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HRRS-Nummer: HRRS 2018 Nr. 97

Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner

Zitiervorschlag: BGH, 1 StR 150/17, Beschluss v. 23.11.2017, HRRS 2018 Nr. 97


BGH 1 StR 150/17 - Beschluss vom 23. November 2017 (LG München II)

Kurze Freiheitsstrafe nur in Ausnahmefällen (Voraussetzungen; Fälle sachlich und zeitlich ineinander verschränkter Vermögensdelikte); Teileinstellung bei mehreren Taten (Verfahrenseinstellung als Verfahrenshindernis; Beseitigung durch Wiederaufnahmebeschluss).

§ 47 Abs. 1 StGB; 154 Abs. 2 und 5 StPO

Leitsatz des Bearbeiters

Gemäß § 47 Abs. 1 StGB verhängt das Gericht eine Freiheitsstrafe von unter sechs Monaten nur dann, wenn besondere Umstände, die in der Tat oder der Persönlichkeit des Täters liegen, die Verhängung einer Freiheitsstrafe zur Einwirkung auf den Täter oder zur Verteidigung der Rechtsordnung unerlässlich machen. Dies kann auch bei einer Vielzahl von Einzelfällen mit insgesamt hohem Schaden der Fall sein. In Fällen sachlich und zeitlich ineinander verschränkter Vermögensdelikte, von denen die gewichtigeren die Verhängung von Einzelfreiheitsstrafen von sechs Monaten und mehr gebieten, liegt dabei die Verhängung kurzer Freiheitsstrafen auch in den Einzelfällen mit geringeren Schäden nahe.

Entscheidungstenor

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts München II vom 14. Oktober 2016

a) in den Fällen C.I.5. Nr. 73 bis 107 der Urteilsgründe aufgehoben und das Verfahren insoweit eingestellt; im Umfang der Einstellung fallen die Kosten des Verfahrens und die notwendigen Auslagen des Angeklagten der Staatskasse zur Last;

b) im Schuldspruch dahin abgeändert, dass der Angeklagte des Vorenthaltens und Veruntreuens von Arbeitsentgelt in 347 Fällen sowie der Hinterziehung von Lohnsteuer in 59 Fällen schuldig ist;

c) im Strafausspruch aufgehoben aa) hinsichtlich der Einzelstrafen in den Fällen C.I.5. Nr. 128, 175, 176, 179, 212 bis 217, 222, 234 bis 237, 322 bis 327, 330, 333 bis 338, 342 bis 350, C.I.7. Nr. 26 bis 30, C.I.8. Nr. 1 bis 7, 9, 10, 12 bis 19, 21, 22 und 24 bis 29 der Urteilsgründe sowie bb) bezüglich der Gesamtstrafe.

2. Die weitergehende Revision des Angeklagten wird verworfen.

3. Im Umfang der Aufhebung zum Strafausspruch wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die verbleibenden Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Wirtschaftsstrafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Vorenthaltens und Veruntreuens von Arbeitsentgelt in 382 Fällen in Tatmehrheit mit 59 Fällen der Steuerhinterziehung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten verurteilt. Im Hinblick auf eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung hat es hiervon vier Monate für vollstreckt erklärt. Gegen dieses Urteil wendet sich der Angeklagte mit seiner Revision, mit der er die Verletzung formellen und materiellen Rechts rügt. Das Rechtsmittel erzielt den aus der Beschlussformel ersichtlichen Teilerfolg.

1. Soweit das Landgericht den Angeklagten in den Fällen C.I.5. Nr. 73 bis 107 der Urteilsgründe (UA S. 46 f., 143 f.) wegen Vorenthaltens und Veruntreuens von Arbeitsentgelt (§ 266a Abs. 1, Abs. 2 Nr. 1 StGB) für die Monate November 2005 bis September 2008 zum Nachteil der D. verurteilt hat, ist das Urteil mit den Feststellungen aufzuheben und das Verfahren einzustellen (§ 206a Abs. 1 StPO). Der Verurteilung steht entgegen, dass das Landgericht das Verfahren hinsichtlich dieser Taten in der Hauptverhandlung gemäß § 154 Abs. 2 StPO vorläufig eingestellt hat (Protokollband Bl. 137, 139 f., vgl. auch UA S. 85). Mit dieser Verfahrenseinstellung entstand ein von Amts wegen zu beachtendes Verfahrenshindernis, zu dessen Beseitigung ein förmlicher Wiederaufnahmebeschluss gemäß § 154 Abs. 5 StPO erforderlich ist (vgl. BGH, Beschlüsse vom 3. August 2016 - 5 StR 313/16 und vom 18. April 2007 - 2 StR 144/07, NStZ 2007, 476 mwN). Einen solchen Beschluss hat das Landgericht jedoch nicht erlassen.

Das Verfahrenshindernis hat zur Folge, dass der Angeklagte - neben den Taten der Steuerhinterziehung - lediglich in 347 Fällen wegen Vorenthaltens und Veruntreuens von Arbeitsentgelt verurteilt ist. Der Schuldspruch ist daher entsprechend abzuändern. Die für die Fälle C.I.5. Nr. 73 bis 107 der Urteilsgründe verhängten Einzelstrafen entfallen.

2. Die in den 67 Fällen, in denen die „Schäden“ die Betragsschwelle von 2.000 Euro erreicht oder überschritten hatten, verhängten Einzelstrafen - zugleich die Einsatzstrafe - von jeweils drei Monaten Freiheitsstrafe halten rechtlicher Nachprüfung nicht stand.

a) Zwar begegnet es keinen rechtlichen Bedenken, dass das Landgericht, das die Einzelstrafen den Strafrahmen des § 266a Abs. 1 und 2 StGB und des § 370 Abs. 1 AO entnommen hat, angesichts der gleichgelagerten Begehungsformen eine Kategorisierung nach der Schadenshöhe vorgenommen hat (vgl. BGH, Urteil vom 25. April 2017 - 1 StR 606/16, Rn. 32 mwN, wistra 2017, 400). Jedoch fehlt es an einer tragfähigen Begründung für die Wertung des Landgerichts, dass kurze Freiheitsstrafen „jedenfalls bei Schäden ab 2.000 Euro in jedem einzelnen Fall unerlässlich“ waren (UA S. 196).

Gemäß § 47 Abs. 1 StGB verhängt das Gericht eine Freiheitsstrafe von unter sechs Monaten nur dann, wenn besondere Umstände, die in der Tat oder der Persönlichkeit des Täters liegen, die Verhängung einer Freiheitsstrafe zur Einwirkung auf den Täter oder zur Verteidigung der Rechtsordnung unerlässlich machen. Dies kann auch bei einer Vielzahl von Einzelfällen mit insgesamt hohem Schaden der Fall sein (vgl. BGH, Beschlüsse vom 5. September 1995 - 1 StR 456/95 [insoweit in NStZ 1996, 351 nicht abgedruckt] und vom 6. Juni 1994 - 5 StR 229/94; Urteil vom 8. April 2004 - 3 StR 465/03, NStZ 2004, 554 sowie Eschelbach in Satzger/Schluckebier/Widmaier, StGB, 3. Aufl., § 47 Rn. 13). In Fällen sachlich und zeitlich ineinander verschränkter Vermögensdelikte, von denen die gewichtigeren die Verhängung von Einzelfreiheitsstrafen von sechs Monaten und mehr gebieten, liegt dabei die Verhängung kurzer Freiheitsstrafen nach § 47 StGB auch in den Einzelfällen mit geringeren Schäden nahe (BGH, Urteile vom 19. Dezember 2000 - 5 StR 490/00, BGHR StGB § 47 Abs. 1 Umstände 8 und vom 17. März 2009 - 1 StR 627/08 Rn. 48, BGHSt 53, 221, 232).

Eine solche Fallkonstellation liegt hier jedoch nicht vor. Das Landgericht hat in keinem der Fälle Einzelfreiheitsstrafen von sechs Monaten oder mehr für erforderlich gehalten. Zudem ist es zu dem Ergebnis gelangt, dass trotz der vorliegenden Tatserie bei Schäden bis zu 1.999 Euro Einzelgeldstrafen von nicht mehr als 60 Tagessätzen schuldangemessen sind. Das Landgericht hätte deshalb darlegen müssen, weshalb bei dem nicht vorbestraften Angeklagten gerade die Überschreitung der Schwelle von 2.000 Euro ein Umstand sein soll, der für die betroffenen Einzelfälle die Verhängung einer kurzen Freiheitsstrafe zur Einwirkung auf den Täter oder zur Verteidigung der Rechtsordnung unerlässlich macht (vgl. auch BGH, Beschluss vom 1. September 1989 - 2 StR 387/89, BGHR StGB § 47 Abs. 1 Umstände 3). Dieser Erörterungsmangel führt zur Aufhebung aller kurzen Einzelfreiheitsstrafen.

b) Mithin kommt es nicht mehr darauf an, dass das Landgericht in den Fällen C.I.5. Nr. 235 bis 237 der Urteilsgründe von einem zu hohen Schuldumfang ausgegangen ist. Es hat nicht beachtet, dass es gemäß § 154a Abs. 2 StPO von der Verfolgung der Taten des Vorenthaltens und Veruntreuens von Arbeitsentgelt (§ 266a StGB) betreffend die Einzugsstelle S. für die Monate Juli bis September 2008 im Hinblick auf die auf die Zeugin L. entfallenden Beiträge zur Sozialversicherung abgesehen hatte (Protokollband Bl. 144, vgl. auch UA S. 91).

c) Angesichts der Aufhebung aller Einzelfreiheitsstrafen kann auch die Gesamtfreiheitsstrafe keinen Bestand haben.

3. Einer Aufhebung von Feststellungen bedarf es nicht, da diese von dem Rechtsfehler bei der Festsetzung der Einzelfreiheitsstrafen nicht betroffen sind. Der neue Tatrichter darf ergänzende Feststellungen treffen, die mit den bisherigen nicht im Widerspruch stehen.

4. Die weitergehende Revision des Angeklagten ist aus den in der Antragsschrift des Generalbundesanwalts genannten Gründen unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.

5. Vorsorglich weist der Senat darauf hin, dass das Verfahren hinsichtlich des Tatvorwurfs der Hinterziehung von Lohnsteuer betreffend die H. GmbH für den Anmeldungszeitraum April 2006 (Fall B.II. Ziff. 27 der Anklageschrift vom 31. Juli 2013, Bd. I, Bl. 85 d.A.) noch beim Landgericht anhängig ist, weil dieses hierüber keine Entscheidung getroffen hat (vgl. BGH, Beschluss vom 16. März 2010 - 4 StR 48/10, NStZ-RR 2010, 251 mwN). Das Hauptverfahren wurde auch insoweit eröffnet und die Anklageschrift ohne Änderungen zugelassen (Bd. I, Bl. 276 d.A.). Lediglich bezüglich der Tatvorwürfe B.II. Ziff. 1 bis 26 dieser Anklageschrift hat das Landgericht die Eröffnung des Hauptverfahrens wegen Verjährung abgelehnt (Bd. I, Bl. 277 d.A.). Hinsichtlich Fall B.II. Ziff. 27 dieser Anklageschrift sind daher Anklage und Eröffnungsbeschluss noch nicht erschöpft.

HRRS-Nummer: HRRS 2018 Nr. 97

Externe Fundstellen: NStZ-RR 2019, 40

Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner