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HRRS-Nummer: HRRS 2019 Nr. 1001

Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner

Zitiervorschlag: BGH, 2 StR 94/19, Beschluss v. 25.06.2019, HRRS 2019 Nr. 1001


BGH 2 StR 94/19 - Beschluss vom 25. Juni 2019 (LG Aachen)

Vergewaltigung (Schutzlosigkeit gegenüber nötigenden Gewalteinwirkungen); eigene Entscheidung in der Sache (Angemessenheit einer Rechtsfolge).

§ 177 Abs. 1 Nr. 3, Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 aF StGB; § 354 Abs. 1a StPO

Leitsätze des Bearbeiters

1. Die Verwirklichung des Tatbestands des § 177 Abs. 1 Nr. 3 aF StGB erfordert unter anderem, dass sich das Opfer in einer Lage befindet, in der es möglichen nötigenden Gewalteinwirkungen des Täters schutzlos ausgeliefert ist. Diese Schutzlosigkeit muss eine Zwangswirkung auf das Opfer in der Weise entfalten, dass es aus Angst vor einer Gewalteinwirkung des Täters in Gestalt von Körperverletzungs- oder gar Tötungshandlungen einen - ihm grundsätzlich möglichen - Widerstand unterlässt und entgegen seinem eigenen Willen sexuelle Handlungen vornimmt oder duldet.

2. Ob eine Rechtsfolge als angemessen im Sinne des § 354 Abs. 1a StPO angesehen werden kann, hat das Revisionsgericht auf der Grundlage der Feststellungen des angefochtenen Urteils unter Berücksichtigung aller maßgeblichen Gesichtspunkte, insbesondere aller nach § 46 StGB für die Strafzumessung erheblichen Umstände zu beurteilen.

Entscheidungstenor

Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Aachen vom 18. September 2018 wird verworfen.

Der Beschwerdeführer hat die Kosten seines Rechtsmittels und die der Nebenklägerin im Revisionsverfahren entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten unter Freisprechung im Übrigen wegen Vergewaltigung zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt. Mit seiner Revision rügt er die Verletzung materiellen Rechts. Das Rechtsmittel hat keinen Erfolg.

1. Nach den Feststellungen des Landgerichts fasste der intelligenzgeminderte Angeklagte am 14. oder 15. Juni 2016 gegen 16.00 Uhr den Entschluss, mit seiner Ehefrau trotz ihres unmittelbar zuvor ihm gegenüber geäußerten entgegenstehenden Willens den Geschlechtsverkehr zu vollziehen. Dabei nahm er billigend in Kauf, dass seine Ehefrau, die u.a. aufgrund einer Hirnschädigung mit spastischer Tetraparese auf einen Rollstuhl angewiesen war, nicht in der Lage war, sich körperlich gegen sein Vorhaben zu wehren.

Der Angeklagte schob den Rollstuhl, in dem seine Ehefrau saß, vom Wohnzimmer in Richtung Schlafzimmer. Die Geschädigte bremste die hinteren Räder mit Hilfe der feststellbaren Handbremse ab, woraufhin der Angeklagte nun den Rollstuhl auf die Vorderräder kippte und ihn weiterschob. Die rund 45 kg schwere Geschädigte hielt sich sodann mit beiden Armen zunächst am Türrahmen des Wohnzimmers und anschließend am Türrahmen des Schlafzimmers fest. Ihre „Gegenwehr“ gab sie beide Male auf, weil der rund 150 kg schwere, ihr körperlich überlegene Angeklagte den Rollstuhl auf den Vorderrädern weiterschob.

Im Schlafzimmer hob der Angeklagte die Geschädigte aus dem Rollstuhl, legte sie auf das höhenverstellbare Bett, das er elektrisch nach oben fuhr, und zog sie nach vorne an die Bettkante, so dass sich ihr Unterleib in Höhe seines Penis befand. Sie versuchte vergeblich, „den Angeklagten mit ihren Armen wegzudrücken, bis sie keine Kraft mehr hatte“. Er hielt ihre Beine fest und vollzog nunmehr den ungeschützten vaginalen Geschlechtsverkehr. Ob der Angeklagte zum Samenerguss gekommen war, ließ sich nicht feststellen.

2. Die Revision des Angeklagten hat keinen Erfolg.

a) Die Nachprüfung des Urteils aufgrund der Revisionsrechtfertigung hat zum Schuldspruch keinen durchgreifenden Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten erbracht. Allerdings ist die Annahme des Landgerichts rechtsfehlerhaft, neben der Variante des § 177 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 aF StGB sei auch die Variante des § 177 Abs. 1 Nr. 3, Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 aF StGB erfüllt.

Die Verwirklichung des Tatbestands des § 177 Abs. 1 Nr. 3 aF StGB erfordert unter anderem, dass sich das Opfer in einer Lage befindet, in der es möglichen nötigenden Gewalteinwirkungen des Täters schutzlos ausgeliefert ist. Diese Schutzlosigkeit muss eine Zwangswirkung auf das Opfer in der Weise entfalten, dass es aus Angst vor einer Gewalteinwirkung des Täters in Gestalt von Körperverletzungs- oder gar Tötungshandlungen einen - ihm grundsätzlich möglichen - Widerstand unterlässt und entgegen seinem eigenen Willen sexuelle Handlungen vornimmt oder duldet (Senat, Urteil vom 25. Januar 2006 - 2 StR 345/05, BGHSt 50, 359, 368; BGH, Beschluss vom 4. April 2007 - 4 StR 345/06, BGHSt 51, 280, 284; Beschluss vom 20. Oktober 2011 - 4 StR 396/11, NStZ 2012, 209, 210; Beschluss vom 21. Dezember 2011 - 4 StR 404/11, NStZ 2012, 570; Senat, Urteil vom 7. März 2012 - 2 StR 640/11, NStZ-RR 2012, 216, 217 f.). Daran gemessen sind die Voraussetzungen von § 177 Abs. 1 Nr. 3 aF StGB nicht belegt.

Die Feststellungen belegen lediglich, dass die Geschädigte ihren Widerstand allein deshalb aufgab, weil sie dem Angeklagten körperlich und mithin kräftemäßig nicht gewachsen war. Anhaltspunkte dafür, dass die Geschädigte ihren Widerstand aus Angst vor einer Gewalteinwirkung des Angeklagten in Gestalt von Körperverletzungs- oder gar Tötungshandlungen aufgegeben hat, finden sich in den getroffenen Feststellungen nicht. Angesichts der detaillierten Angaben der Geschädigten schließt der Senat aus, dass in einer neuen Verhandlung Feststellungen getroffen werden können, die eine Verurteilung auch nach § 177 Abs. 1 Nr. 3 aF StGB rechtfertigen könnten.

b) Dieser Rechtsfehler, der den Schuldspruch wegen der rechtlich zutreffend angenommenen Verwirklichung der Tatbestandsvariante des § 177 Abs. 1 Nr. 1 aF StGB nicht berührt, erfordert indes nicht die Aufhebung des Strafausspruchs und die Zurückverweisung der Sache, da die verhängte Freiheitsstrafe in Höhe von drei Jahren gleichwohl angemessen ist (§ 354 Abs. 1a Satz 1 StPO).

aa) Ob eine Rechtsfolge als angemessen im Sinne des § 354 Abs. 1a StPO angesehen werden kann, hat das Revisionsgericht auf der Grundlage der Feststellungen des angefochtenen Urteils unter Berücksichtigung aller maßgeblichen Gesichtspunkte, insbesondere aller nach § 46 StGB für die Strafzumessung erheblichen Umstände zu beurteilen (BGH, Beschlüsse vom 3. Mai 2013 - 1 StR 66/13, NStZ-RR 2013, 307 und vom 17. März 2005 - 3 StR 39/05, NStZ 2005, 465).

bb) Die bei verfassungskonformer Auslegung erforderlichen Voraussetzungen für eine Entscheidung des Revisionsgerichts nach der vorgenannten Vorschrift (vgl. dazu BVerfG, Beschluss vom 14. Juni 2007 - 2 BvR 136, 1447/05, NStZ 2007, 598 ff.) liegen vor. Der Beschwerdeführer hatte Gelegenheit zur Stellungnahme zur Frage einer etwaigen Aufrechterhaltung der Strafen gemäß § 354 Abs. 1a StPO. Dem Senat steht ein zutreffend ermittelter, vollständiger und aktueller Strafzumessungssachverhalt zur Verfügung. Auch unter Berücksichtigung der Stellungnahme des Verteidigers ergeben sich keine Anhaltspunkte für erst nach der erstinstanzlichen Hauptverhandlung eingetretene und dementsprechend bisher nicht berücksichtigte Entwicklungen oder Ereignisse, die ein neuer Tatrichter naheliegend feststellen und zugunsten des Angeklagten berücksichtigen würde.

cc) Für die Beurteilung der Angemessenheit ist hier vom nach §§ 21, 49 Abs. 1 StGB gemilderten Strafrahmen des § 177 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 aF StGB auszugehen, der Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis elf Jahre drei Monate vorsieht, und der damit - wie auch das Landgericht zutreffend ausgeführt hat - günstiger ist, als der nach Entfallen der Regelwirkung vorgesehene Strafrahmen. Soweit der Beschwerdeführer unter Hinweis auf Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (u.a. BGH, Urteil vom 13. Oktober 1982 - 3 StR 137/82, juris Rn. 11) einwendet, im Rahmen der Strafrahmenwahl hätte das Landgericht auch den Umstand einstellen müssen, dass „das Opfer dem Täter Hoffnung auf eine einvernehmliche sexuelle Handlung gemacht“ habe, wird dies den Besonderheiten des festgestellten Sachverhalts nicht gerecht. Denn zum konkreten Tatzeitpunkt hatte die Geschädigte den Angeklagten - wie auch bereits zuvor am Vormittag des Tattages - unter Ablehnung seines wiederholten Ansinnens nach Geschlechtsverkehr auf einen späteren Zeitpunkt verwiesen.

Die Tat war hier maßgeblich davon geprägt, dass der einschlägig vorbestrafte Angeklagte um die auf einer Behinderung beruhende eingeschränkte Widerstandsfähigkeit der Geschädigten wusste und diese bei der Tatbegehung ausnutzte. Vor diesem Hintergrund und unter Abwägung aller für die Strafzumessung bedeutsamen Urteilsfeststellungen und unter Berücksichtigung des gesamten hierauf bezogenen Vorbringens der Verfahrensbeteiligten hält der Senat die Freiheitsstrafe von drei Jahren - insbesondere auch unter Berücksichtigung des Umstands, dass die Tat nunmehr drei Jahre zurück liegt, die Nebenklägerin keine dauerhaften körperlichen Schäden erlitten hat, der intelligenzgeminderte Angeklagte der langjährige Intimpartner der Nebenklägerin gewesen ist und sich nicht feststellen ließ, dass der Angeklagte zum Samenerguss gekommen ist - trotz des aufgezeigten Rechtsfehlers für angemessen.

HRRS-Nummer: HRRS 2019 Nr. 1001

Externe Fundstellen: NStZ-RR 2019, 309

Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner