innerhalb derer er die Nichtanwendung des § 64 1 StGB nachträglich von seinem Angriff ausgenommen hat, hat den aus der Beschlussformel ersichtlichen Erfolg (§ 349 Abs. 4 StPO); im Übrigen ist sein Rechtsmittel unbegründet (§ 349 Abs. 2 StPO).

I.

Nach den Feststellungen des Landgerichts veräußerte der nicht revidierende Mitangeklagte B. seit Ende September 2018 gewinnbringend Cannabisprodukte. Unter anderem in der Wohnung der ebenfalls nicht revidierenden Mitangeklagten W. bunkerte B. überwiegend, nämlich wenigstens zu 3/5, zum Weiterverkauf bestimmtes Marihuana; zu diesem Zweck überließ W. dem B. einen Wohnungsschlüssel. W. wusste zumindest vom Versteck im Badezimmer und billigte dies, da sie und ihr damaliger Lebensgefährte, der Angeklagte, im Gegenzug von der verbleibenden Rauschgiftmenge (rund 2/5 der Gesamtmenge) selbst - neben B. - konsumieren durften. Der Angeklagte, der sich ?oftmals? in der Wohnung der Mitangeklagten W. aufhielt und täglich ein bis zwei Joints rauchte, bediente sich regelmäßig ?an Ort und Stelle? (UA S. 22) an dem Vorrat, auch dann, wenn der Mitangeklagte B. nicht zugegen war.

Am 15. Februar 2019 lagerten im Badezimmer 206,92 Gramm Cannabisprodukte mit einer Wirkstoffmenge von 34,59 Gramm THC. Während der Durchsuchung durch zwei Polizeibeamte befand sich der Angeklagte mit dem Zeugen S. zunächst im Badezimmer, um dort einen Joint zu konsumieren. Als W. ?Achtung Bullen!? rief, stürzte sich der Angeklagte auf den Polizeibeamten K. und brachte diesen zu Fall; dadurch erlitt K. mehrere Hämatome, eine Schürfwunde und eine schmerzhafte Daumendistorsion.

II.

Das Urteil hält der sachlichrechtlichen Nachprüfung nicht stand.

1. Die Feststellungen tragen nicht den Schuldvorwurf des unerlaubten Besitzes von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge.

a) Besitz im Sinne der § 29a Abs. 1 Nr. 2 Variante 4, § 29 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 BtMG setzt ein tatsächliches Innehaben, ein tatsächliches Herrschaftsverhältnis und einen Besitzwillen voraus, der darauf gerichtet ist, sich die Möglichkeit ungehinderter Einwirkung auf die Sache zu erhalten (st. Rspr.; BGH, Beschluss vom 25. September 2018 - 3 StR 113/18, BGHR BtMG § 29a Abs. 1 Nr. 2 Besitz 8; Urteile vom 15. April 2008 - 4 StR 651/07 Rn. 5 mwN und vom 17. Oktober 2007 - 2 StR 369/07 Rn. 23). Allein eine ?freie Zugänglichkeit? des Rauschgifts genügt nicht (BGH, Beschluss vom 2. Dezember 1992 - 5 StR 592/92 Rn. 6).

b) An diesen Vorgaben gemessen ist weder eine ausreichende tatsächliche Verfügungsgewalt des Angeklagten im Sinne eines zusammen mit W. ausgeübten Mitbesitzes am Cannabisvorrat im Badezimmer noch ein darauf gerichteter Besitzwille belegt. Vielmehr griff der Mitangeklagte B., der ungehinderten Zugang zur Wohnung hatte, nach Belieben weiterhin auf den Vorrat zu, um Portionen daraus zu veräußern oder selbst zu verbrauchen. Da der Angeklagte lediglich zwecks Eigenkonsums sich am Cannabisvorrat bedienen wollte, musste er dafür B. s Verfügungsgewalt nicht in Frage stellen. Solange B. den - nicht übermäßigen - Mitkonsum des Lebensgefährten seiner Gehilfin duldete, musste der Angeklagte keinen Besitzwillen entwickeln. Unter diesen Umständen begründet der bloße Eigenkonsum an ?Ort und Stelle? noch keinen Besitz.

2. Da das Landgericht von Tateinheit (§ 52 Abs. 1 Alternative 1 StGB) ausgegangen ist, unterliegt der Schuldspruch insgesamt, also einschließlich der für sich genommen rechtsfehlerfreien Verurteilung wegen tätlichen Angriffs auf Vollstreckungsbeamte in Tateinheit mit vorsätzlicher Körperverletzung, der Aufhebung (§ 353 Abs. 1 StPO; vgl. BGH, Urteile vom 13. März 2019 - 1 StR 424/18 Rn. 12; vom 28. September 2017 - 4 StR 282/17 Rn. 14; vom 29. August 2007 - 5 StR 103/07 Rn. 51 und vom 20. Februar 1997 - 4 StR 642/96 Rn. 6, BGHR StPO § 353 Aufhebung 1). Jedoch können die Feststellungen zum Geschehen außerhalb des Badezimmers bestehen bleiben (§ 353 Abs. 2 StPO; vgl. BGH, Urteil vom 29. August 2007 - 5 StR 103/07 Rn. 51).

3. Die Urteilsaufhebung ist bereits deswegen nicht auf die Mitangeklagte W. zu erstrecken (§ 357 Satz 1 StPO), weil das Landgericht sie allein wegen Beihilfe zum unerlaubten Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge verurteilt hat.

4. Da sich das Verfahren nicht mehr gegen Heranwachsende richtet, ist eine allgemeine Strafkammer zur Entscheidung berufen. Diese wird, sollte sie den Angeklagten wiederum wegen einer Betäubungsmittelstraftat verurteilen, die Annahme von Tateinheit näher zu belegen haben. Um beurteilen zu können, ob zwischen Täter und Opfer der für den Strafmilderungsgrund des § 46a Nr. 1 StGB erforderliche kommunikative Prozess stattgefunden hat, sind regelmäßig Feststellungen dazu erforderlich, wie sich das Opfer zu den Bemühungen des Täters gestellt hat (BGH, Beschlüsse vom 6. November 2019 - 2 StR 203/19 Rn. 21 und vom 24. Januar 2019 - 1 StR 591/18 Rn. 6 mwN). Zur Frage, inwieweit es zu einer vollständigen Erfüllung der berechtigten Ansprüche des Opfers gekommen ist, dürfte der Stand des Zivilrechtsprozesses aufzuklären sein.

HRRS-Nummer: HRRS 2020 Nr. 1133

Externe Fundstellen: NStZ 2021, 52; StV 2021, 444

Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede