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HRRS-Nummer: HRRS 2018 Nr. 464

Bearbeiter: Holger Mann

Zitiervorschlag: BVerfG, 2 BvR 708/18, Beschluss v. 25.04.2018, HRRS 2018 Nr. 464


BVerfG 2 BvR 708/18 (3. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 25. April 2018 (LG Aurich)

Einstweilige Anordnung gegen die Auswertung sichergestellter Datenträger (Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung; mögliche Verletzung bei fehlender Tatsachengrundlage für Anfangsverdacht oder Auffindeerwartung; Folgenabwägung; überwiegendes Interesse am Schutz persönlicher Daten).

Art. 1 Abs. 1 GG; Art. 2 Abs. 1 GG; Art. 13 GG; § 32 Abs. 1 BVerfGG; § 110 StPO; § 176 StGB

Leitsätze des Bearbeiters

1. Die Auswertung der bei einer Durchsuchung sichergestellten Datenträger verletzt den Beschuldigten möglicherweise in seinem Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung, wenn das Beschwerdegericht die allein auf den Tatverdacht eines 20 Jahre zurückliegenden sexuellen Kindesmissbrauchs gestützte Durchsuchungsanordnung mangels ausreichender Auffindeerwartung für rechtswidrig erklärt, zugleich jedoch die Durchsicht der Datenträger mit Blick auf kinderpornographische Schriften gestattet, obwohl es insoweit an einem durch konkrete Tatsachen begründeten Anfangsverdacht fehlt.

2. Bei der Folgenabwägung im Rahmen des § 32 Abs. 1 BVerfGG hat das Interesse der Strafverfolgungsbehörden an einer sofortigen Auswertung der sichergestellten Datenträger hinter dem Interesse des Beschuldigten zurückzustehen, grundsätzlich selbst über die Preisgabe und Verwendung seiner persönlichen Daten zu bestimmen.

Entscheidungstenor

Der Staatsanwaltschaft Aurich wird bis zu einer Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers, längstens für die Dauer von sechs Monaten, untersagt, die im Rahmen der Durchsuchung des Wohnhauses des Beschwerdeführers in Leer am 9. Februar 2018 sichergestellten Gegenstände und Daten auszuwerten oder sonst zu verwerten.

Gründe

I.

Der Beschwerdeführer wendet sich mit seiner Verfassungsbeschwerde gegen die Sicherstellung und Auswertung von bei ihm im Rahmen einer Wohnungsdurchsuchung aufgefundenen Datenträgern.

1. Im November 2017 erhielt die Polizei in Aurich von einem Mitarbeiter des Internetportals „www.poppen.de“ den Hinweis, dass ein Mitglied des Portals sich unter dem Pseudonym ... mit anderen Mitgliedern in Chats über Sex vor und mit den eigenen minderjährigen Kindern unterhalte. Die entsprechenden Chat-Verläufe stellte der Hinweisgeber der Polizei zur Verfügung.

2. Die Ermittlungen der Polizei ergaben, dass für die Chats von ... der Internetzugang des bisher nicht strafrechtlich in Erscheinung getretenen Beschwerdeführers genutzt wurde. Es wurde außerdem in Erfahrung gebracht, dass der Beschwerdeführer zusammen mit seiner Ehefrau eine 1986 geborene Tochter hat, die Mutter von zwei Söhnen ist und mit ihrer Familie in derselben Stadt wohnt wie ihre Eltern.

3. Mit Beschluss vom 18. Januar 2018 ordnete das Amtsgericht Aurich auf der Grundlage von § 102 StPO die Durchsuchung der Wohnung des Beschwerdeführers zum Zwecke der Auffindung von PCs, sonstigen Kommunikationsmitteln und Datenträgern an, die den Chat-Verlauf und den Zugang zur Internetplattform „www.poppen.de“ sowie Hinweise auf kinderpornographische beziehungsweise sexuelle Handlungen zum Schaden Minderjähriger enthalten. Der Beschwerdeführer sei aufgrund der polizeilichen Ermittlungen verdächtig, Geschlechtsverkehr vor und mit Minderjährigen durchgeführt zu haben, was gemäß § 176a StGB mit Strafe bedroht sei.

4. Die Durchsuchungsanordnung wurde am 9. Februar 2018 vollzogen. Dabei wurden nach dem Vortrag des Beschwerdeführers unter anderem ein PC, Laptops, zwei digitale Videokameras sowie mehrere USB-Datenträger sichergestellt. Der Beschwerdeführer widersprach der Sicherstellung, woraufhin das Amtsgericht Aurich die Beschlagnahme der im Sicherstellungsprotokoll aufgeführten Gegenstände mit Beschluss vom 13. Februar 2018 bestätigte. Zur Begründung führte es aus, dass der Beschwerdeführer verdächtig sei, zu einem bislang unbekannten Zeitpunkt in seiner Wohnung Geschlechtsverkehr vor beziehungsweise mit seiner damals elfjährigen Tochter ausgeübt zu haben.

5. Gegen die Beschlüsse des Amtsgerichts Aurich vom 18. Januar 2018 und 13. Februar 2018 legte der Beschwerdeführer am 5. März 2018 Beschwerde ein. Im Verfahren legte er unter anderem eine eidesstattliche Versicherung seiner Tochter vor, die angab, dass sie von ihrem Vater weder im Alter von elf Jahren im Jahr 1997 noch jemals davor oder danach sexuell belästigt, genötigt oder in unangemessener Weise angefasst oder gar vergewaltigt worden sei. Niemals habe es sexuelle Kontakte zwischen ihr und ihrem Vater gegeben.

6. Auf die Beschwerde stellte das Landgericht Aurich mit Beschluss vom 3. April 2018 fest, dass die Durchsuchungsanordnung rechtswidrig sei, verwarf aber die Beschwerde gegen den die Sicherstellung bestätigenden Beschluss vom 13. Februar 2018.

Das Landgericht bejahte aufgrund der Chat-Korrespondenz einen Anfangsverdacht wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern gemäß § 176 StGB in der im Jahr 1997 gültigen Fassung.

Weiter ging das Landgericht von einem Anfangsverdacht gegen den Beschwerdeführer wegen des Besitzes kinderpornographischer Schriften aus. Zwar sei im Rahmen der bisher ausgewerteten Korrespondenz über das Portal „www.poppen.de“ nicht explizit über derartige Schriften kommuniziert worden; insbesondere seien solche Schriften weder angeboten noch empfangen worden. Gleichwohl ergebe sich aufgrund kriminalistischer Erfahrung eine auf Tatsachen gründende Wahrscheinlichkeit, dass derartige Schriften vorhanden seien und bei einer Durchsuchung aufgefunden werden könnten.

Das Landgericht kam zu dem Schluss, dass die Durchsuchungsanordnung nur bezüglich des Tatvorwurfs des sexuellen Missbrauchs von Kindern den formalen Anforderungen an einen Durchsuchungsbeschluss genüge, während der Tatvorwurf des Besitzes kinderpornographischer Schriften weder benannt noch hinreichend konkret umschrieben werde. Im Hinblick auf den deshalb allein maßgeblichen Vorwurf des sexuellen Missbrauchs von Kindern sei der mit der Durchsuchung verbundene Eingriff in das Grundrecht des Beschwerdeführers aus Art. 13 GG allerdings unverhältnismäßig. Denn die in Rede stehende Tat liege gut 20 Jahre zurück, so dass heute keine Nachweise mehr aufzufinden sein dürften. Es komme hinzu, dass als milderes Mittel eine Vernehmung der Tochter des Beschwerdeführers in Betracht gekommen wäre.

Die Voraussetzungen für eine Beschlagnahme lägen hingegen vor. Den bei dem Beschwerdeführer aufgefundenen Gegenständen komme angesichts des bestehenden Tatverdachts des Besitzes kinderpornographischer Schriften potenzielle Beweisbedeutung zu. Die rechtswidrige Durchsuchungsanordnung führe nicht zu einem Beweisverwertungsverbot. Es könne darauf abgestellt werden, ob die beschlagnahmten Beweismittel auch bei einem hypothetisch rechtmäßigen Ermittlungsverlauf gewonnen worden wären, was vorliegend zu bejahen sei.

II.

Mit seiner Verfassungsbeschwerde greift der Beschwerdeführer den Beschluss des Landgerichts Aurich vom 3. April 2018 an und wendet sich konkret gegen die Bestätigung der Sicherstellung der bei ihm aufgefundenen Datenträger als Grundlage für deren Auswertung. Die Sicherstellung und Auswertung verletze ihn in seinem Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG.

Der Beschwerdeführer macht insbesondere geltend, dass es an ausreichenden Verdachtsmomenten gegen ihn fehle, die die Auswertung der aufgefundenen Datenträger rechtfertigen könnten. Der Vorwurf des schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern könne angesichts der vorgelegten eidesstattlichen Versicherung seiner Tochter längst als ausgeräumt gelten. Ein konkreter Anfangsverdacht für den Besitz von kinderpornographischen Schriften existiere nicht. Tatsächliche Anhaltspunkte für einen solchen Verdacht benenne das Landgericht Aurich nicht. Soweit es sich auf kriminalistische Erfahrung stütze, erläutere es den vermeintlichen Erfahrungssatz nicht weiter. Letztlich solle die Auswertung erst dazu dienen, Belege für den zunächst nicht erhobenen Vorwurf des Besitzes kinderpornographischer Schriften aufzufinden.

Der Beschwerdeführer beantragt den Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 32 BVerfGG, durch die den Strafverfolgungsbehörden die Sichtung und Auswertung der sichergestellten technischen Geräte und Datenträger einstweilen bis zu einer Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde untersagt werden soll.

III.

Die Voraussetzungen für den Erlass einer einstweiligen Anordnung liegen vor.

1. Nach § 32 Abs. 1 BVerfGG kann das Bundesverfassungsgericht im Streitfall einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist. Dabei haben die Gründe, die für die Verfassungswidrigkeit des angegriffenen Hoheitsakts vorgetragen werden, grundsätzlich außer Betracht zu bleiben, es sei denn, die Verfassungsbeschwerde wäre von vornherein unzulässig oder offensichtlich unbegründet (vgl. BVerfGE 7, 367 <371>; 103, 41 <42>; 121, 1 <15>; 134, 138 <140 Rn. 6 m.w.N.>; stRspr).

Bei offenem Ausgang des Verfassungsbeschwerdeverfahrens sind die Folgen, die eintreten würden, wenn die einstweilige Anordnung nicht erginge, die Verfassungsbeschwerde aber später Erfolg hätte, gegenüber den Nachteilen abzuwägen, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, der Verfassungsbeschwerde jedoch der Erfolg versagt bliebe (vgl. BVerfGE 105, 365 <371>; 106, 351 <355>; 121, 1 <17>; 125, 385 <393>; 126, 158 <168>; 129, 284 <298>; 132, 195 <232 f. Rn. 87>; stRspr). Die Folgenabwägung gemäß § 32 BVerfGG stützt sich mithin auf eine bloße Einschätzung der Entscheidungswirkungen (vgl. nur BVerfGE 94, 166 <217>).

2. Die Verfassungsbeschwerde ist hier weder von vornherein unzulässig noch offensichtlich unbegründet. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass die Auswertung der sichergestellten technischen Geräte und Datenträger im Rahmen des Sichtungsverfahrens nach § 110 StPO den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG verletzt.

3. Bei der somit erforderlichen Folgenabwägung überwiegen die Gründe für den Erlass der einstweiligen Anordnung.

Erginge die einstweilige Anordnung nicht, erwiese sich die Verfassungsbeschwerde später aber als begründet, könnte die Staatsanwaltschaft in der Zwischenzeit eine Auswertung der sichergestellten Gegenstände und Daten vornehmen, ohne hierzu berechtigt zu sein. Darin läge ein irreparabler Eingriff in das Recht des Beschwerdeführers auf informationelle Selbstbestimmung. Denn dieses Recht gewährleistet gerade die Befugnis des Einzelnen, grundsätzlich selbst über die Preisgabe und Verwendung seiner persönlichen Daten zu bestimmen (vgl. BVerfGE 142, 234 <251 Rn. 30> m.w.N.; stRspr).

Erginge dagegen die einstweilige Anordnung, erwiese sich die Verfassungsbeschwerde später jedoch als unbegründet, würde damit lediglich eine Verzögerung der staatsanwaltlichen Ermittlungen für eine begrenzte Zeitspanne einhergehen. Ein Beweisverlust hinsichtlich der Informationen aus den sichergestellten Gegenständen und Daten wäre nicht zu befürchten. Auch der Eintritt von Verfolgungsverjährung droht gegenwärtig nicht. Bei Abwägung der jeweiligen Folgen wiegen die möglichen Nachteile für den Beschwerdeführer im Ergebnis schwerer als die durch den Erlass der einstweiligen Anordnung eintretende vorübergehende Beschränkung der staatlichen Strafverfolgung.

HRRS-Nummer: HRRS 2018 Nr. 464

Bearbeiter: Holger Mann