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HRRS-Nummer: HRRS 2019 Nr. 850

Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner

Zitiervorschlag: BGH, 2 ARs 282/18, Beschluss v. 21.05.2019, HRRS 2019 Nr. 850


BGH 2 ARs 282/18 2 AR 219/18 - Beschluss vom 21. Mai 2019 (AG Kiel)

Zuständiges Gericht (Sitz der Verwaltungsbehörde; ordnungswidrigkeitenrechtlicher Verwaltungsbehördenbegriff; keine Entscheidung über sachliche und örtliche Zuständigkeit).

§ 68 Abs. 1 Satz 1 OWiG

Leitsätze des Bearbeiters

1. § 68 Abs. 1 Satz 1 OWiG entscheidet bei einem Einspruch gegen den Bußgeldbescheid das Amtsgericht, in dessen Bezirk die Verwaltungsbehörde ihren Sitz hat. Gemeint ist damit die Verwaltungsbehörde, die den Bußgeldbescheid erlassen hat.

2. Die Verwaltungsbehörde hat ihren Sitz grundsätzlich dort, wo ihre Hauptstelle eingerichtet ist, mithin dort, wo sie den organisatorischen Mittelpunkt ihres Dienstbetriebs hat. Erlässt eine Nebenstelle den Bußgeldbescheid ist für den Behördensitz der Ort der Hauptstelle maßgeblich, es sei denn, die Aufgabe der Verfolgung und Ahndung von Ordnungswidrigkeiten wurde der Nebenstelle als eigenständiger Behörde zugewiesen.

3. Verwaltungsbehörde ist nach dem für das Ordnungswidrigkeitenrecht - wie auch für den Bereich der Sozialgesetze - geltenden funktionalen Behördenbegriff jede Stelle, die Aufgaben der öffentlichen Verwaltung wahrnimmt, womit neben Verwaltungsbehörden im organisatorischen Sinne auch sonstige Stellen mit der Befugnis zur eigenständigen Wahrnehmung von Verwaltungsaufgaben erfasst sind. Die Agenturen für Arbeit sind in diesem Sinne Behörden.

4. Der Umstand, dass im Kopf des angefochtenen Bußgeldbescheids auch die „Bundesagentur für Arbeit“ aufgenommen sowie eine für deren gesamten Geschäftsbereich einheitliche Zahlungsverbindung angegeben ist, ergibt nicht, dass der Bußgeldbescheid von der Agentur für Arbeit Kiel als Nebenstelle erlassen worden wäre.

5. Einer Entscheidung darüber, ob die Agentur für Arbeit Kiel im jeweiligen Einzelfall auch für den Erlass des Bußgeldbescheids sachlich und örtlich zuständig war, bedarf es im Übrigen nicht. Die Betroffene hat lediglich einen Anspruch darauf, dass der gesetzliche Richter im Falle eines Einspruchs gegen den Bußgeldbescheid tätig wird. Dass mit § 68 Abs. 1 Satz 1 OWiG dafür formal an den Sitz der handelnden Verwaltungsbehörde angeknüpft wird, entspricht nicht nur dem Wesen des auf vereinfachten und beschleunigten Abschluss ausgerichteten Bußgeldverfahrens, sondern genügt auch der Gewährleistung des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG.

Entscheidungstenor

Der Verweisungsbeschluss des Amtsgerichts Kiel vom 12. Juni 2018 wird aufgehoben.

Zuständig für die Untersuchung und Entscheidung der Sache ist das Amtsgericht Kiel.

Gründe

Die „Bundesagentur für Arbeit - Agentur für Arbeit Kiel“ hat gegen die Betroffene einen Bußgeldbescheid wegen einer Ordnungswidrigkeit nach § 404 Abs. 2 SGB III erlassen. Dagegen hat die Betroffene Einspruch eingelegt. Das Amtsgericht Kiel hat sich für örtlich unzuständig erklärt und das Verfahren an das Amtsgericht Nürnberg verwiesen. Das Amtsgericht Nürnberg hat sich ebenfalls für örtlich unzuständig erklärt und den Vorgang dem Bundesgerichtshof zur Bestimmung des zuständigen Gerichts vorgelegt.

1. Der Bundesgerichtshof ist als gemeinschaftliches oberes Gericht der Amtsgerichte Kiel (Oberlandesgerichtsbezirk Schleswig) und Nürnberg (Oberlandesgerichtsbezirk Nürnberg) gemäß § 14 StPO i.V.m. § 46 Abs. 1 OWiG zur Entscheidung des Zuständigkeitsstreits berufen.

2. Für die Untersuchung und Entscheidung der Sache ist gemäß § 68 Abs. 1 Satz 1 OWiG das Amtsgericht Kiel zuständig.

a) Nach § 68 Abs. 1 Satz 1 OWiG entscheidet bei einem Einspruch gegen den Bußgeldbescheid das Amtsgericht, in dessen Bezirk die Verwaltungsbehörde ihren Sitz hat. Gemeint ist damit die Verwaltungsbehörde, die den Bußgeldbescheid erlassen hat (vgl. Senat, Beschlüsse vom 7. Juni 2017 - 2 ARs 46/15, NStZ-RR 2017, 256 f.; vom 2. Januar 1990 - 2 ARs 588/89, BGHR OWiG § 68 Abs. 1 Satz 1; Rebmann/Roth/Herrmann, OWiG, 3. Aufl., § 68 Rn. 2). Die Verwaltungsbehörde hat ihren Sitz grundsätzlich dort, wo ihre Hauptstelle eingerichtet ist, mithin dort, wo sie den organisatorischen Mittelpunkt ihres Dienstbetriebs hat. Erlässt eine Nebenstelle den Bußgeldbescheid ist für den Behördensitz der Ort der Hauptstelle maßgeblich, es sei denn, die Aufgabe der Verfolgung und Ahndung von Ordnungswidrigkeiten wurde der Nebenstelle als eigenständiger Behörde zugewiesen (vgl. Senat, Beschluss vom 7. Juni 2017 - 2 ARs 46/15, aaO; KK-OWiG/Ellbogen, 5. Aufl., § 68 Rn. 8; BeckOK-OWiG/Gertler, 22. Ed., § 68 Rn. 4).

b) Die Agentur für Arbeit Kiel hat den angefochtenen Bußgeldbescheid als selbständige Verwaltungsbehörde und nicht als Nebenstelle der Bundesagentur für Arbeit mit ihrer Zentrale in Nürnberg erlassen.

aa) Verwaltungsbehörde ist nach dem für das Ordnungswidrigkeitenrecht - wie auch für den Bereich der Sozialgesetze - geltenden funktionalen Behördenbegriff jede Stelle, die Aufgaben der öffentlichen Verwaltung wahrnimmt, womit neben Verwaltungsbehörden im organisatorischen Sinne auch sonstige Stellen mit der Befugnis zur eigenständigen Wahrnehmung von Verwaltungsaufgaben erfasst sind (vgl. § 1 Abs. 2 SGB X; BeckOK-OWiG/Inhofer, aaO, § 35 Rn. 1; KassKomm/Mutschler, 102. EL, § 1 SGB X Rn. 8 f.).

bb) Die Agenturen für Arbeit sind in diesem Sinne Behörden (vgl. Gagel/Wendtland, SGB III, 72. EL, § 367 Rn. 22; Knickrehm/Kreikebohm/ Waltermann/Fichte, Kommentar zum Sozialrecht, 5. Aufl., § 1 SGB X Rn. 8). Sie bilden gemäß § 367 Abs. 2 Satz 1 SGB III die untere Verwaltungsebene der Bundesagentur, werden jeweils von einer eigenen Geschäftsführung geleitet (§ 383 Abs. 1 SGB III) und sind gemäß § 9 Abs. 1 Satz 1 SGB III die vorrangig zur Erbringung der Leistungen der Arbeitsförderung berufenen Einheiten.

