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HRRS-Nummer: HRRS 2019 Nr. 1150

Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner

Zitiervorschlag: BGH, 4 StR 189/19, Beschluss v. 07.08.2019, HRRS 2019 Nr. 1150


BGH 4 StR 189/19 - Beschluss vom 7. August 2019 (LG Essen)

BGHSt 64, 178; Mehrere Straftaten in verschiedenen Alters- und Reifestufen (keine analoge Anwendung bei Verurteilung wegen als Erwachsener begangener Taten, bei gleichzeitigem Absehen von Verfolgung hinsichtlich weiterer Taten, die der Angeklagte bereits als Heranwachsender begangen hat).

§ 32 Satz 1 JGG; § 105 Abs. 1 JGG; § 154 Abs. 1 StPO

Leitsätze

1. Wird der Angeklagte (nur) wegen Taten verurteilt, die er als Erwachsener begangen hat, hatte die Staatsanwaltschaft jedoch hinsichtlich weiterer Taten, die der Angeklagte bereits als Heranwachsender begangen hatte, von einer Verfolgung gemäß § 154 Abs. 1 StPO abgesehen, kommt eine analoge Anwendung des § 32 Satz 1 JGG i.V.m. § 105 Abs. 1 JGG nicht in Betracht. (BGHSt)

2. Zwar hat der 1. Strafsenat in einer solchen Verfahrenskonstellation im nicht tragenden Teil einer Entscheidung unter Hinweis auf obergerichtliche Rechtsprechung und Literaturmeinungen eine entsprechende Anwendung des § 32 Satz 1 JGG befürwortet. Dieser Auffassung vermag der Senat aber nicht zu folgen. (Bearbeiter)

Entscheidungstenor

Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Essen vom 22. Oktober 2018 wird als unbegründet verworfen.

Der Beschwerdeführer hat die Kosten seines Rechtsmittels zu tragen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen gewerbsmäßiger Bandenhehlerei in zwei Fällen, gewerbsmäßigen Bandenbetrugs in Tateinheit mit gewerbsmäßiger Bandenurkundenfälschung, versuchten gewerbsmäßigen Bandenbetrugs in Tateinheit mit gewerbsmäßiger Bandenurkundenfälschung und Beihilfe zum gewerbsmäßigen Bandenbetrug in Tateinheit mit gewerbsmäßiger Bandenurkundenfälschung unter Freispruch im Übrigen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren verurteilt. Ferner hat es eine Einziehungsentscheidung getroffen. Gegen das Urteil wendet sich der Angeklagte mit seiner auf die Rüge der Verletzung sachlichen Rechts gestützten Revision. Das Rechtsmittel hat keinen Erfolg.

I.

Nach den vom Landgericht getroffenen Feststellungen entschlossen sich der am 17. Juni 1996 geborene Angeklagte und weitere Tatbeteiligte spätestens im April 2017, künftig gemeinsam und arbeitsteilig Fahrzeuge, die unbekannte Vortäter entwendet hatten, zu erwerben und gewinnbringend an gutgläubige Dritte zu verkaufen. Der Angeklagte beteiligte sich zwischen dem 12. November 2017 und dem 15. Januar 2018 als Erwachsener an fünf Taten der Gruppierung. Er übernahm im Regelfall Tätigkeiten im Hintergrund, setzte Inserate, führte Telefongespräche mit Kaufinteressenten, beobachtete und überwachte das Verkaufsgeschehen, nahm Verkaufserlöse entgegen und verteilte sie unter den Tatbeteiligten. Andere Gruppenmitglieder beschafften die entwendeten Fahrzeuge und traten unter falschen Personalien als Verkäufer auf. Alle Fahrzeuge waren beim Verkauf mit gefälschten Kennzeichen und Zulassungsbescheinigungen ausgestattet. Der Angeklagte wollte sich mit den Taten eine dauerhafte Einnahmequelle von einigem Gewicht und Umfang verschaffen. Nur diese Taten waren Gegenstand der Anklage.

Nach den weiteren Feststellungen des Landgerichts hatte sich der Angeklagte allerdings bereits am 26. April und 16. Mai 2017 noch als Heranwachsender an zwei weiteren Taten der Gruppierung beteiligt, bei denen ebenfalls entwendete Fahrzeuge beschafft und gewinnbringend verkauft worden waren. An diesen Taten hatte er in vergleichbarer Weise als Gruppenmitglied mitgewirkt (Fallakten 2 und 59). Hinsichtlich dieser beiden Tatvorwürfe hatte die Staatsanwaltschaft das Verfahren betreffend den Angeklagten im Ermittlungsverfahren nach § 154 Abs. 1 Nr. 1 StPO eingestellt. Das Landgericht hat bei der Strafzumessung insoweit strafschärfend berücksichtigt, dass der Angeklagte als Heranwachsender weitere Taten beging, die gemäß § 154 Abs. 1 StPO eingestellt wurden.

II.

Die Nachprüfung des Urteils auf Grund der Revisionsrechtfertigung hat keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben (§ 349 Abs. 2 StPO). Der Erörterung bedarf auf die Sachrüge nur der mit der Revision erhobene Einwand, das Landgericht habe es rechtsfehlerhaft unterlassen zu prüfen, ob auf die ausgeurteilten Taten gemäß § 32 Satz 1 JGG analog i.V.m. § 105 Abs. 1 JGG Jugendstrafrecht Anwendung finde, da sich der Angeklagte bereits im Heranwachsendenalter an der Tatserie der Bande beteiligt habe und das Schwergewicht der Straftaten daher bei den eingestellten Taten, die er als Heranwachsender begangen habe, liegen könnte.

Der Einwand geht fehl. Ein Verstoß gegen § 32 Satz 1 JGG liegt nicht vor, weil die Vorschrift auf die vorliegende Verfahrenskonstellation weder unmittelbare noch entsprechende Anwendung findet.

1. Gemäß § 32 Satz 1 JGG gilt für mehrere Straftaten, die gleichzeitig abgeurteilt werden und auf die teils Jugendstrafrecht und teils allgemeines Strafrecht anzuwenden wäre, einheitlich das Jugendstrafrecht, wenn das Schwergewicht bei den Straftaten liegt, die nach Jugendstrafrecht zu beurteilen wären. Gemäß § 105 Abs. 1 JGG gilt dies für einen Heranwachsenden entsprechend, wenn die Gesamtwürdigung seiner Persönlichkeit ergibt, dass er zur Zeit der Tat nach seinem Entwicklungsstand noch einem Jugendlichen gleichstand oder es sich bei der Tat um eine Jugendverfehlung handelt.

2. Eine direkte Anwendung der Regelung scheidet aus, da es an der erforderlichen gemeinsamen Aburteilung der Taten, die der Angeklagte im Erwachsenen- und im Heranwachsendenalter beging, fehlt (vgl. BGH, Urteil vom 6. August 1986 - 3 StR 281/86, NStZ 1987, 24).

3. Für eine entsprechende Anwendung des § 32 Satz 1 JGG ist kein Raum.

Der Bundesgerichtshof hat sich zu der Frage, ob bei ausschließlicher Aburteilung von Erwachsenentaten nach vorangegangener Einstellung von Heranwachsendentaten in entsprechender Anwendung des § 32 Satz 1 JGG i.V.m. § 105 JGG Jugendstrafrecht zur Anwendung kommen kann, noch nicht tragend geäußert.

Allerdings hat der 1. Strafsenat in einer solchen Verfahrenskonstellation im nicht tragenden Teil einer Entscheidung unter Hinweis auf obergerichtliche Rechtsprechung und Literaturmeinungen eine entsprechende Anwendung des § 32 Satz 1 JGG befürwortet (vgl. BGH, Beschluss vom 7. Februar 2019 - 1 StR 485/18, juris Rn. 11, NZWiSt 2019, 298). Dieser Auffassung vermag der Senat nicht zu folgen, weil es sich bei dieser Regelung um eine Ausnahmevorschrift für den Fall der gemeinsamen Aburteilung von Taten handelt, die ein Täter in unterschiedlichen Altersstufen begangen hat.

a) In der obergerichtlichen Rechtsprechung und Literatur werden zu dieser Frage indes unterschiedliche Auffassungen vertreten.

aa) Das Oberlandesgericht Düsseldorf und ein Teil der Literatur bejahen eine entsprechende Anwendung (vgl. OLG Düsseldorf, Beschluss vom 29. September 2016 - III-3 RVs 79/16, juris Rn. 4, NStZ-RR 2017, 28 [Ls]; Bachmann, ZJJ 2017, 389 ff.; Buhr in Meier/Rössner/Trüg/Wulf, JGG, 2. Aufl., § 32 Rn. 18; Drees, NStZ 1995, 481 f.; Eisenberg, JGG, 20. Aufl., § 32 Rn. 20; Gercke in Gercke/Julius/Temming/Zöller, StPO, 6. Aufl., § 154 Rn. 2; Radtke in Radtke/Hohmann, StPO, 2011, § 154 Rn. 10; Schatz in Diemer/Schatz/Sonnen, JGG, 7. Aufl., § 32 Rn. 44). Es bestehe eine planwidrige Regelungslücke, weil der Gesetzgeber bei Schaffung der Vorschrift die Einstellung von Heranwachsendentaten nach § 154 StPO im Hinblick auf eine zu erwartende Verurteilung wegen Taten im Erwachsenenalter nicht bedacht habe. Es sei nicht nachvollziehbar, dass der Angeklagte bei gleichzeitiger Aburteilung mehrerer Taten aus verschiedenen Alters- und Reifestufen gemäß § 32 Satz 1 JGG einheitlich nach Jugendstrafrecht sanktioniert werden könne, nicht jedoch, wenn die Staatsanwaltschaft oder das Gericht die in die Jugendphase fallende Tat nach § 154 StPO einstelle. Die Möglichkeit einer bewussten oder unbewussten Umgehung des § 32 Satz 1 JGG widerspreche dem „gesetzgeberischen Vereinheitlichungszweck“, nach dem bei Heranwachsendentaten den jugendtypischen Besonderheiten Rechnung getragen werden solle. Dagegen bleibe bei einer entsprechenden Anwendung eine verfahrensökonomische Bereinigung durch Einstellungen möglich, ohne dass der Angeklagte die Option auf das Jugendstrafrecht verliere. Schließlich sei die Berücksichtigung nicht verfahrensgegenständlicher Taten dem Gesetz nicht fremd, was etwa ihre Relevanz bei der Strafzumessung zeige.

bb) Die Gegenauffassung lehnt eine entsprechende Anwendung des § 32 Satz 1 JGG für diese Fallkonstellation ab (vgl. Ostendorf, JGG, 10. Aufl., § 32 Rn. 5; MünchKomm-StPO/Teßmer, 1. Aufl., § 154 Rn. 26; BeckOK-JGG/Schlehofer, 13. Edition, § 32 Rn. 3.4). Eine entsprechende Anwendung komme nicht in Betracht, weil keine planwidrige Regelungslücke bestehe. Der Wortlaut des § 32 JGG sei eindeutig. Zudem fehle es für die Prüfung der Anwendbarkeit von Jugendstrafrecht und des Schwergewichts der Taten an einer Grundlage. Denn diese Prüfung erfordere Feststellungen zu allen Taten aus den verschiedenen Alters- und Reifestufen. Durch die Einstellung der Heranwachsendentaten werde aber der für die Prüfung erforderliche Prozessstoff beschränkt und von der Verfolgung gerade ausgenommen.

b) Der Senat folgt der letztgenannten Ansicht. Eine grammatikalische, historische, teleologische und systematische Auslegung der Vorschrift ergibt, dass weder eine planwidrige Regelungslücke noch eine vergleichbare Interessenlage für eine entsprechende Anwendung besteht.

aa) Bereits der Wortlaut der Vorschrift spricht gegen eine entsprechende Anwendung auf die vorliegende Verfahrenskonstellation.

(1) Im Strafrecht kommt der grammatikalischen Auslegung eine herausgehobene Bedeutung zu. Die Strafgerichte sind gehalten, den Gesetzgeber beim Wort zu nehmen; ihn zu korrigieren, ist ihnen verwehrt (vgl. BVerfG, Beschluss vom 5. Juli 1983 - 2 BvR 200/81, BVerfGE 64, 389, juris Rn. 19 f.). Der mögliche Wortsinn einer Vorschrift zieht mit Blick auf das Gebot der Gesetzesbestimmung auch für die Rechtsfolge eine Grenze, die unübersteigbar ist (vgl. BVerfG, Urteil vom 20. März 2002 - 2 BvR 794/95, BVerfGE 105, 135, NJW 2002, 1779, 1781 mwN; Schmahl in Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, 14. Aufl., Art. 103 Rn. 68 mwN; Fischer, StGB, 66. Aufl., § 1 Rn. 21; SSW-StGB/Satzger, 4. Aufl., § 1 Rn. 40).

(2) Gemessen daran würde eine entsprechende Anwendung des § 32 Satz 1 JGG hier den Wortsinn der Vorschrift sowohl auf der Tatbestands- als auch der Rechtsfolgenseite in ihr Gegenteil verkehren und damit die äußerste Auslegungsgrenze in gleich zweifacher Hinsicht überschreiten.

Der Wortlaut des § 32 Satz 1 JGG ist eindeutig. Er setzt auf der Tatbestandseite voraus, dass mehrere Straftaten aus verschiedenen Alters- und Reifestufen „gleichzeitig abgeurteilt“ werden. Dies ist bei Verurteilung von Erwachsenenstraftaten bei vorangegangener Einstellung von Jugend- bzw. Heranwachsendentaten nicht der Fall.

Rechtsfolge der Vorschrift ist, dass für Straftaten der verschiedenen Alters- und Reifestufen je nach Schwergewicht „einheitlich“ entweder Jugend- oder Erwachsenenstrafrecht gilt. Bei einer entsprechenden Anwendung der Vorschrift auf die vorliegende Verfahrenskonstellation würde im Widerspruch zum Wortlaut der Vorschrift weder das Jugend- noch das Erwachsenenstrafrecht „einheitlich“ auf die in Rede stehenden Straftaten der verschiedenen Alters- und Reifestufen, sondern nur auf die allein verfahrensgegenständlichen Erwachsenentaten Anwendung finden, nicht aber auf die eingestellten Straftaten aus der anderen Altersstufe. Eine solche Rechtsfolge erlaubt § 32 JGG nicht.

bb) Auch die historische Auslegung der Regelung steht einer entsprechenden Anwendung entgegen. Der Senat schließt mit Blick auf die Entstehungsgeschichte der Norm eine planwidrige Regelungslücke aus.

Das Jugendgerichtsgesetz von 1953 begrenzte in § 32 Satz 1 JGG die einheitliche Sanktionierung mehrerer Straftaten in verschiedenen Alters- und Reifestufen ausdrücklich auf die gleichzeitige Aburteilung (vgl. BGBl. I 1953, S. 754). Zwar knüpfte der Entwurf des Gesetzes zur Änderung des Reichsjugendgerichtsgesetzes von 1952 noch nicht an eine gleichzeitige Aburteilung an (vgl. Drucks.-Nr. 3264, S. 4 und 22). Der Gesetzgeber nahm aber aufgrund der Stellungnahmen der Bundesregierung zu den Änderungsvorschlägen des Bundesrates (vgl. Drucks.-Nr. 3264, S. 61 ff.) und des schriftlichen Berichts des Ausschusses für Rechtswesen und Verfassungsrecht (vgl. Drucks.-Nr. 4437, S. 1 ff.) die Voraussetzung der gleichzeitigen Aburteilung bewusst in den Gesetzestext auf.

Die Bundesregierung vertrat im Gesetzgebungsverfahren aus kriminalpolitischen Gründen den Standpunkt, es müsse „ausgeschlossen“ werden, dass neue Straftaten, die als solche nach Erwachsenenstrafrecht zu behandeln wären, nur deshalb dem Jugendstrafrecht unterfallen, weil frühere Verurteilungen noch nicht erledigt seien. Ein „durchschlagendes Bedürfnis“ für einen einheitlichen Vollzug der Strafe für diese Fälle bestehe nicht. Nur wenn mehrere Straftaten in verschiedenen Reifestufen „gleichzeitig abgeurteilt“ werden, sei es sinnvoll, sie einheitlich einem Rechtsgebiet, also entweder dem Jugend- oder dem Erwachsenenstrafrecht, zuzuordnen. Dadurch werde vor allem erreicht, dass ein Frühkrimineller, der als Erwachsener weitere Straftaten begehe, nur dann in den Genuss der Einheitsstrafe komme, wenn alle seine Straftaten gleichzeitig abgeurteilt werden und das Schwergewicht bei den Jugendverfehlungen liege. In „allen anderen Fällen“ dagegen seien die späteren Taten gesondert nach Erwachsenenstrafrecht zu behandeln. Die Bundesregierung schlug vor diesem Hintergrund ausdrücklich die Voraussetzung der „gleichzeitigen Aburteilung“ vor (vgl. Drucks.-Nr. 3264, S. 64 f.).

Der Ausschuss für Rechtswesen und Verfassungsrecht schloss sich in seinem schriftlichen Bericht dem Vorschlag der Bundesregierung an. Eine Einheitsstrafe bei Erwachsenenstraftaten und schon abgeurteilten Jugendverfehlungen sollte sogar „grundsätzlich verboten“ sein. Der Ausschuss zog daher ebenfalls die Konsequenz, dass eine Einheitsstrafe nur gebildet werden könne, wenn Jugendstraftaten zusammentreffen oder wenn ausnahmsweise Jugend- und Erwachsenenstraftaten „in einer Verhandlung“ abgeurteilt werden (vgl. Drucks.-Nr. 4437, S. 7).

Der Gesetzgeber wollte nach alledem § 32 JGG ausdrücklich auf den Fall der gleichzeitigen Aburteilung mehrerer Straftaten aus verschiedenen Alters- und Reifestufen beschränken. Eine entsprechende Anwendung der Regelung auf eine Fallkonstellation einer gerade nicht gegebenen gemeinsamen Aburteilung, wie sie hier vorliegt, würde daher den eindeutigen gesetzgeberischen Willen missachten.

cc) Des Weiteren spricht eine teleologische Auslegung der Norm gegen eine entsprechende Anwendung.

Zweck des § 32 JGG ist, eine einheitliche Sanktionierung mehrerer Straftaten aus verschiedenen Alters- und Reifestufen bei gleichzeitiger Aburteilung zu gewährleisten. Für eine entsprechende Anwendung der Vorschrift auf die vorliegende Verfahrenskonstellation fehlt es an einer vergleichbaren Interessenlage. Der Gesetzgeber hat die Vorschrift - wie dargelegt - mit Bedacht auf die Fälle tatsächlich gleichzeitiger Aburteilung beschränkt. Daher ist § 32 JGG keine zentrale, an den Belangen der materiellen Gerechtigkeit, dem Schuldprinzip oder dem Erziehungsgedanken ausgerichtete Vorschrift, sondern eine pragmatische Regelung für den Ausnahmefall gleichzeitiger Aburteilung von Taten aus verschiedenen Altersstufen (vgl. BGH, Urteil vom 31. Oktober 1989 - 1 StR 501/89, NJW 1990, 920, 921).

dd) Schließlich sprechen systematische Erwägungen gegen eine entsprechende Anwendung des § 32 Satz 1 JGG.

Die systematische Betrachtung der gesetzlichen Regelungen im Jugendgerichtsgesetz ergibt, dass die einheitliche Sanktionierung von Taten aus unterschiedlichen Alters- und Reifestufen einen Ausnahmefall darstellt und stets eine Aburteilung der Taten voraussetzt.

Der Gesetzgeber hat mit den §§ 31 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 1, 32 Satz 1, 66 Abs. 1 und 105 Abs. 2 JGG ein System abschließender und aufeinander abgestimmter Bestimmungen geschaffen, die das Zusammentreffen mehrerer Straftaten aus derselben bzw. verschiedenen Alters- und Reifestufen und bei gleichzeitiger bzw. getrennter Aburteilung regeln. Allen diesen Vorschriften ist gemein, dass die für die Beurteilung maßgeblichen Straftaten von der Staatsanwaltschaft angeklagt, nach Eröffnung des Hauptverfahrens der Kognitionspflicht des Tatrichters unterliegen (§ 264 StPO) und Gegenstand gleichzeitiger bzw. getrennter Aburteilungen sind. Die Anwendung dieser Vorschriften setzt also voraus, dass der Tatrichter die Strafbarkeitsvoraussetzungen jeder einzelnen Tat unter allen tatsächlichen und rechtlichen Gesichtspunkten aufgeklärt und festgestellt hat. Diese Systematik würde bei einer entsprechenden Anwendung des § 32 JGG in der vorliegenden Verfahrenskonstellation durchbrochen. Denn die eingestellten Heranwachsendentaten sind weder angeklagt, noch unterliegen sie der Kognitionspflicht des Tatrichters oder sind Gegenstand der Verurteilung. Sie sind schon deshalb aus systematischen Gründen nicht geeignet, eine Grundlage für die (auch) nach § 32 Satz 1 JGG vorausgesetzte Schwergewichtsprüfung zu bilden.

c) Das Ergebnis der Auslegung steht nicht zuletzt in Einklang mit der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zu der Verfahrenskonstellation, in der ein Angeklagter zunächst zu einer rechtskräftigen Jugendstrafe und später wegen einer Straftat, die er als Erwachsener vor seiner Verurteilung zur Jugendstrafe begangen hat, zu einer Freiheitsstrafe verurteilt wurde.

Der Bundesgerichtshof hat für einen solchen Fall eine entsprechende Anwendung des § 32 Satz 1 JGG ebenfalls abgelehnt. Er ist mit Blick auf den Wortlaut der Vorschrift und den Willen des Gesetzgebers ebenso davon ausgegangen, dass es sich bei § 32 Satz 1 JGG um eine Ausnahmevorschrift für den Fall der gleichzeitigen Aburteilung handelt (vgl. BGH, Urteile vom 6. Mai 1960 - 4 StR 107/60, BGHSt 14, 287, 288 f., NJW 1960, 1531; vom 6. August 1986 - 3 StR 281/86, BGHR § 32 JGG Aburteilung, getrennte 1; vom 11. Oktober 1989 - 3 StR 336/89; StV 1990, 205; vom 31. Oktober 1989 - 1 StR 501/89, NJW 1990, 920; Beschluss vom 10. November 1988 - 1 StR 498/88, BGHR § 32 JGG Aburteilung getrennte 2).

HRRS-Nummer: HRRS 2019 Nr. 1150

Externe Fundstellen: BGHSt 64, 178; NJW 2019, 3599; NStZ 2020, 302; StV 2020, 683

Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner