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HRRS-Nummer: HRRS 2018 Nr. 600

Bearbeiter: Christian Becker

Zitiervorschlag: BGH, StB 12/18, Beschluss v. 30.05.2018, HRRS 2018 Nr. 600


BGH StB 12/18 - Beschluss vom 30. Mai 2018 (OLG Stuttgart)

Fortdauer der Untersuchungshaft nach mehr als zwei Jahren und vier Monaten (dringender Tatverdacht wegen Beteiligung an Kriegsverbrechen und erpresserischem Menschenraub; Fluchtgefahr; Beurteilung des Fluchtanreizes; Nettostraferwartung; Verhältnismäßigkeit; Berücksichtigung der Prognose einer etwaigen Aussetzung der Reststrafe zur Bewährung).

§ 112 StPO; § 10 Abs. 1 VStGB; § 57 Abs. 1 StGB; § 239a StGB

Leitsatz des Bearbeiters

Ob die Vollstreckung des Strafrests nach Verbüßung von zwei Dritteln der Strafe zur Bewährung „hypothetisch“ ausgesetzt werden kann (§§ 57 Abs. 1 S. 1 Nr. 1, 51 Abs. 1 S. 1 StGB), ist bei der Prüfung der Verhältnismäßigkeit der Fortdauer von Untersuchungshaft zwar zu berücksichtigen. Indes handelt es sich dabei nicht um eine starre Grenze, bei deren Erreichen der weitere Vollzug der Untersuchungshaft stets unverhältnismäßig wäre. Die verhängte Strafe bleibt daneben vielmehr ein beachtliches Abwägungskriterium.

Entscheidungstenor

Die Beschwerde des Angeklagten gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Stuttgart vom 16. Oktober 2017 wird verworfen.

Der Beschwerdeführer hat die Kosten seines Rechtsmittels zu tragen.

Gründe

I.

1. Der Beschwerdeführer befindet sich seit dem 21. Januar 2016 aufgrund des Haftbefehls des Ermittlungsrichters des Bundesgerichtshofs vom 14. Januar 2016 (4 BGs 10/16) in Untersuchungshaft. Der Senat hat mit Beschluss vom 11. August 2016 (AK 43/16) die Fortdauer der Untersuchungshaft angeordnet.

2. Mit Urteil vom 20. September 2017 hat das Oberlandesgericht Stuttgart den Angeklagten wegen Beihilfe zu einem Kriegsverbrechen gegen humanitäre Operationen in Tateinheit mit Beihilfe zum erpresserischen Menschenraub, zu einer versuchten schweren räuberischen Erpressung in drei tateinheitlichen Fällen und zur schweren Freiheitsberaubung zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten verurteilt. Außerdem hat es den Haftbefehl nach Maßgabe des verkündeten Urteils aufrechterhalten. Gegen dieses Urteil hat der Generalbundesanwalt Revision mit dem Ziel der Änderung des Schuldspruchs und der dadurch bedingten Aufhebung des Strafausspruchs eingelegt, ohne dabei die Sachverhaltsfeststellungen zu beanstanden: Der Angeklagte habe Tathandlungen eines Kriegsverbrechens gegen humanitäre Operationen (§ 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 VStGB) und der schweren Freiheitsberaubung (§ 239 Abs. 1, 3 Nr. 1 StGB) selbst ausgeführt. Er sei daher zumindest insoweit Täter. Daher sei der Strafrahmen des § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 VStGB mit einer Mindeststrafe von drei Jahren Freiheitsstrafe für die Strafzumessung maßgeblich, nicht der vom Oberlandesgericht nach § 27 Abs. 2 Satz 2, § 49 Abs. 1 StGB auf das Mindestmaß von zwei Jahren Freiheitsstrafe gemilderte des erpresserischen Menschenraubes (§ 239a Abs. 1 StGB). Termin zur Hauptverhandlung vor dem Senat über die Revision des Generalbundesanwalts ist auf den 23. August 2018 bestimmt.

3. Der Angeklagte hat mit Schriftsatz vom 26. September 2017 beantragt, den Haftbefehl aufzuheben, hilfsweise außer Vollzug zu setzen. Daraufhin hat das Oberlandesgericht Stuttgart mit Beschluss vom 16. Oktober 2017 den Haftbefehl vom 14. Januar 2016 in der Fassung des Beschlusses vom 20. September 2017 aufrechterhalten. Hiergegen richtet sich die Beschwerde des Angeklagten vom 23. April 2018, welcher das Oberlandesgericht mit Beschluss vom 25. April 2018 nicht abgeholfen hat.

