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HRRS-Nummer: HRRS 2020 Nr. 1073

Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner

Zitiervorschlag: BGH, 4 StR 518/19, Beschluss v. 30.07.2020, HRRS 2020 Nr. 1073


BGH 4 StR 518/19 - Beschluss vom 30. Juli 2020 (LG Essen)

Nachträgliche Gesamtstrafenbildung (Ausschluss des Nachtragsverfahrens).

§ 460 StPO

Leitsatz des Bearbeiters

Ein Nachtragsverfahren gemäß § 460 StPO ist erst dann ausgeschlossen, wenn sämtliche Strafen, die für eine Gesamtstrafenbildung in Betracht gekommen wären, vollständig vollstreckt, verjährt oder erlassen sind.

Entscheidungstenor

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Essen vom 3. Mai 2019, soweit es ihn betrifft, im Ausspruch über die Gesamtstrafe mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben.

2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

3. Die weiter gehende Revision wird verworfen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten unter Freispruch im Übrigen wegen „Beihilfe zu 7 Fällen des Computerbetrugs, wobei es in einem Fall beim Versuch blieb“, unter Einbeziehung der Strafen aus dem Urteil des Amtsgerichts Leer vom 7. September 2016 sowie aus den Strafbefehlen des Amtsgerichts Leer vom 23. Dezember 2016 und vom 30. April 2015 unter Auflösung der darin gebildeten Gesamtstrafen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und neun Monaten verurteilt. Die gegen die Verurteilung gerichtete und auf die Rüge der Verletzung materiellen Rechts gestützte Revision hat den aus der Entscheidungsformel ersichtlichen Teilerfolg; im Übrigen ist das Rechtsmittel unbegründet (§ 349 Abs. 2 StPO).

Die Entscheidung des Landgerichts über die Bildung der (nachträglichen) Gesamtstrafe kann nicht bestehen bleiben. Auf der Grundlage der lückenhaften Feststellungen zu den Vorverurteilungen vermag der Senat nicht zu prüfen, ob die Gesamtstrafenbildung frei von Rechtsfehlern ist.

1. Nach den Feststellungen des Landgerichts verurteilte das Amtsgericht Leer den Angeklagten am 30. April 2015 - und damit nach der im Zeitraum Januar 2015 begangenen verfahrensgegenständlichen Tat - wegen Vorenthaltens und Veruntreuens von Arbeitsentgelt in 101 Fällen zu einer Gesamtgeldstrafe von 200 Tagessätzen zu jeweils 30 €; die mit Einzelgeldstrafen von jeweils 15 Tagessätzen geahndeten Taten hatte der Angeklagte im Zeitraum von August 2012 bis Januar 2013 begangen. Die Feststellungen belegen die vom Landgericht angenommene Zäsurwirkung des Urteils des Amtsgerichts Leer vom 30. April 2015 nicht zweifelsfrei. Denn die dem Urteil des Amtsgerichts Leer vom 30. April 2015 zugrundeliegenden Taten sind zeitlich vor der am 23. September 2013 erfolgten Verurteilung des Angeklagten wegen „vorsätzlichen Fahrens ohne Fahrerlaubnis“ zu einer Gesamtgeldstrafe von 60 Tagessätzen zu jeweils 25 € begangen. Feststellungen zum Vollstreckungsstand dieser Vorverurteilung zum Zeitpunkt des Erlasses des Urteils des Amtsgerichts Leer vom 30. April 2015 sind dem angegriffenen Urteil nicht zu entnehmen. Daher kann nicht geprüft und entschieden werden, ob das Landgericht im Ergebnis zu Recht davon ausgegangen ist, dass die von dieser Vorverurteilung vom 23. September 2013 ausgehende Zäsurwirkung, die unter Berücksichtigung des Gesamtzusammenhangs der Urteilsgründe mittlerweile vollständig vollstreckt ist, entfallen ist. Dies wäre nicht der Fall, wenn die Erledigung zeitlich nach Erlass des Urteils des Amtsgerichts Leer vom 30. April 2015 eingetreten wäre, weil eine solche spätere Erledigung einer nachträglichen Gesamtstrafenbildung gemäß § 460 StPO nicht entgegen stünde (BGH, Beschlüsse vom 27. Februar 2020 - 4 StR 1/20 Rn. 2; vom 26. Juni 2013 - 3 StR 161/13, BGHR StPO § 460 Anwendung 1, und vom 17. Juli 2007 - 4 StR 266/07, NStZ-RR 2007, 369). Ein Nachtragsverfahren gemäß § 460 StPO ist erst dann ausgeschlossen, wenn sämtliche Strafen, die für eine Gesamtstrafenbildung in Betracht gekommen wären, vollständig vollstreckt, verjährt oder erlassen sind. Die Feststellungen lassen mithin offen, ob die Vorverurteilung vom 23. September 2013 Zäsurwirkung mit der Folge entfaltet, dass die Geldstrafen aus dem Urteil des Amtsgerichts Leer vom 30. April 2015 nicht zur Gesamtstrafenbildung hätten herangezogen werden dürfen.

2. Darüber hinaus fehlt es an den erforderlichen Feststellungen dazu, wann die den Urteilen des Amtsgerichts Leer vom 7. September 2016 und vom 23. Dezember 2016 zugrundeliegenden Taten begangen worden sind. Bei dieser Sachlage kann nicht geprüft und entschieden werden, ob das Landgericht insoweit zu Recht von einer Gesamtstrafenlage ausgegangen ist.

3. Diese Rechtsfehler führen zur Aufhebung des Ausspruchs über die Gesamtstrafe; es ist nicht auszuschließen, dass der Angeklagte durch die Einbeziehung der verhängten Geldstrafen in eine Gesamtfreiheitsstrafe beschwert ist (§ 337 Abs. 1 StPO).

Die Sache bedarf daher insoweit neuer Verhandlung und Entscheidung. Dabei wird das nunmehr zur Entscheidung berufene Tatgericht im Falle erneuter Gesamtstrafenbildung gegebenenfalls dem Verschlechterungsverbot Rechnung zu tragen haben. Das bei alleiniger Revision des Angeklagten zu beachtende verfahrensrechtliche Verbot der reformatio in peius aus § 358 Abs. 2 Satz 1 StPO hat im Falle fehlerhafter nachträglicher Gesamtstrafenbildung zur Folge, dass dem Angeklagten ein durch die fehlerhafte Anwendung des § 55 StGB erlangter Vorteil nicht mehr genommen werden darf (vgl. BGH, Beschluss vom 8. Juni 2016 - 4 StR 73/16, StraFo 2016, 348).

HRRS-Nummer: HRRS 2020 Nr. 1073

Externe Fundstellen: NStZ 2020, 659

Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner