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HRRS-Nummer: HRRS 2019 Nr. 637

Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner

Zitiervorschlag: BGH, 4 StR 41/19, Beschluss v. 23.04.2019, HRRS 2019 Nr. 637


BGH 4 StR 41/19 - Beschluss vom 23. April 2019 (LG Zweibrücken)

Geltung für Auslandstaten in anderen Fällen (Prinzip der „stellvertretenden Strafrechtspflege“).

§ 7 Abs. 2 Nr. 2 StGB

Leitsatz des Bearbeiters

Nach dem Prinzip der „stellvertretenden Strafrechtspflege“ gilt das deutsche Strafrecht für die Tat eines Ausländers im Ausland dann, wenn der in der Bundesrepublik betroffene Täter andernfalls ohne Strafe bliebe, weil die ausländische Strafrechtspflege nicht wirksam werden kann. Das Prinzip folgt aus dem Interesse daran, dass ein ausländischer Straftäter durch Eintritt in den Staat, der ihn ergreift, aber nicht ausliefert oder ausliefern kann, einer gerechten Verfolgung nicht entgeht. Dieses Prinzip ist lediglich eine subsidiäre Ergänzung der Strafgewalt anderer Staaten. Die deutsche Strafgewalt soll bei Auslandstaten dann an die Stelle des an sich zur Verfolgung berufenen ausländischen Staates treten, wenn dieser die Tat nicht verfolgen kann oder will.

Entscheidungstenor

1. Dem Angeklagten wird auf seinen Antrag und seine Kosten Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Frist zur Begründung der Revision gegen das Urteil des Landgerichts Zweibrücken vom 22. Oktober 2018 gewährt; damit ist der Beschluss des Landgerichts Zweibrücken vom 4. Januar 2019 gegenstandslos.

2. Auf die Revision des Angeklagten gegen das vorgenannte Urteil wird

a) das Verfahren auf den Vorwurf des Angriffs auf den Seeverkehr beschränkt;

b) der Schuldspruch dahin geändert, dass der Angeklagte des Angriffs auf den Seeverkehr schuldig ist;

c) der Ausspruch über die Einziehung des Wertes von Taterträgen in Höhe von 78.756 € dahin ergänzt, dass die Einziehung als Gesamtschuldner angeordnet wird.

3. Die weiter gehende Revision wird verworfen.

4. Der Beschwerdeführer hat die Kosten seines Rechtsmittels zu tragen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Angriffs auf den Seeverkehr in Tateinheit mit erpresserischem Menschenraub und besonders schwerer räuberischer Erpressung zu einer Freiheitsstrafe von sieben Jahren verurteilt. Dagegen hat der Angeklagte eine auf die Verletzung materiellen Rechts gestützte Revision eingelegt und die Wiedereinsetzung in die Revisionsbegründungsfrist beantragt. Der Wiedereinsetzungsantrag hat Erfolg. Das Rechtsmittel führt zu einer Beschränkung der Strafverfolgung nach § 154a Abs. 2 StPO sowie zu der aus dem Tenor ersichtlichen Änderung des Schuldspruchs und der Einziehungsentscheidung; im Übrigen ist es unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.

1. Dem Wiedereinsetzungsantrag ist aus den Gründen der Antragsschrift des Generalbundesanwalts vom 1. Februar 2019 zu entsprechen. Damit ist der gemäß § 346 Abs. 1 StPO erfolgte Verwerfungsbeschluss des Landgerichts Zweibrücken vom 4. Januar 2019 gegenstandslos (vgl. BGH, Beschlüsse vom 24. Januar 2017 - 3 StR 447/16, NStZ-RR 2017, 148; vom 11. Januar 2016 - 1 StR 435/15, wistra 2016, 163, 164).

2. Mit Zustimmung des Generalbundesanwalts hat der Senat die Strafverfolgung aus prozessökonomischen Gründen auf den Angriff auf den Seeverkehr beschränkt (§ 154a Abs. 2 StPO).

a) Nach den Feststellungen hat der Angeklagte die somalische Staatsangehörigkeit. Er war Mitglied einer Gruppe von Piraten, die am 10. Mai 2012 den unter griechischer Flagge fahrenden Öltanker MT S. in internationalen Gewässern mit Sturmgewehren enterten und die philippinischen, rumänischen und indischen Besatzungsmitglieder überwältigten. Die Piraten brachten das Schiff vor die Küste von Somalia und hielten es dort ca. zehn Monate fest. Nachdem die Reederei ein Lösegeld von 13 Millionen US-Dollar gezahlt hatte, gaben sie das Schiff und die Besatzung frei. Der Anführer der Piraten teilte das Lösegeld unter den Tatbeteiligten auf. Der Angeklagte erhielt als Mitglied der Angriffsmannschaft eine Entlohnung von 100.000 US-Dollar (78.756 €). Nach der Tat reiste er nach Deutschland und stellte einen Asylantrag. Er wurde in K. festgenommen.

b) Die Verfahrensbeschränkung erfolgt, weil die Anwendbarkeit des deutschen Strafrechts auf die tateinheitlich verwirklichten Delikte des erpresserischen Menschenraubs und der besonders schweren räuberischen Erpressung zweifelhaft ist und der Verurteilung des Angeklagten insoweit ein Verfahrenshindernis entgegenstehen kann.

aa) Der Anwendungsbereich des § 6 Nr. 3 StGB ist nach seinem Wortlaut auf Angriffe auf den Luft- und Seeverkehr begrenzt. Eine Annexkompetenz lässt sich in der vorliegenden Fallkonstellation für die tateinheitlichen Delikte nicht herleiten, weil die hierfür erforderliche enge tatbestandliche Verknüpfung mit dem Angriff auf den Seeverkehr nicht besteht (vgl. BGH, Urteil vom 30. April 1999 - 3 StR 215/98, BGHSt 45, 64, 71; Beschluss vom 17. Mai 1991 - 2 StR 183/90, NJW 1991, 3104; Urteil vom 22. Januar 1986 - 3 StR 472/85, BGHSt 34, 1, 2 f.).

bb) Die Anwendung des deutschen Strafrechts kann auch nicht auf § 6 Nr. 9 StGB gestützt werden. Die hierfür erforderliche völkerrechtliche Verfolgungspflicht lässt sich weder dem Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen vom 10. Dezember 1982 (BGBl. 1994 II S. 1799) noch dem Übereinkommen zur Bekämpfung widerrechtlicher Handlungen gegen die Sicherheit der Seeschifffahrt vom 10. März 1988 (BGBl. 1990 II S. 496) entnehmen (vgl. LG Hamburg, Urteil vom 19. Oktober 2012 - 603 KLs 17/10, juris Rn. 817; LK-StGB/Werle/Jeßberger, 12. Aufl., Vor §§ 3 ff. Rn. 96; KNP-StGB/Böse, 5. Aufl., § 6 Rn. 18; Kolb/Neumann/Salomon, ZaöRV 2011, 191, 221; Salomon, DRiZ 2012, 307, 310).

cc) Zwar ist das Landgericht zutreffend davon ausgegangen, dass die Voraussetzungen des § 7 Abs. 2 Nr. 2 StGB in Bezug auf den Heimatstaat des Angeklagten vorliegen. Abgesehen davon, dass es sich bei Somalia - wie das Landgericht festgestellt hat - um einen sog. „failed state“ handelt, weil das dortige Justizsystem zusammengebrochen ist, ist eine Auslieferung in diesen Staat schon deshalb nicht möglich, weil mit diesem Staat kein Auslieferungsverkehr stattfindet (vgl. RIVAST Anhang II - Länderteil).

Ungeklärt ist aber bislang, ob eine Auslieferung des Angeklagten in einen anderen ausländischen Staat, namentlich die Heimatstaaten der geschädigten Besatzungsmitglieder und der Reederei, in Betracht gekommen wäre. Nach dem in der Vorschrift des § 7 Abs. 2 Nr. 2 StGB enthaltenen Prinzip der „stellvertretenden Strafrechtspflege“ gilt das deutsche Strafrecht für die Tat eines Ausländers im Ausland dann, wenn der in der Bundesrepublik betroffene Täter andernfalls ohne Strafe bliebe, weil die ausländische Strafrechtspflege nicht wirksam werden kann. Das Prinzip folgt aus dem Interesse daran, dass ein ausländischer Straftäter durch Eintritt in den Staat, der ihn ergreift, aber nicht ausliefert oder ausliefern kann, einer gerechten Verfolgung nicht entgeht (vgl. BGH, Beschluss vom 24. Juli 1985 - 2 StR 368/85, NStZ 1985, 545 mwN). Dieses Prinzip ist lediglich eine subsidiäre Ergänzung der Strafgewalt anderer Staaten (vgl. BGH, Beschluss vom 12. Juli 2001 - 1 StR 171/01, NJW 2001, 3717, 3718 mwN; Oehler, Internationales Strafrecht, 2. Aufl., Rn. 818, 824). Die deutsche Strafgewalt soll bei Auslandstaten dann an die Stelle des an sich zur Verfolgung berufenen ausländischen Staates treten, wenn dieser die Tat nicht verfolgen kann oder will (vgl. Scholten, NStZ 1994, 266, 268). Hier ist jedoch bislang ungeklärt, ob der Angeklagte etwa an einen Heimatstaat eines geschädigten Besatzungsmitglieds ausgeliefert werden könnte, der aufgrund des passiven Personalitätsprinzips zur Verfolgung des Täters berufen ist (vgl. Oehler, Internationales Strafrecht, 2. Aufl., Rn. 813, 818, 824, 828 ff., 840; Schmitz in FS-Grünwald, S. 635; Heine, Die Möglichkeiten und Grenzen der Übernahme von Verfahren im Rahmen der stellvertretenden Strafrechtspflege, S. 98 f.).

3. Die Verfahrensbeschränkung hat die aus dem Tenor ersichtliche Änderung des Schuldspruchs zur Folge. Die Überprüfung des Urteils aufgrund der Revisionsrechtfertigung hat im verbleibenden Umfang beim Schuld- und Strafausspruch keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben.

Der Strafausspruch kann trotz der Schuldspruchänderung bestehen bleiben. Das Landgericht hat der Strafzumessung den Strafrahmen des § 316c StGB zugrunde gelegt. Nicht strafschärfend berücksichtigt hat es, dass der Angeklagte durch die Tat mehrere Straftatbestände verwirklicht hat. Die lange Festhaltedauer der Besatzungsmitglieder und die Zahlung des hohen Lösegeldes durften als verschuldete Auswirkungen der Tat im Sinne von § 46 Abs. 2 Satz 2 StGB strafschärfende Berücksichtigung finden. Angesichts dieser Umstände kann der Senat sicher ausschließen, dass die Schuldspruchänderung Einfluss auf die Strafe gehabt hätte.

4. Allerdings bedarf die Anordnung der Einziehung des Wertes von Taterträgen der Ergänzung um eine gesamtschuldnerische Haftung. Der Angeklagte und der Anführer der Piraten hatten Mitverfügungsgewalt über die 100.000 US-Dollar (78.756 €), die der Angeklagte aus dem vereinnahmten Lösegeld als Entlohnung für die Tat erhielt. Beide haften für diesen Betrag als Gesamtschuldner, was im Urteil ausdrücklich anzuordnen ist (vgl. BGH, Urteil vom 4. Oktober 2018 - 3 StR 251/18, wistra 2019, 150; Beschluss vom 2. April 2019 - 3 StR 24/19).

5. Der geringe Teilerfolg der Revision lässt es nicht unbillig erscheinen, den Angeklagten mit den Kosten seines Rechtsmittels zu belasten (vgl. § 473 Abs. 4 Satz 1 StPO).

HRRS-Nummer: HRRS 2019 Nr. 637

Externe Fundstellen: NStZ 2019, 460

Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner