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HRRS-Nummer: HRRS 2018 Nr. 744

Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner

Zitiervorschlag: BGH, 4 StR 184/18, Beschluss v. 21.06.2018, HRRS 2018 Nr. 744


BGH 4 StR 184/18 - Beschluss vom 21. Juni 2018 (LG Münster)

Recht auf ein faires Verfahren (ausnahmsweise Entbehrlichkeit einer Verfahrensrüge bei konventionswidriger Verfahrensverzögerung).

Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK; § 344 Abs. 2 S. 2 StPO

Leitsätze des Bearbeiters

1. Zwar muss der Revisionsführer nach inzwischen gefestigter Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs regelmäßig eine Verfahrensrüge erheben, wenn er die unterbliebene oder unzureichende Kompensation einer konventionswidrigen Verfahrensverzögerung geltend machen will, sofern diese bis zum Ablauf der Revisionsrechtfertigungsfrist eingetreten ist.

2. Dies gilt aber ausnahmsweise dann nicht, wenn sich die Umstände, die die Verfahrensverzögerung und ihre Konventionswidrigkeit belegen, in für das Revisionsgericht nachvollziehbarer Weise bereits aus den Gründen des angefochtenen Urteils und den von Amts wegen zu berücksichtigenden Aktenbestandteilen ergeben.

Entscheidungstenor

1. Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Münster vom 12. Januar 2018 wird als unbegründet verworfen.

2. Es wird festgestellt, dass das Verfahren unter Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK verzögert worden ist.

3. Der Beschwerdeführer hat die Kosten seines Rechtsmittels sowie die der Nebenklägerin im Revisionsverfahren entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen sexueller Nötigung zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt. Die auf die Verletzung materiellen Rechts gestützte Revision des Angeklagten führt zur Feststellung eines Verstoßes gegen Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK; im Übrigen ist das Rechtsmittel unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.

1. Die Nachprüfung des Urteils aufgrund der Revisionsrechtfertigung hat weder zum Schuldspruch noch zum Strafausspruch Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben. Insoweit wird auf die zutreffenden Ausführungen des Generalbundesanwalts in seiner Zuschrift an den Senat vom 30. April 2018 Bezug genommen.

2. Zutreffend ist allerdings der Einwand der Revision, das Verfahren sei unter Verletzung des Rechts des Angeklagten auf Entscheidung innerhalb angemessener Frist (Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK) geführt worden.

a) Zwar muss der Revisionsführer nach inzwischen gefestigter Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs regelmäßig eine Verfahrensrüge erheben, wenn er die unterbliebene oder unzureichende Kompensation einer konventionswidrigen Verfahrensverzögerung geltend machen will, sofern diese bis zum Ablauf der Revisionsrechtfertigungsfrist eingetreten ist (vgl. nur BGH, Beschluss vom 17. Dezember 2003 - 1 StR 445/03, BGHR MRK Art. 6 Abs. 1 Satz 1 Verfahrensverzögerung 19; Urteil vom 25. November 2004 - 2 StR 274/04, NStZ-RR 2005, 81 [Ls], jeweils mwN; Fischer, StGB, 65. Aufl., § 46 Rn. 127). Dies gilt aber ausnahmsweise dann nicht, wenn sich die Umstände, die die Verfahrensverzögerung und ihre Konventionswidrigkeit belegen, in für das Revisionsgericht nachvollziehbarer Weise bereits aus den Gründen des angefochtenen Urteils und den von Amts wegen zu berücksichtigenden Aktenbestandteilen ergeben (BGH, Urteil vom 25. November 2004 aaO). So liegt der Fall hier. Dem Senat steht insoweit eine hinreichende Beurteilungsgrundlage zur Verfügung. Das Landgericht hat in den Urteilsgründen detaillierte Feststellungen zum Ablauf des Verfahrens insgesamt getroffen und dabei insbesondere die nicht zeitgerechte, den Strafverfolgungsbehörden zuzurechnende Sachbehandlung nach Wiedereinreise des Angeklagten in die Bundesrepublik Deutschland im Jahr 2014 eingehend nachvollzogen (UA 12/14).

b) Die im landgerichtlichen Urteil näher dargelegte mangelhafte Förderung des Verfahrens nach Erteilung des Auftrags zur Erstellung eines DNA-Gutachtens an das Landeskriminalamt N. am 1. Juli 2014 begründet einen Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK, den der Senat hiermit ausdrücklich feststellt.

Eine weiter gehende Kompensation rechtfertigt das Gewicht der Verzögerung im vorliegenden Fall jedoch nicht. Zwar erfolgte die erste Sachstandsanfrage der Staatsanwaltschaft beim Landeskriminalamt erst mit Verfügung vom 16. September 2016 und deshalb, wie das Landgericht zutreffend angenommen hat, mit Blick auf das Datum des Gutachtenauftrags (1. Juli 2014) unvertretbar spät. Der verstrichene Zeitraum ist jedoch schon angesichts der auch bei zeitgerechter Verfahrensförderung in Ansatz zu bringenden Bearbeitungszeit nicht mit einer konventionswidrigen Verfahrensverzögerung von entsprechender Dauer gleichzusetzen und damit deutlich geringer zu bemessen. Es kommt hinzu, dass das Landgericht die Dauer des Verfahrens schon bei der Strafzumessung in besonderem Maße ausdrücklich zu Gunsten des Angeklagten berücksichtigt und eine angesichts des verwirklichten Unrechts äußerst milde Freiheitsstrafe verhängt hat. Weitere, besondere Belastungen des zu keinem Zeitpunkt inhaftierten Angeklagten sind nicht ersichtlich.

3. Der geringfügige Erfolg des Rechtsmittels rechtfertigt es nicht, den Beschwerdeführer von einem Teil der Verfahrenskosten freizustellen (§ 473 Abs. 4 StPO).

HRRS-Nummer: HRRS 2018 Nr. 744

Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner