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HRRS-Nummer: HRRS 2019 Nr. 904

Bearbeiter: Holger Mann

Zitiervorschlag: BVerfG, 2 BvR 900/19, Beschluss v. 13.08.2019, HRRS 2019 Nr. 904


BVerfG 2 BvR 900/19 (3. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 13. August 2019 (Hanseatisches OLG / LG Hamburg)

Einstweilige Anordnung gegen die Vollstreckung einer Freiheitsstrafe wegen Verstoßes gegen die Mitteilungspflicht über eine Verfahrensverständigung (Recht auf ein faires Verfahren).

Art. 2 Abs. 1 GG; Art. 20 Abs. 3 GG; § 32 Abs. 1 BVerfGG; § 243 Abs. 4 StPO

Leitsatz des Bearbeiters

Die Vollstreckung einer Freiheitsstrafe ist einstweilen auszusetzen, wenn das Berufungsgericht in dem zugrundeliegenden Erkenntnisverfahren gegen die Mitteilungspflicht über eine Verständigung verstoßen hatte, so dass der Verurteilte möglicherweise in seinem Recht auf ein faires Verfahren verletzt ist.

Entscheidungstenor

Die Vollstreckung der Freiheitsstrafe aus dem Urteil des Amtsgerichts Hamburg-Barmbek vom 15. November 2017 - 841 Ls 111/17 - in Gestalt des Urteils des Landgerichts Hamburg vom 12. Dezember 2018 - 712 Ns 19/18 - wird einstweilen bis zu einer Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde, längstens für die Dauer von sechs Monaten, ausgesetzt.

Gründe

I.

Gegenstand der Verfassungsbeschwerde ist die Verurteilung des Beschwerdeführers zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und acht Monaten wegen bewaffneten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln. Der Beschwerdeführer rügt eine Verletzung seines Rechts auf ein faires Verfahren und macht geltend, dass im Berufungsverfahren gegen die Mitteilungspflichten aus § 243 Abs. 4 StPO verstoßen worden sei und ein Beruhen des Berufungsurteils auf diesem Verstoß nicht ausgeschlossen werden könne. Im Hinblick auf die Ladung zum Strafantritt bis spätestens zum 13. August 2019 beantragt er den Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 32 BVerfGG, durch die die Vollstreckung der Freiheitsstrafe einstweilen bis zu einer Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde ausgesetzt werden soll.

II.

Die Voraussetzungen für den Erlass der beantragten einstweiligen Anordnung liegen vor.

1. Nach § 32 Abs. 1 BVerfGG kann das Bundesverfassungsgericht im Streitfall einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist.

Bei der Prüfung dieser Voraussetzungen ist ein strenger Maßstab anzulegen. Dabei haben die Gründe, die der Beschwerdeführer für die Verfassungswidrigkeit der angegriffenen Hoheitsakte anführt, grundsätzlich außer Betracht zu bleiben, es sei denn, die Verfassungsbeschwerde erweist sich von vornherein als unzulässig oder offensichtlich unbegründet. Bei offenem Ausgang des Verfassungsbeschwerdeverfahrens muss das Bundesverfassungsgericht die Folgen abwägen, die eintreten würden, wenn die einstweilige Anordnung nicht erginge, die Verfassungsbeschwerde aber Erfolg hätte, gegenüber den Nachteilen, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, der Verfassungsbeschwerde aber der Erfolg zu versagen wäre (vgl. BVerfGE 76, 253 <255>; BVerfGE 99, 57 <66>; stRspr).

2. Die Verfassungsbeschwerde erscheint nach dem gegenwärtigen Verfahrensstand weder von vornherein unzulässig noch offensichtlich unbegründet. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass die angegriffenen Entscheidungen des Landgerichts Hamburg und des Hanseatischen Oberlandesgerichts den Beschwerdeführer in seinem Recht auf ein faires Verfahren aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG verletzen. Über den Antrag auf einstweilige Anordnung ist deshalb nach Maßgabe einer Folgenabwägung zu entscheiden. Diese fällt zugunsten des Beschwerdeführers aus.

Erginge die einstweilige Anordnung nicht, erwiese sich die Verfassungsbeschwerde später aber als begründet, könnte die Freiheitsstrafe in der Zwischenzeit vollstreckt werden. Dies wäre ein erheblicher, irreparabler Eingriff in das besonders gewichtige Recht auf die Freiheit der Person (vgl. BVerfGE 22, 178 <180>; 104, 220 <234>). Erginge dagegen die einstweilige Anordnung, erwiese sich die Verfassungsbeschwerde jedoch später als unbegründet, wögen die damit verbundenen Nachteile deutlich weniger schwer. Zwar könnte die Freiheitsstrafe vorübergehend nicht vollstreckt werden. Es ist jedoch nicht ersichtlich, dass durch das Zurücktreten des öffentlichen Interesses an einer nachdrücklichen und beschleunigten Vollstreckung der Freiheitsstrafe ein erheblicher Nachteil für das Wohl der Allgemeinheit zu besorgen wäre, zumal bereits ein Teil der Strafe im Wege anzurechnender Untersuchungshaft vollstreckt ist.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

HRRS-Nummer: HRRS 2019 Nr. 904

Bearbeiter: Holger Mann