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HRRS-Nummer: HRRS 2018 Nr. 781

Bearbeiter: Christian Becker

Zitiervorschlag: BGH, 5 AR 112/17, Beschluss v. 20.06.2018, HRRS 2018 Nr. 781


BGH 5 AR (Vs) 112/17 - Beschluss vom 20. Juni 2018 (OLG Schleswig)

BGHSt; Übermittlung anonymisierter Entscheidungsabschriften an private Dritte (Auskünfte aus Akten an nichtverfahrensbeteiligte Privatpersonen; Akteneinsicht; berechtigtes Interesse; pflichtgemäßes Ermessen; schutzwürdiges Interesse des Betroffenen; Rechtspflicht zur Publikation veröffentlichungswürdiger Entscheidungen; Rechtsstaatsgebot; Demokratieprinzip; Gewaltenteilung; presserechtliche Auskunftsansprüche); Rechtsweg gegen Justizverwaltungsakte (Subsidiarität).

§ 475 StPO; § 478 Abs. 3 StPO; Art. 5 Abs. 1 GG; Art. 20 Abs. 3 GG; § 23 EGGVG

Leitsätze

1. § 475 StPO umfasst die Übermittlung anonymisierter Entscheidungsabschriften an private Dritte. (BGHSt)

2. Nach 475 StPO können Auskünfte aus Akten an nichtverfahrensbeteiligte Privatpersonen - nach pflichtgemäßem Ermessen - erteilt werden, sofern hierfür ein berechtigtes Interesse dargelegt wird; sie sind zu versagen, wenn der Betroffene hieran ein schutzwürdiges Interesse hat. (Bearbeiter)

3. Die Voraussetzungen, unter denen im Strafverfahren einer Privatperson Auskünfte aus Verfahrensakten erteilt oder Akteneinsicht gewährt werden darf, sind in den §§ 475 ff. StPO geregelt; diese Vorschriften bilden die erforderliche gesetzliche Grundlage für den mit ihnen verbundenen Eingriff in das Recht des Beschuldigten auf informationelle Selbstbestimmung. Dabei kommt § 475 StPO eine Doppelfunktion zu: Die Vorschrift ist sowohl gesetzliche Grundlage für Eingriffe in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung des Betroffenen als auch materielle Anspruchsgrundlage des Antragstellers. (Bearbeiter)

4. Aus der Rechtspflicht zur Publikation veröffentlichungswürdiger Gerichtsentscheidungen auch der Instanzgerichte, die aus dem Rechtsstaatsgebot einschließlich der Justizgewährungspflicht, dem Demokratiegebot und dem Grundsatz der Gewaltenteilung folgt, lässt sich jedenfalls für private Dritte kein neben § 475 StPO tretender voraussetzungsloser Anspruch auf Herausgabe einer anonymisierten Urteilsabschrift herleiten, der auf dem Rechtsweg nach § 23 EGGVG geltend gemacht werden könnte. (Bearbeiter)

5. Soweit neben § 475 StPO presserechtliche Auskunftsansprüche treten können, ist die Überlassung von Urteilen an Medienvertreter unter weniger strengen Voraussetzungen allein deshalb möglich, weil diesen eine besondere Verantwortung im Umgang mit den so erhaltenen Informationen obliegt. Die ihnen zukommenden Sorgfaltspflichten können aber nicht generell zum Maßstab für das Zugänglichmachen gerichtlicher Entscheidungen gemacht werden. (Bearbeiter)

Entscheidungstenor

Die sofortige Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Schleswig-Holsteinischen Oberlandesgerichts vom 20. November 2017 wird auf seine Kosten zurückgewiesen.

Gründe

I.

1. Der mit der sofortigen Beschwerde angegriffenen Entscheidung des Schleswig-Holsteinischen Oberlandesgerichts liegt das von der Staatsanwaltschaft Kiel abschlägig beschiedene Begehren des Beschwerdeführers zugrunde, ihm eine anonymisierte Fassung eines Urteils des Landgerichts Kiel zu überlassen. Der Antragsteller möchte als "interessierter Bürger" nähere Informationen über Ermittlungen und Beweislage in dieser ein sogenanntes Rocker-Verfahren betreffenden Sache gewinnen. Ferner möchte er die anonymisierte Urteilsabschrift den Medien zur Verfügung stellen, bei Urteilsdatenbanken und Fachzeitschriften einsenden sowie auf seiner Homepage veröffentlichen. Der Beschwerdeführer hat beim Schleswig-Holsteinischen Oberlandesgericht beantragt, die Staatsanwaltschaft Kiel zu verpflichten, ihm die Urteilsabschrift zur Verfügung zu stellen.

2. Das Oberlandesgericht hat sich mit der angefochtenen Entscheidung für unzuständig erklärt und die Sache an das Amtsgericht Kiel verwiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, der Antrag sei als solcher gemäß §§ 23 ff. EGGVG unzulässig. Zwar handele es sich bei der begehrten Maßnahme um einen Justizverwaltungsakt, gegen den aber bereits aufgrund einer anderen Vorschrift ein ordentliches Gericht angerufen werden könne (§ 23 Abs. 3 EGGVG). Denn für die Überlassung anonymisierter Urteilsabschriften an Privatpersonen finde § 475 StPO Anwendung, so dass gemäß § 478 Abs. 3 Satz 1 StPO gegen die Entscheidung der Staatsanwaltschaft gerichtliche Entscheidung durch das nach § 162 StPO zuständige Gericht beantragt werden könne.

3. Mit seiner zugelassenen Rechtsbeschwerde verfolgt der Antragsteller sein Begehren weiter. Er ist der Ansicht, dass § 475 StPO, der ein berechtigtes Interesse an der erstrebten Auskunft verlangt, nicht anwendbar sei. Grundlage seines Anspruchs auf Entscheidungsübersendung sei vielmehr die sich aus dem Rechtsstaatsprinzip ergebende voraussetzungslose Amtspflicht der Gerichte zur Publikation veröffentlichungswürdiger Entscheidungen. Daher sei gegen den ablehnenden Bescheid der Staatsanwaltschaft der Rechtsweg nach Art. 23 EGGVG und nicht derjenige nach § 478 StPO gegeben.

II.

Die sofortige Beschwerde hat keinen Erfolg. Sie ist zwar zulässig (§ 17a Abs. 4 Satz 3 und 4 GVG i.V.m. § 311 Abs. 2 StPO), jedoch unbegründet. Das Oberlandesgericht hat den Rechtsweg nach § 23 EGGVG zutreffend für unzulässig erklärt und den Rechtsstreit an das Amtsgericht Kiel verwiesen (§ 17a Abs. 2 Satz 1 GVG).

Nach der Subsidiaritätsklausel des § 23 Abs. 3 EGGVG tritt der in §§ 23 ff. EGGVG normierte Rechtsweg zurück, soweit das Gesetz anderweitige Rechtsbehelfe gegen Maßnahmen von Justiz- und Vollzugsbehörden vorsieht. Gegen die Verweigerung der Überlassung anonymisierter strafgerichtlicher Entscheidungsabschriften als Unterfall der in § 475 StPO geregelten Auskunftsrechte ist indes - wie der Generalbundesanwalt in seiner Antragsschrift zutreffend dargelegt hat - der Rechtsbehelf nach § 478 Abs. 3 StPO eröffnet (vgl. OVG Münster, NJW 2001, 3803; OLG Hamm, Beschluss vom 26. Januar 2015 - III -1 VAs 70/15, Rn. 7; OLG München, NStZ 2017, 311; OLG Sachsen-Anhalt, StV 2017, 168; LG Berlin, NJW 2002, 838; LG Bochum, NJW 2005, 999; LG München I, Beschluss vom 24. März 2015 - 7 Qs 5/15, Rn. 9; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 61. Aufl., § 23 EGGVG Rn. 15; für eine analoge Anwendung von § 478 Abs. 3 StPO: Putzke/Zenthöfer, NJW 2015, 1777, 1783).

1. § 475 StPO enthält eine umfassende Regelung, die auch für die Überlassung anonymisierter strafgerichtlicher Entscheidungsabschriften an private Dritte gilt (vgl. OLG Hamm aaO; OLG München aaO; OLG Sachsen-Anhalt aaO; LG Berlin aaO; LG Bochum aaO; LG München I aaO; KKStPO/Gieg, 7. Aufl., § 475 Rn. 9; SSWStPO/Ritscher, 3. Aufl., § 475 Rn. 16; Lindner, StV 2008, 210, 216). Diese Interpretation steht mit dem Wortlaut der Vorschrift in Einklang und entspricht dem vom Gesetzgeber verfolgten Zweck.

a) Die Übermittlung einer anonymisierten Urteilsabschrift ist vom Wortlaut des § 475 StPO umfasst.

Auch wenn eine anonymisierte Entscheidungsabschrift kein Aktenbestandteil, sondern nur ein Auszug ist, bei dem Teile der Entscheidung fehlen (vgl. zum Streitstand BGH, Beschluss vom 5. April 2017 - IV AR [VZ] 2/16, NJW 2017, 1819, Rn. 15; BPatG, GRUR 1992, 53), handelt es sich doch um eine - durch den Wortlaut des § 475 StPO erfasste - "Auskunft" aus einer Akte. Schon aufgrund dieser ausdrücklichen gesetzlichen Regelung stellt sich daher die in Zivilsachen relevante Frage nicht, ob die Anforderung anonymisierter Urteilsabschriften ein Unterfall der Akteneinsicht (§ 299 Abs. 2 ZPO) ist oder eine Auskunftsbitte eigener Art (BGH Rn. 12).

b) Dieses Verständnis entspricht auch dem Regelungszweck.

Mit der Einführung der §§ 474 bis 482 StPO durch das am 1. November 2000 in Kraft getretene Gesetz zur Änderung und Ergänzung des Strafverfahrensrechts wollte der Gesetzgeber die unter Berücksichtigung des sogenannten Volkszählungsurteils des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE 65, 1) verfassungsrechtlich gebotenen und im Interesse der Rechtssicherheit und -klarheit notwendigen Rechtsgrundlagen für die Verwendung von in einem Strafverfahren erhobenen personenbezogenen Informationen schaffen (vgl. BT-Drucks. 14/1484, S. 1). Dem Achten Buch der Strafprozessordnung wurde in zwei neuen Abschnitten ein umfassendes Gesamtgefüge von Regelungen betreffend die Verwendung solcher Daten eingegliedert.

Darin regelt § 475 StPO unter anderem die Informationsübermittlung an private Dritte (vgl. BT-Drucks. 14/1484, S. 16, 17, 26). Nach dieser Vorschrift können Auskünfte aus Akten an nichtverfahrensbeteiligte Privatpersonen - nach pflichtgemäßem Ermessen (Meyer-Goßner/Schmitt aaO § 475 Rn. 7; LRStPO/Hilger, 26. Aufl., § 475 Rn. 9) - erteilt werden, sofern hierfür ein berechtigtes Interesse dargelegt wird; sie sind zu versagen, wenn der Betroffene hieran ein schutzwürdiges Interesse hat. Das Gesetz löst damit den Konflikt zwischen dem Informationsinteresse außenstehender Personen und dem aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht nach Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG abgeleiteten Recht der Verfahrensbeteiligten auf informationelle Selbstbestimmung. Letzteres kann auch durch die Übermittlung einer anonymisierten Abschrift eines Strafurteils beeinträchtigt sein. Denn Strafurteile enthalten teilweise bis in den Kernbereich des Persönlichkeitsrechts hineinreichende Angaben insbesondere über den Verurteilten, das Opfer der Straftat oder über das Tatgeschehen selbst, bei denen kaum je auszuschließen ist, dass ein Personenbezug trotz Anonymisierung hergestellt werden kann. Gegen den verfassungsrechtlich abgesicherten Anspruch auf Achtung der Privatsphäre der Betroffenen, der im Rahmen der öffentlichen Hauptverhandlung unter anderem durch § 171b GVG geschützt wird, muss daher gegebenenfalls selbst ein berechtigtes Interesse des eine anonymisierte Auskunft Begehrenden zurücktreten.

2. Das konkrete Auskunftsbegehren des Beschwerdeführers unterfällt § 475 StPO. Dies hat zur Folge, dass Rechtsschutz gegen dessen Versagung von ihm allein nach § 478 Abs. 3 StPO in Anspruch genommen werden kann.

a) Die Voraussetzungen, unter denen im Strafverfahren einer Privatperson Auskünfte aus Verfahrensakten erteilt oder Akteneinsicht gewährt werden darf, sind in den §§ 475 ff. StPO geregelt; diese Vorschriften bilden die erforderliche gesetzliche Grundlage für den mit ihnen verbundenen Eingriff in das Recht des Beschuldigten auf informationelle Selbstbestimmung (BVerfG NJW 2009, 2876). Dabei kommt § 475 StPO eine Doppelfunktion zu: Die Vorschrift ist sowohl gesetzliche Grundlage für Eingriffe in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung des Betroffenen (vgl. BVerfG, NJW 2009, 2876) als auch materielle Anspruchsgrundlage des Antragstellers (SKStPO/Weßlau, 4. Aufl., § 475 Rn. 1; BeckOKStPO/Wittig, § 475 Rn. 1).

b) Aus der Rechtspflicht zur Publikation veröffentlichungswürdiger Gerichtsentscheidungen auch der Instanzgerichte, die aus dem Rechtsstaatsgebot einschließlich der Justizgewährungspflicht, dem Demokratiegebot und dem Grundsatz der Gewaltenteilung folgt (vgl. BVerfG; NJW 2015, 3708, 3710; BVerwGE 104, 105, 108 ff.; BGH, Beschluss vom 5. April 2017 - IV AR [VZ] 2/16, NJW 2017, 1819, Rn. 16; von Coelln, AfP 2016, 308, 309; Mensching, AfP 2007, 534, 535; Putzke/Zenthöfer aaO), lässt sich jedenfalls für private Dritte kein neben § 475 StPO tretender voraussetzungsloser Anspruch auf Herausgabe einer anonymisierten Urteilsabschrift herleiten (vgl. von Coelln aaO, 310; aA Mensching AfP 2007, 534, 537; Putzke/Zenthöfer aaO, 1779), der auf dem Rechtsweg nach § 23 EGGVG geltend gemacht werden könnte.

Soweit neben § 475 StPO presserechtliche Auskunftsansprüche (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, aaO, § 475 Rn. 1a; BeckOKStPO/Wittig, § 475 Rn. 5; LRStPO/Hilger aaO Rn. 2) treten können, ist die Überlassung von Urteilen an Medienvertreter unter weniger strengen Voraussetzungen allein deshalb möglich, weil diesen eine besondere Verantwortung im Umgang mit den so erhaltenen Informationen obliegt (vgl. BVerfG NJW 2015, 3708, 3710). Die ihnen zukommenden Sorgfaltspflichten können aber nicht generell zum Maßstab für das Zugänglichmachen gerichtlicher Entscheidungen gemacht werden (vgl. OLG München, NStZ 2017, 311, 312; OLG Sachsen-Anhalt, StV 2017, 168, 169).

3. Es ist vorliegend nicht zu entscheiden, ob dem Beschwerdeführer, wie er meint, ein - originär auf dem Verwaltungsrechtsweg geltend zu machender -Anspruch auf Übersendung der anonymisierten Urteilsabschrift auch in seiner Funktion als Herausgeber eines journalistisch-redaktionell gestalteten Telemediums im Internet, zusteht (§ 4 PresseG SH). Dasselbe gilt für Ansprüche nach dem schleswig-holsteinischen Informationszugangsgesetz (vgl. insoweit aber § 2 Abs. 4 Nr. 3 IZG SH).

HRRS-Nummer: HRRS 2018 Nr. 781

Bearbeiter: Christian Becker