4. Der Angeklagte hat zur Begründung seines Rechtsmittels im Wesentlichen ausgeführt, die Fortdauer der Untersuchungshaft sei unverhältnismäßig. Er werde in seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG verletzt. Bei Rechtskraft des Urteils wäre am 21. Mai 2018 infolge der anzurechnenden Untersuchungshaft der Zeitpunkt erreicht, zu welchem über die Aussetzung der Vollstreckung des Rests der Freiheitsstrafe zur Bewährung zu entscheiden gewesen wäre („Zwei-Drittel-Zeitpunkt"; § 57 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StGB). Eine solche Entscheidung wäre vor allem wegen seines unbescholtenen Vorlebens und seines Geständnisses zu seinen Gunsten ausgefallen. Nunmehr könne eine Strafhaft nichts zur Resozialisierung beitragen. Zudem sei mit seinem Geständnis sowie seiner Bindung an seinen Vater und eine seiner Schwestern, die in Deutschland lebten, der Haftgrund der Fluchtgefahr ausgeräumt. Der Haftbefehl sei deshalb aufzuheben, jedenfalls aber außer Vollzug zu setzen.

Der Generalbundesanwalt hat beantragt, die Beschwerde zu verwerfen.

II.

Die zulässige Beschwerde bleibt in der Sache ohne Erfolg.

1. Gegen den Angeklagten besteht weiterhin der - in diesem Beschwerdeverfahren nicht angegriffene - dringende Verdacht, die ihm nach Maßgabe der Haftentscheidungen vom 20. September 2017 und 16. Oktober 2017 i.V.m. dem Urteil vom 20. September 2017 zur Last gelegte Straftat begangen zu haben, nämlich zwischen Anfang März 2013 und Mai 2013 zumindest an sieben Tagen den von Mitgliedern einer die Bürgerkriegswirren ausnutzenden, mit islamistischem Gedankengut sympathisierenden Personengruppe unter Vorhalt von Schusswaffen verschleppten kanadischen Staatsangehörigen C., der seit Juli 2010 hauptamtlich als Rechtsberater für die friedenserhaltende Mission der Vereinten Nationen auf den Golanhöhen (United Nations Disengagement Observer Force - UNDOF) tätig war, im Auftrag der Entführer in der Ortschaft Drosha nordöstlich von Khan Alsheh in Syrien bewacht zu haben. Durch das verurteilende Erkenntnis vom 20. September 2017 wird der dringende Tatverdacht hinreichend belegt (siehe nur BGH, Beschlüsse vom 2. November 2016 - StB 35/16, juris Rn. 7; vom 11. August 2016 - StB 25/16, juris Rn. 7; vom 28. Oktober 2005 - StB 15/05, NStZ 2006, 297; vom 8. Januar 2004 - StB 20/03, NStZ 2004, 276, 277).

2. Der Haftgrund der Fluchtgefahr (§ 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO) besteht fort. Das Verfahren ist nicht rechtskräftig abgeschlossen. Ob die vom Oberlandesgericht verhängte Freiheitsstrafe Bestand hat, bleibt der Revisionsentscheidung sowie einem sich daran gegebenenfalls anschließenden neuen Erkenntnisverfahren vorbehalten. Damit kann hier bei der Beurteilung des Fluchtanreizes nicht allein auf die sogenannte Nettostraferwartung (§ 57 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, § 51 Abs. 1 Satz 1 StGB) und zwar bemessen an der verhängten Freiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten abgestellt werden (dazu nur BGH, Beschluss vom 2. November 2016 - StB 35/16, juris Rn. 9). Schon der aufgrund des Strafausspruchs des Oberlandesgerichts noch verbleibende Strafrest von etwa einem Jahr und zehn Monaten in Verbindung mit dem Fortgang des Strafverfahrens begründet für den Angeklagten angesichts des Umstands, dass er in Deutschland über keine ausreichenden sozialen Bindungen verfügt, einen erheblichen Fluchtanreiz.

Der Fluchtanreiz wird insbesondere dadurch verstärkt, dass die Mutter des Angeklagten und eine seiner Schwestern in der Türkei, zwei Schwestern in Saudi-Arabien und eine Schwester in Syrien leben. Diese Familienangehörigen könnten ihm Aufenthalt gewähren. Zudem gelang dem Angeklagten über „Schlepper“ seine Einreise nach Deutschland. Auch solche Kontakte könnte der Angeklagte zu seiner Flucht nutzen. Schließlich kommt dem Umstand Bedeutung zu, dass der Angeklagte unter Vorspiegeln der Identität eines“ A.“ seine Anerkennung als Flüchtling und die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis erreichte. Auch dies begründet die Gefahr des „Untertauchens“.

Die von der Verteidigung erwogenen Auflagen (§ 116 Abs. 1 StPO) erscheinen nicht geeignet, der Fluchtgefahr hinreichend zu begegnen. Eine Außervollzugsetzung des Haftbefehls scheidet daher aus.

3. Die Fortdauer der nun bereits mehr als zwei Jahre und vier Monate andauernden Untersuchungshaft ist mit Blick auf das Spannungsverhältnis zwischen dem Freiheitsanspruch des Beschwerdeführers und dem Interesse der Allgemeinheit an einer effektiven Strafverfolgung bei Berücksichtigung und Abwägung der Besonderheiten des vorliegenden Verfahrens zum jetzigen Zeitpunkt noch verhältnismäßig (§ 120 Abs. 1 Satz 1 StPO):

a) Die Beteiligung an einem Kriegsverbrechen (§ 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 VStGB) und an einem erpresserischen Menschenraub (§ 239a Abs. 1 StGB) wiegt schwer. Das Verfahren ist ohne Verzögerung betrieben worden. Der - allein von der Beschwerde geltend gemachte - Gesichtspunkt, ob die Vollstreckung des Strafrests nach Verbüßung von zwei Dritteln der Strafe zur Bewährung „hypothetisch“ ausgesetzt werden kann (§ 57 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, § 51 Abs. 1 Satz 1 StGB), ist bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung zwar zu berücksichtigen (siehe nur BVerfG, Beschlüsse vom 29. Dezember 2005 -2 BvR 2057/05, BVerfGK 7, 140, 161 f.; vom 4. Juni 2012 - 2 BvR 644/12, BVerfGK 19, 428, 435; vom 11. Juni 2008 - 2 BvR 806/08, StV 2008, 421, 422; BGH, Beschluss vom 22. Oktober 2012 - StB 12/12, NJW 2013, 247, 249). Indes handelt es sich dabei nicht um eine starre Grenze, bei deren Erreichen der weitere Vollzug der Untersuchungshaft stets unverhältnismäßig wäre (KK/Schultheis, StPO, 7. Aufl., § 120 Rn. 7). Die verhängte Strafe bleibt daneben ein beachtliches Abwägungskriterium. Innerhalb der Gesamtabwägung tritt zu dem durchaus gewichtigen Maß der verhängten Freiheitsstrafe, die freilich deutlich unterhalb der von dem Generalbundesanwalt beantragten liegt, und des noch offenen Strafrestes sowie zur Schwere des Tatvorwurfs die derzeit wegen der zu Lasten des Angeklagten geführten Revision des Generalbundesanwalts nicht auszuschließende Möglichkeit einer Strafmaßverböserung hinzu. Jedenfalls nach gegenwärtigem Stand ist für den Senat nicht erkennbar, dass das Rechtsmittel des Generalbundesanwalts offensichtlich unbegründet wäre (vgl. dazu KK/Schultheis aaO; zu einer solchen Prognose der Erfolgsaussichten einer Revision innerhalb der Prüfung des dringenden Tatverdachts BGH, Beschluss vom 28. Oktober 2005 - StB 15/05, NStZ 2006, 297).

b) Zudem bestehen keine ausreichenden Anhaltspunkte dafür, dass eine Aussetzung des Strafrestes zur Bewährung zu erwarten ist (zu diesem Beurteilungsmaßstab siehe BVerfG aaO; MüKoStPO/Böhm/Werner, § 112 Rn. 53 mwN). Allein der Umstand, dass der Angeklagte bislang nicht vorbestraft und erstmalig von einer freiheitsentziehenden Maßnahme betroffen ist, begründet hier keine ausreichende diesbezügliche Wahrscheinlichkeit. Denn auch das Sicherheitsinteresse der Allgemeinheit ist bei dieser schwerwiegenden Tat mit jihadistischem Bezug innerhalb der Aussetzungsentscheidung ein bedeutender Umstand (dazu nur BGH, Beschluss vom 2. November 2016 - StB 35/16, juris Rn. 11). Das Oberlandesgericht, das allein einen unmittelbaren Eindruck vom Angeklagten in der Hauptverhandlung gewonnen hat, hat dem Senat als Beschwerdegericht keine weiteren zu seinen Gunsten sprechenden Gesichtspunkte vermittelt. Im Gegenteil steht nach Aktenlage die Prüfung aus, ob und in welchem Umfang der Angeklagte durch den Besitz und das Benutzen zumindest eines Mobiltelefons gegen die Hausordnung der Justizvollzugsanstalt verstieß.

HRRS-Nummer: HRRS 2018 Nr. 600

Externe Fundstellen: NStZ-RR 2018, 255

Bearbeiter: Christian Becker