hrr-strafrecht.de - Rechtsprechungsübersicht


HRRS-Nummer: HRRS 2019 Nr. 555

Bearbeiter: Holger Mann

Zitiervorschlag: BVerfG, 2 BvR 828/19, Beschluss v. 14.05.2019, HRRS 2019 Nr. 555


BVerfG 2 BvR 828/19 (2. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 14. Mai 2019 (Brandenburgisches OLG)

Einstweilige Anordnung gegen eine Auslieferung an die Russische Föderation zum Zwecke der Strafverfolgung (russischer Staatsangehöriger tschetschenischer Herkunft; Rechtsstaatsprinzip; Durchführung des Strafverfahrens außerhalb des Föderationskreises Nordkaukasus; Koppelung der Zulässigkeitsentscheidung an eine nach russischem Recht nicht erfüllbare Bedingung; Folgenabwägung zugunsten des Verfolgten).

Art. 20 Abs. 3 GG; § 32 Abs. 1 BVerfGG

Leitsatz des Bearbeiters

Die Entscheidung eines Oberlandesgerichts, mit der eine Auslieferung an die Russische Föderation zum Zwecke der Strafverfolgung für zulässig erklärt wird, ist einstweilen auszusetzen, wenn das Gericht die Auslieferung von der Bedingung abhängig macht, dass das Strafverfahren außerhalb des Föderationskreises Nordkaukasus durchgeführt wird, obwohl eine Zusicherung über den Gerichtsstand nach der Verfassung der russischen Föderation nicht erteilt werden kann und eine mögliche Verlegung des Gerichtsstandes von weiteren Voraussetzungen abhängig ist.

Entscheidungstenor

Die Übergabe des Beschwerdeführers an die Behörden der Russischen Föderation wird bis zur Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde, längstens für die Dauer von sechs Monaten, einstweilen untersagt.

Die Generalstaatsanwaltschaft des Landes Brandenburg wird mit der Durchführung der einstweiligen Anordnung beauftragt.

Gründe

I.

Die mit einem Eilantrag verbundene Verfassungsbeschwerde betrifft die Auslieferung des Beschwerdeführers, eines russischen Staatsangehörigen tschetschenischer Herkunft, zur Strafverfolgung nach Russland. Der Beschwerdeführer rügt unter anderem, das Oberlandesgericht habe seine Auslieferung unter der Bedingung für zulässig erklärt, dass das Auswärtige Amt in der Bewilligungsnote zum Ausdruck bringe, die Auslieferung erfolge in der Annahme eines außerhalb des nordkaukasischen Föderalbezirks durchgeführten Strafverfahrens. Er trägt vor, eine solche einseitige Bedingung in der Auslieferungsbewilligung stelle nicht hinreichend sicher, dass das Strafverfahren nicht vor dem derzeit örtlich zuständigen Bezirksgericht Leninsky in Grozny durchgeführt werde. Er beruft sich darauf, dass die Generalstaatsanwaltschaft der Russischen Föderation die Abgabe einer Zusicherung dahingehend, dass ein Strafverfahren gegen den Beschwerdeführer nicht im nordkaukasischen Föderalbezirk durchgeführt werde, unter Hinweis auf das in der russischen Verfassung verbriefte Recht auf den gesetzlichen Richter abgelehnt hat. Zudem hatte die Generalstaatsanwaltschaft der Russischen Föderation darauf hingewiesen, dass eine Verlegung des örtlichen Gerichtsstandes erst nach der noch nicht vorgenommenen Eröffnung des Strafverfahrens erfolgen könne, und zwar entweder auf Antrag der Anklagebehörde oder infolge eines erfolgreichen Ablehnungsantrags des Beschwerdeführers „in Bezug auf die ganze Zusammensetzung des Gerichts“. Über einen Verlegungsantrag der Anklagebehörde werde von dem mit der Sache befassten Gericht entschieden, und ein etwaiger Ablehnungsantrag des Beschwerdeführers werde auf dem „vom Gesetz vorgeschriebenen Weg geprüft“.

II.

Zur Verfahrenssicherung wird die Übergabe des Beschwerdeführers an die russischen Behörden gemäß § 32 Abs. 1 BVerfGG bis zur Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde, längstens für die Dauer von sechs Monaten, einstweilen untersagt.

1. Gemäß § 32 Abs. 1 BVerfGG kann das Bundesverfassungsgericht im Streitfall einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist. Bei der Prüfung, ob die Voraussetzungen des § 32 Abs. 1 BVerfGG gegeben sind, ist wegen der weittragenden Folgen einer einstweiligen Anordnung regelmäßig ein strenger Maßstab anzulegen (vgl. BVerfGE 55, 1 <3>; 82, 310 <312>; 94, 166 <216 f.>; 104, 23 <27>; 106, 51 <58>).

Als Mittel des vorläufigen Rechtsschutzes hat die einstweilige Anordnung auch im verfassungsgerichtlichen Verfahren die Aufgabe, die Schaffung vollendeter Tatsachen zu verhindern; sie soll auf diese Weise dazu beitragen, Wirkung und Bedeutung einer erst noch zu erwartenden Entscheidung in der Hauptsache zu sichern und zu erhalten (vgl. BVerfGE 42, 103 <119>). Deshalb bleiben die Gründe, die für die Verfassungswidrigkeit der angegriffenen Maßnahme vorgetragen werden, grundsätzlich außer Betracht, es sei denn, die Hauptsache erwiese sich als von vornherein unzulässig oder offensichtlich unbegründet (vgl. BVerfGE 89, 38 <44>; 103, 41 <42>; 118, 111 <122>; stRspr). Ist der Ausgang des Hauptsacheverfahrens offen, so hat das Bundesverfassungsgericht grundsätzlich lediglich im Rahmen einer Folgenabwägung die Nachteile abzuwägen, die einträten, wenn eine einstweilige Anordnung nicht erginge, die Verfassungsbeschwerde aber in der Hauptsache Erfolg hätte, gegenüber den Nachteilen, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, der Verfassungsbeschwerde in der Hauptsache aber der Erfolg zu versagen wäre (vgl. BVerfGE 105, 365 <371>; 106, 351 <355>; 108, 238 <246>; 125, 385 <393>; 132, 195 <232 f. Rn. 87>; stRspr).

2. Nach diesen Maßstäben ist eine einstweilige Anordnung zu erlassen.

a) Die Verfassungsbeschwerde ist weder von vornherein unzulässig noch offensichtlich unbegründet. Es erscheint vielmehr möglich, dass die angegriffene Entscheidung des Brandenburgischen Oberlandesgerichts, mit der die Auslieferung des Beschwerdeführers für zulässig erklärt wurde, mit dem Grundgesetz unvereinbar ist.

b) Die daher gemäß § 32 Abs. 1 BVerfGG erforderliche Folgenabwägung geht zugunsten des Beschwerdeführers aus. Die Folgen, die einträten, wenn der Beschwerdeführer ausgeliefert werden würde, sich später aber herausstellte, dass die Auslieferung des Beschwerdeführers rechtswidrig war, wiegen erheblich schwerer als die Folgen, die entstünden, wenn die Auslieferung einstweilen untersagt bliebe, sich später aber herausstellte, dass sie ohne Rechtsverstoß hätte durchgeführt werden können. Denn im erstgenannten Fall wäre dem Beschwerdeführer eine Geltendmachung seiner Einwände gegen die Auslieferung nicht mehr möglich. Demgegenüber könnte der Beschwerdeführer, sollte sich die geplante Auslieferung als rechtmäßig erweisen, ohne Weiteres zu einem späteren Zeitpunkt an die russischen Behörden übergeben werden. Sein Aufenthalt in Deutschland würde sich lediglich bis zu einem solchen späteren Termin verlängern.

3. Fragen der Auslieferungshaft bleiben von der einstweiligen Anordnung unberührt.

HRRS-Nummer: HRRS 2019 Nr. 555

Bearbeiter: Holger Mann