hrr-strafrecht.de - Rechtsprechungsübersicht


HRRS-Nummer: HRRS 2019 Nr. 662

Bearbeiter: Christian Becker

Zitiervorschlag: BGH, 5 StR 109/19, Beschluss v. 09.05.2019, HRRS 2019 Nr. 662


BGH 5 StR 109/19 - Beschluss vom 9. Mai 2019 (LG Berlin)

Rechtsfehlerhafte Anordnung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (Schizophrenie; Wahnsymptome; Beweiswürdigung; Umfang der revisionsgerichtlichen Überprüfung; Gefährlichkeitsprognose; länger währende Straffreiheit).

§ 63 StGB

Leitsatz des Bearbeiters

Die für die Maßregelanordnung nach § 63 StGB erforderliche Gefährlichkeitsprognose ist auf der Grundlage einer umfassenden Würdigung der Persönlichkeit des Täters, seines Vorlebens und der von ihm begangenen Anlasstaten zu entwickeln. In diese Würdigung ist eine länger währende Straffreiheit regelmäßig als gewichtiges Indiz gegen die Wahrscheinlichkeit künftiger gefährlicher Taten einzubeziehen.

Entscheidungstenor

Auf die Revision des Beschuldigten wird das Urteil des Landgerichts Berlin vom 18. Dezember 2018 mit den Feststellungen aufgehoben. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat den Beschuldigten in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebracht. Dessen gegen das Urteil gerichtete Revision führt mit der Sachrüge zur Aufhebung des Urteils.

I.

Das Landgericht hat folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:

1. Der zur Tatzeit 19-jährige Beschuldigte, der im Sommer 2015 aus Syrien nach Deutschland kam, kannte über seinen Bruder den später Geschädigten Z. Dieser war häufiger Gast in der vom Beschuldigten und dessen Bruder bewohnten Wohnung. Der Beschuldigte verließ sie in der Zeit vor der Anlasstat nur noch selten, um dort gehörten Stimmen und Geräuschen auf den Grund zu gehen. Er stellte sich vor, Z. würde ihm Gedanken stehlen, schlecht über ihn reden und behaupten, er, der Beschuldigte, sei Gott, was eine Beleidigung Gottes darstelle. Er fühlte sich unwohl und empfand Schmerzen im Bauch, die er von Schlangen und Würmern verursacht wähnte, die Z. ihm dorthin gehext habe. Er glaubte, Allah habe ihm ein Zeichen gesandt und jemanden geschickt, der ihn aufgefordert habe, Z. zu töten.

Am späten Abend des 21. April 2018 lauerte er Z. vor dessen Haustür auf. Als dieser nach Hause kam, lockte er ihn unter einem Vorwand zunächst in einen dunklen Hinterhof und versetzte ihm sodann einen Faustschlag ins Gesicht. Danach schnitt er ihm mit einem Küchenmesser mit einer 13 cm langen Klinge in die Wange, wobei er - unter Verwendung eines mehrdeutigen arabischen Wortes - äußerte, er sei gekommen, um ihn zu töten bzw. um ihn zu schlagen. Anschließend versetzte er ihm weitere schlagend ausgeführte Schnitte mit dem Messer in das Gesicht, auf den Oberkörper und an die Unterarme, um ihn zu verletzen.

Ein Schnitt am Hals traf Z. in der Nähe der Halsschlagader, ohne sie zu verletzen, und brachte ihn in die Gefahr einer lebensgefährlichen Verletzung. lm Rahmen seines Wahnempfindens sollten dem Beschuldigten diese Verletzungen zur Linderung seiner Beschwerden dienen. Bei einem Abwehr- und Fluchtversuch fiel Z. zu Boden und verletzte seine Knie. Außerdem verlor er sein Mobiltelefon, das der Beschuldigte an sich nahm in der Absicht, durch die Wegnahme die von ihm dem Z. zugeschriebene Einflussnahme auf seine Gedankenwelt und sein körperliches Unwohlsein zu lindern. Z. erhob sich und flüchtete, verfolgt vom Beschuldigten, noch einige Meter weiter. Als der Beschuldigte, der erschöpft seinen Angriff nicht fortsetzte, schließlich dem inzwischen stark blutenden Z. in kurzer Distanz gegenüberstand, griffen zwei seiner auf das Geschehen aufmerksam gewordenen Arbeitskollegen ein und hielten den Beschuldigten bis zum Eintreffen der Polizei fest. Z. hat durch die Schnitte eine Reihe von Narben zurückbehalten und leidet insbesondere unter der Entstellung seines Gesichts.

2. Das Landgericht hat das Verhalten des Beschuldigten als gefährliche Körperverletzung nach § 224 Abs. 1 Nr. 2 und 5 StGB und als Diebstahl nach § 242 Abs. 1 StGB angesehen. Bei der Beurteilung der Schuldfähigkeit und der Einschätzung der Gefährlichkeitsprognose hat es sich dem psychiatrischen Sachverständigen angeschlossen. Danach habe der Beschuldigte zur Tatzeit an einer paranoiden Schizophrenie gelitten, die sich in wahnhaften Missempfindungen des Körpers, wahnhaftem Hören von Stimmen und Geräuschen und dem Zuschreiben dieser Empfindungen zu einer bestimmten Person sowie in dem Empfinden von Gedankenlenkung und -entzug und dem Gewahrwerden von Geistern äußere. Aufgrund seiner Krankheit sei die Einsichtsfähigkeit bei der Ausführung der Tat „letztlich vollständig“ aufgehoben gewesen (UA S. 9). Wegen seiner fehlenden Krankheitseinsicht, die eine fehlende Bereitschaft zur Einnahme einer nötigen Medikation nach sich ziehe, seien vom Beschuldigten auch künftig der verfahrensgegenständlichen gefährlichen Körperverletzung vergleichbare Straftaten zu erwarten.

II.

Die Voraussetzungen des § 63 StGB werden durch die Urteilsgründe nicht belegt.

1. Die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus nach § 63 StGB darf nur angeordnet werden, wenn zweifelsfrei feststeht, dass der Unterzubringende bei der Begehung der Anlasstaten aufgrund eines nicht nur vorübergehenden psychischen Defektes schuldunfähig oder vermindert schuldfähig war und die Tatbegehung hierauf beruht. Dies lässt sich den Urteilsgründen nicht sicher entnehmen.

Schon die der Wertung des Sachverständigen folgende Annahme der Strafkammer, der Beschuldigte leide an einer paranoiden Schizophrenie, deren Symptomatik bereits seit zwei Jahren vor dem Messerangriff bestanden habe, findet in der Beweiswürdigung keine ausreichende Stütze. Die Ausführungen zum Vorhandensein von Wahnsymptomen begegnen trotz des eingeschränkten revisionsgerichtlichen Prüfungsmaßstabs durchgreifenden rechtlichen Bedenken.

a) Die Strafkammer stützt die hierzu getroffenen Feststellungen auf die Erzählungen des Beschuldigten bei seiner Exploration durch den Sachverständigen zu seinem Tatmotiv und zu seiner Vorstellungswelt in der Zeit vor der Tat. In der Hauptverhandlung ist der Beschuldigte hingegen „bemüht“ gewesen, seine Angaben aus den Explorationsgesprächen „zu negieren, um die Diagnose des psychiatrischen Gutachters in Frage zu stellen“ (UA S. 5). Insbesondere hat er erklärt, alle Angaben zu Wahnvorstellungen nur deshalb gemacht zu haben, um nicht in Haft zu bleiben. Angesichts der Beweiserheblichkeit dieser früheren Angaben hätte es einer Auseinandersetzung mit ihrem Widerruf in der Hauptverhandlung bedurft, zumal der Beschuldigte für sein früheres Aussageverhalten bei der Exploration ein nachvollziehbares Motiv benannt hat. Ausführungen hierzu fehlen in den Urteilsgründen vollständig, in denen die Strafkammer lediglich ihre Überzeugung darlegt, dass der Sachverständige von seinen Explorationsgesprächen wahrheitsgemäß berichtet hat.

b) Konkrete Anknüpfungs- und Befundtatsachen zu der Entwicklung der angenommenen Krankheit und deren Verlauf bis zum Tatzeitpunkt, welche die Annahme einer krankhaften seelischen Störung stützen könnten, teilt die Strafkammer nicht mit. In diesem Zusammenhang finden etwaige krankheitsbedingte Einschränkungen der Lebensgestaltung des heranwachsenden Beschuldigten, deren Feststellung nicht allein auf seinen widerrufenen Angaben gegenüber dem Sachverständigen beruht, keine Erwähnung. Die Strafkammer erörtert auch nicht die festgestellten persönlichen Verhältnisse, die der Diagnose der von ihr angenommenen schweren psychischen Erkrankung entgegenstehen könnten. Insbesondere berücksichtigt sie nicht erkennbar, dass er in den über zweieinhalb Jahren nach seinem Eintreffen in Deutschland bis zum Tatzeitpunkt an einer Sprachschule Deutsch lernte, nach Anerkennung seines Asylstatus den Abschluss seiner durch die Flucht unterbrochenen Schulausbildung anstrebte, vorübergehend arbeitete und bisher strafrechtlich nicht in Erscheinung getreten ist. Auch der Geschädigte hat nach den Urteilsgründen nicht über Verhaltensauffälligkeiten des Beschuldigten bei seinen zahlreichen Zusammentreffen mit diesem berichtet.

c) Hinzu kommt, dass den Urteilsgründen Erkenntnisse zum Verlauf der seit dem 4. Juni 2018 andauernden einstweiligen Unterbringung des Beschuldigten und der Einschätzung der ihn dort behandelnden Ärzte nicht zu entnehmen sind.

2. Auch die Gefährlichkeitsprognose begegnet durchgreifenden rechtlichen Bedenken.

Die für die Maßregelanordnung erforderliche Gefährlichkeitsprognose ist auf der Grundlage einer umfassenden Würdigung der Persönlichkeit des Täters, seines Vorlebens und der von ihm begangenen Anlasstaten zu entwickeln (vgl. BGH, Urteile vom 17. August 1977 - 2 StR 300/77, BGHSt 27, 246, 248 f.; vom 17. November 1999 - 2 StR 453/99, BGHR StGB § 63 Gefährlichkeit 27; Beschluss vom 8. Januar 2014 - 5 StR 602/13, NJW 2014, 565, 566). Dabei ist in diese Würdigung nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs eine länger währende Straffreiheit als gewichtiges Indiz gegen die Wahrscheinlichkeit künftiger gefährlicher Taten einzubeziehen (vgl. BGH, Urteile vom 28. August 2012 - 5 StR 295/12, NStZ-RR 2012, 366, 367; vom 10. Dezember 2014 - 2 StR 170/14, NStZ 2015, 387, 388 mwN; Beschlüsse vom 11. März 2009 - 2 StR 42/09, NStZ-RR 2009, 198, 199; vom 4. Juli 2012 - 4 StR 224/12, NStZ-RR 2012, 337, 338). Danach hätte die Strafkammer auch in Bezug auf die Gefährlichkeitsprognose den Umstand nicht unerörtert lassen dürfen, dass der Beschuldigte seit seinem Eintreffen in Deutschland und damit in einem Zeitraum, in dem bei ihm nach der Annahme des Sachverständigen die diagnostizierte psychische Störung schon vorgelegen haben soll, strafrechtlich unauffällig geblieben ist.

3. Die Sache bedarf daher - naheliegend unter Hinzuziehung eines anderen psychiatrischen Sachverständigen - neuer Verhandlung und Entscheidung. Dabei wird das neue Tatgericht, sollte sich in der neuen Verhandlung die Schuldfähigkeit des Beschuldigten ergeben, auch einen Übergang in das Strafverfahren gemäß § 416 Abs. 2 StPO in den Blick zu nehmen haben mit der Möglichkeit (§ 358 Abs. 2 Satz 2 StPO), anstelle der Unterbringung eine Strafe zu verhängen (MüKoStPO/Putzke/Scheinfeld, 2019, § 416 Rn. 7; KKStPO/Maur, 8. Aufl., § 416 Rn. 8).

Der Senat hebt das Urteil insgesamt auf, um dem Tatgericht widerspruchsfreie Feststellungen zu ermöglichen.

4. Sollte das neue Tatgericht wieder zu der Annahme gelangen, dass der Beschuldigte bei Begehung der Anlasstat aufgrund eines andauernden psychischen Defekts schuldunfähig oder vermindert schuldfähig war und die Tatbegehung auf dem angenommenen Defekt beruhte, wird es zu bedenken haben, dass die selbständige Einziehung eines Gegenstands gemäß § 76a StGB im Sicherungsverfahren nach § 413 StPO nicht zulässig ist, in dem nur Maßregeln der Besserung und Sicherung angeordnet werden können. Sie kommt nur im selbständigen Einziehungsverfahren gemäß § 435 Abs. 1 StPO in Betracht (vgl. BGH, Beschlüsse vom 21. März 2017 - 5 StR 70/17, und vom 12. Dezember 2017 - 3 StR 558/17, NStZ 2018, 559 mwN). Ein als Verfahrensvoraussetzung danach erforderlicher gesonderter Antrag ist hier nicht gestellt worden. Er kann - wie der Generalbundesanwalt in seiner Antragsschrift zutreffend unter Hinweis auf die Anforderungen des § 435 Abs. 2 StPO (vgl. BGH, Beschluss vom 12. Dezember 2017 - 3 StR 558/17, aaO) dargelegt hat - auch nicht in dem Hinweis auf eine Einziehung in der dem Sicherungsverfahren zugrundeliegenden Antragsschrift gesehen werden.

HRRS-Nummer: HRRS 2019 Nr. 662

Externe Fundstellen: NStZ-RR 2019, 243

Bearbeiter: Christian Becker