Auch im Bereich der Verfolgung und Ahndung von Ordnungswidrigkeiten wird den Agenturen für Arbeit der Status einer eigenständigen Verwaltungsbehörde zugemessen (vgl. etwa § 32 Abs. 4 Arbeitssicherstellungsgesetz [ASG], § 14 Abs. 3 Altersteilzeitgesetz [AtzG], § 30 Abs. 4 Nr. 2 Zivilschutz- und Katastrophenhilfegesetz [ZSKG]). Daran ändert nichts, dass § 405 Abs. 1 SGB III in der Fassung des Dritten Gesetzes für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt (BGBl. I, S. 2848 ff.) die „Bundesagentur“ für ihren Geschäftsbereich als die für Ordnungswidrigkeiten nach § 404 Abs. 2 SGB III zuständige Verwaltungsbehörde benennt. Denn die Bundesagentur entscheidet - selbst ausgehend von einem entsprechenden Behördenstatus der Agenturen für Arbeit - aufgrund ihrer Organisationshoheit eigenständig, auf welcher ihrer Verwaltungsebenen diese Aufgabe wahrgenommen wird (vgl. BTDrucks. 15/1515, S. 105 und 122; Erbs/Kohlhaas/Ams, SGB III, 222. EL, § 405 Rn. 2; Gagel/Wendtland, aaO, § 367 Rn. 17; BeckOK-SozR/Braun, 52. Ed., § 367 Rn. 3; siehe ferner [zu § 404 Abs. 2, § 405 Abs. 1 Nr. 3 SGB III für den Geschäftsbereich der Zollverwaltung] BVerfG, Beschluss vom 21. Juni 2006 - 2 BvL 3-6/06 u.a., NVwZ-RR 2006, 667).

cc) Der Umstand, dass im Kopf des angefochtenen Bußgeldbescheids auch die „Bundesagentur für Arbeit“ aufgenommen sowie eine für deren gesamten Geschäftsbereich einheitliche Zahlungsverbindung angegeben ist, ergibt - insbesondere auch mit Blick auf die in § 367 Abs. 2, § 368 Abs. 1 Satz 1 SGB III normierte Struktur der Bundesagentur - nicht, dass der Bußgeldbescheid von der Agentur für Arbeit Kiel als Nebenstelle erlassen worden wäre (vgl. auch BTDrucks. 15/1515 S. 104; BeckOK-SozR/Braun, aaO, § 367 Rn. 3 ff. zu Nebenstellen als - lediglich - lokale Einheiten der Agenturen für Arbeit). Die Agentur für Arbeit Kiel hat vielmehr im eigenen Namen und unter der Anschrift ihres Sitzes in Kiel sowie mit weiteren ihr zuzuordnenden Kontaktdaten gehandelt.

3. Nach alledem ist - dem Antrag des Generalbundesanwalts entsprechend - das Amtsgericht Kiel das gemäß § 68 Abs. 1 Satz 1 OWiG für die Untersuchung und Entscheidung der Sache zuständige Gericht.

Einer Entscheidung darüber, ob die Agentur für Arbeit Kiel im jeweiligen Einzelfall auch für den Erlass des Bußgeldbescheids sachlich und örtlich zuständig war, bedarf es im Übrigen nicht (vgl. OLG Celle, GA 1963, 313, 314; OLG Hamm, VRS 45, 304, 305; OLG Koblenz, VRS 52, 365; OLG Düsseldorf, MDR 1981, 1042, 1043; OLG Köln, NJW 1988, 1606; Bohnert/ Krenberger/Krumm, OWiG, 5. Aufl., § 68 Rn. 6; Göhler/Seitz/Bauer, OWiG, 17. Aufl., § 68 Rn. 3; KK-OWiG/Kurz, aaO, § 66 Rn. 39; Rebmann/Roth/ Hermann, aaO, § 68 Rn. 2; kritisch KK-OWiG/Ellbogen, aaO, § 68 Rn. 15 f.; Bohnert, GA 1987, 193, 199; offen gelassen in BayObLG, NJW 2005, 1447). Die Betroffene hat lediglich einen Anspruch darauf, dass der gesetzliche Richter im Falle eines Einspruchs gegen den Bußgeldbescheid tätig wird (vgl. BGH, Beschluss vom 1. Juni 1977 - KRB 3/76, BGHSt 27, 196, 199 f.; OLG Düsseldorf, MDR 1981, 1042, 1043). Dass mit § 68 Abs. 1 Satz 1 OWiG dafür formal an den Sitz der handelnden Verwaltungsbehörde angeknüpft wird, entspricht nicht nur dem Wesen des auf vereinfachten und beschleunigten Abschluss ausgerichteten Bußgeldverfahrens (vgl. KK-OWiG/Rogall, aaO, vor § 1 Rn. 1), sondern genügt auch der Gewährleistung des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG (vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 21. Juni 2006 - 2 BvL 3-6/06 u.a., aaO; vom 16. Juli 1969 - 2 BvL 2/69, NJW 1969, 1619, 1622 f.).

HRRS-Nummer: HRRS 2019 Nr. 850

Externe Fundstellen: NStZ-RR 2019, 256

Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner