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HRRS-Nummer: HRRS 2018 Nr. 293

Bearbeiter: Holger Mann

Zitiervorschlag: BVerfG, 2 BvR 108/18, Beschluss v. 21.03.2018, HRRS 2018 Nr. 293


BVerfG 2 BvR 108/18 (2. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 21. März 2018 (OLG Koblenz)

Auslieferung an Weißrussland zum Zwecke der Strafverfolgung (weißrussischer Staatsangehöriger; Anerkennung subsidiären Schutzes in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union als gewichtiges Indiz gegen die Zulässigkeit der Auslieferung; Entkräftung durch völkerrechtlich verbindliche Zusicherungen); Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde (ausreichende Begründung; Vorlage entscheidungserheblicher Unterlagen).

Art. 1 Abs. 1 GG; Art. 25 GG; § 23 Abs. 1 Satz 2 BVerfGG, § 92 BVerfGG; § 8 IRG; § 73 IRG; § 4 AsylG

Leitsätze des Bearbeiters

1. Im Auslieferungsverkehr mit einem Drittstaat bindet der Umstand, dass dem Verfolgten in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union subsidiärer Schutz gewährt worden ist und auch gegenwärtig noch gewährt wird, die deutschen Stellen zwar nicht unmittelbar. Er stellt jedoch ein gewichtiges Indiz dafür dar, dass dem Beschwerdeführer eine Behandlung drohen könnte, die seine Auslieferung unzulässig machen würde.

2. Allerdings können die Gründe, auf denen die Gewährung subsidiären Schutzes beruht, namentlich die Gefahr der Verhängung der Todesstrafe sowie einer menschenrechtswidrigen Behandlung im ersuchenden Staat - hier: Weißrussland -, im Auslieferungsverfahren durch die Abgabe völkerrechtlich verbindlicher Zusicherungen entkräftet und ausgeräumt werden.

3. Eine Verfassungsbeschwerde genügt in diesem Fall nur den Begründungsanforderungen, wenn neben den weiteren Auslieferungsunterlagen die vom ersuchenden Staat erteilten Zusicherungen vorgelegt oder in ihrem wesentlichen Inhalt wiedergegeben werden.

Entscheidungstenor

Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.

Gründe

Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Auswirkung der Gewährung subsidiären Schutzes durch einen anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union auf ein nachfolgendes Auslieferungsverfahren in Deutschland.

I.

1. Der Beschwerdeführer ist weißrussischer Staatsangehöriger. Seinen Angaben zufolge floh er im Jahr 2014 nach Belgien und beantragte dort die Gewährung von Asyl. Die belgischen Behörden lehnten zwar den Asylantrag mit der Begründung ab, dass die Voraussetzungen für eine Anerkennung als Flüchtling nicht vorlägen, billigten dem Beschwerdeführer jedoch den Status subsidiären Schutzes nach dem belgischen Ausländergesetz zu.

2. Nach seiner Einreise in die Bundesrepublik Deutschland wurde der Beschwerdeführer am 11. Juni 2017 auf der Grundlage einer INPOL-Ausschreibung der weißrussischen Behörden vorläufig festgenommen. Der Ausschreibung lag ein Haftbefehl der Staatsanwaltschaft des Bezirks Kopyl (Weißrussland) vom 17. Juli 2014 wegen des Verdachts des Mordes zugrunde.

3. Mit Auslieferungshaftbefehl vom 19. Juli 2017 ordnete das Oberlandesgericht Koblenz die vorläufige Auslieferungshaft zur Sicherung der Auslieferung gegen den Beschwerdeführer an.

4. Dem trat der anwaltlich vertretene Beschwerdeführer unter Verweis auf den durch die belgischen Behörden ausgestellten Anerkennungsbescheid entgegen. Unter dem 4. Dezember 2017 stellte der Beschwerdeführer einen Asylantrag in Deutschland und führte zur Begründung aus, er sei nach Belgien geflüchtet, weil Mord in Weißrussland mit der Todesstrafe geahndet und diese auch vollstreckt werde. Zudem sei in Weißrussland ein rechtsstaatliches Verfahren nicht gewährleistet. In einem weiteren Schriftsatz vom 7. Dezember 2017 beantragte der Beschwerdeführer beim Oberlandesgericht Koblenz, das Auslieferungsverfahren bis zur Entscheidung über den Asylantrag auszusetzen. Hilfsweise stellte er den Antrag, dem Europäischen Gerichtshof die Frage vorzulegen, ob ein Mitgliedstaat der Europäischen Union (EU) die Auslieferung wegen eines Sachverhalts anordnen dürfe, dessentwegen der Betroffene in einem anderen Mitgliedstaat der EU den Status subsidiären Schutzes genieße. An die Entscheidung der belgischen Behörden, dem Beschwerdeführer subsidiären Schutz zu gewähren, sei jedes andere Mitglied der EU gebunden.

5. Mit angegriffenem Beschluss vom 11. Dezember 2017 erklärte das Oberlandesgericht Koblenz die Auslieferung des Beschwerdeführers an die Republik Weißrussland für zulässig. Das dem Senat vorliegende förmliche Auslieferungsersuchen enthalte neben den Unterlagen im Sinne des § 10 Abs. 1 IRG eine Erklärung des in Weißrussland zuständigen Generalstaatsanwalts, mit der der ersuchende Staat unter anderem die Beachtung des Spezialitätsgrundsatzes, die Nichtverhängung der Todesstrafe, die Nichtanwendung von Folter oder anderer menschenunwürdiger Behandlungen sowie die durchgehende Beachtung der Europäischen Strafvollzugsgrundsätze in Untersuchungs- und Strafhaft völkerrechtlich verbindlich zugesichert habe. Deutsche Konsularbeamte hätten das Recht, den Beschwerdeführer nach der Auslieferung zu besuchen und die Einhaltung der Zusagen zu überprüfen. Nach Auskunft des Bundesamts für Justiz habe es insoweit in der Vergangenheit keine Probleme gegeben. Mitarbeiter der deutschen Botschaft in Weißrussland würden regelmäßig auch die Haftbedingungen der aus Deutschland ausgelieferten Personen prüfen; Verstöße gegen Zusicherungen seien bisher nicht festgestellt worden.

Auslieferungshindernisse seien nicht ersichtlich: Dass dem Beschwerdeführer in Belgien subsidiärer Schutz gewährt worden sei, begründe für sich allein gesehen kein Auslieferungshindernis. Entgegen der Auffassung des Verfahrensbeistands des Beschwerdeführers sei die Bundesrepublik Deutschland nicht an die belgische Entscheidung gebunden. Etwas anderes ergebe sich auch nicht aus der Richtlinie 2011/95/EU. Sinn und Zweck dieses Regelungswerks sei allein die Harmonisierung der nationalen Rechtsvorschriften zum subsidiären Schutz in den Mitgliedstaaten. Über die Gewährung dieses Schutzes innerhalb seines Staatsgebiets entscheide jeder Staat selbst. Eine gegenseitige Bindung an gerichtliche oder behördliche Entscheidungen sehe die Richtlinie nicht vor. Für die von dem Beschwerdeführer beantragte Anrufung des Europäischen Gerichtshofs gemäß Art. 267 AEUV bestehe keine Veranlassung.

Allerdings liege regelmäßig ein Auslieferungshindernis nach § 8 IRG und/oder § 73 IRG vor, wenn Tatsachen feststellbar seien, die auch zur Anwendung des § 4 AsylG führen könnten. Die Gründe, die die zuständige belgische Behörde bewogen haben dürften, dem Beschwerdeführer subsidiären Schutz zu gewähren, seien jedoch ausgeräumt: Der ersuchende Staat habe völkerrechtlich verbindlich zugesichert, dass der Beschwerdeführer nicht der Todesstrafe ausgesetzt sein werde. Ebenfalls verbindlich sei die Zusicherung von Haftbedingungen, die im Einklang mit den aus der EMRK abgeleiteten Mindestanforderungen stünden, sowie der Nichtanwendung geächteter Handlungen wie Folter. Diese Zusicherungen seien grundsätzlich geeignet, etwaige auf § 8, § 73 Satz 1 IRG gestützte Bedenken gegen die Zulässigkeit der Auslieferung auszuräumen. Konkrete Anhaltspunkte für die Befürchtung, sie würden von Weißrussland, anders als in der Vergangenheit, im vorliegenden Fall nicht eingehalten werden, gebe es nicht.

6. Mit Schriftsatz vom 10. Januar 2018 stellte der Beschwerdeführer einen Antrag auf erneute Entscheidung über die Zulässigkeit der Auslieferung nach § 33 IRG und verwies zur Begründung insbesondere auf die Bindungswirkung der Entscheidung der belgischen Behörden. Es stehe dem Oberlandesgericht nicht zu, dem Beschwerdeführer den gewährten Schutzstatus abzuerkennen.

7. Mit angegriffenem Beschluss vom 31. Januar 2018 erklärte das Oberlandesgericht Koblenz die im Schriftsatz vom 10. Januar 2018 erhobenen Einwände des Beschwerdeführers gegen seine Auslieferung an die Republik Weißrussland für unbegründet. Es handele sich bei der Richtlinie 2011/95/EU nicht um unmittelbar geltendes Recht, sondern um ein Instrument zur Harmonisierung des Rechts der Mitgliedstaaten. Weder im deutschen AsylG noch in einem anderen deutschen Regelungswerk gebe es eine Norm, in der stehe oder aus der abgeleitet werden könne, die Gewährung subsidiären Schutzes in einem anderen EU-Mitgliedstaat stünde der Auslieferung der betroffenen Person durch die Bundesrepublik Deutschland entgegen. Auch das Bundesverfassungsgericht sehe allein in der Gewährung subsidiären Schutzes durch einen anderen Mitgliedstaat kein Auslieferungshindernis (BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 2. Februar 2016 - 2 BvR 2486/15 -).

II.

1. Mit seiner am 19. Januar 2018 fristgerecht eingegangenen Verfassungsbeschwerde wendet sich der Beschwerdeführer gegen die ihm am 19. Dezember 2017 bekannt gemachte Zulässigkeitsentscheidung des Oberlandesgerichts und rügt eine Verletzung von Art. 2 Abs. 2 Satz 2, Art. 3 Abs. 1 in seiner Ausgestaltung als Willkürverbot sowie Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG.

Zur Begründung führt er aus, ihm sei in Belgien wegen des Sachverhalts, dessentwegen er nun ausgeliefert werden solle, der subsidiäre Schutzstatus zuerkannt worden. Dem Oberlandesgericht Koblenz habe zum Zeitpunkt des Erlasses der Zulässigkeitsentscheidung lediglich der Asylbescheid der belgischen Behörden, nicht aber die gesamte Asylakte, vorgelegen. Der Sachverhalt in dem Verfahren, das der Entscheidung der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 2. Februar 2016 in dem Verfahren 2 BvR 2486/15 zugrunde gelegen habe, sei mit dem vorliegenden nicht zu vergleichen, denn dort sei dem Beschwerdeführer wegen eines anderen Strafverfahrens als dem dem Auslieferungsersuchen zugrunde liegenden Verfahren subsidiärer Schutz gewährt worden, sodass die Asylbehörden dort keine Tatverdachtsprüfung durchgeführt hätten.

Das Grundrecht auf Freiheit der Person sei verletzt, weil das Oberlandesgericht keine Tatverdachtsprüfung durchgeführt habe, obwohl der Sachverhalt dazu Anlass gegeben habe. Im Asylverfahren in Belgien habe er ausführlich vorgetragen, warum das in Weißrussland gegen ihn angestrengte Verfahren konstruiert sei; er rege insoweit an, die Asylakten beizuziehen.

2. Mit weiterem Schriftsatz vom 6. März 2018 macht der Beschwerdeführer auch den zwischenzeitlich ergangenen Beschluss des Oberlandesgerichts Koblenz vom 31. Januar 2018 zum Gegenstand seiner Verfassungsbeschwerde. Er rügt weiterhin die unterbliebene Vorlage des Verfahrens an den EuGH sowie die fehlende Tatverdachtsprüfung, für die seiner Ansicht nach die Beiziehung der belgischen Asylakten erforderlich gewesen wäre.

III.

Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen, weil ein Annahmegrund gemäß § 93a Abs. 2 BVerfGG nicht vorliegt. Sie ist unzulässig, wäre aber - auf der Grundlage der der Kammer unvollständig vorliegenden Unterlagen - wohl auch unbegründet.

1. Die Verfassungsbeschwerde ist unzulässig, weil sie den Begründungsanforderungen gemäß § 23 Abs. 1 Satz 2, § 92 BVerfGG nicht genügt.

Das Bundesverfassungsgericht soll durch die Begründung in die Lage versetzt werden, den angegriffenen Hoheitsakt ohne weitere eigene Nachforschungen einer verfassungsgerichtlichen Überprüfung zu unterziehen. Dies setzt bei einer gegen eine gerichtliche Entscheidung gerichteten Verfassungsbeschwerde voraus, dass neben der angegriffenen Entscheidung sämtliche zu deren Verständnis notwendige Unterlagen vorgelegt oder zumindest ihrem Inhalt nach in einer Weise wiedergegeben werden, dass auf dieser Grundlage eine verantwortbare verfassungsrechtliche Beurteilung möglich ist (vgl. BVerfGE 78, 320 <327>; 88, 40 <45>; 93, 266 <288>). Der Vortrag des Beschwerdeführers wird diesen Anforderungen nicht gerecht. So hat der Beschwerdeführer es unterlassen, die durch die weißrussischen Behörden erteilten Zusicherungen und sonstigen Auslieferungsunterlagen sowie die durch das Gericht im Beschluss vom 11. Dezember 2017 in Bezug genommene Auskunft des Bundesamtes für Justiz vorzulegen oder inhaltlich wiederzugeben. Diese Unterlagen wären aber notwendig, um dem Bundesverfassungsgericht eine abschließende Prüfung der angegriffenen Zulässigkeitsentscheidung zu ermöglichen. Insoweit kann insbesondere nicht abschließend entschieden werden, ob auf der Grundlage der von den weißrussischen Behörden vorgelegten Unterlagen eine Tatverdachtsprüfung angezeigt gewesen wäre.

2. a) Die Ausführungen des Oberlandesgerichts zu der Bindungswirkung des Anerkennungsbescheids der belgischen Asylbehörde für das Auslieferungsverfahren in Deutschland begegnen allerdings Bedenken. Der Umstand, dass dem Beschwerdeführer in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union auf Grundlage auch für die Bundesrepublik Deutschland verbindlicher unions- und völkerrechtlicher Vorgaben subsidiärer Schutz gewährt worden ist und nach seinem nicht überprüften Vortrag auch gegenwärtig noch gewährt wird, bindet deutsche Stellen zwar nicht unmittelbar. Es stellt jedoch ein gewichtiges Indiz dafür dar, dass dem Beschwerdeführer eine Behandlung drohen könnte, die seine Auslieferung unzulässig machen würde (vgl. BVerfGE 52, 391 <405 f.>, BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 2. Februar 2016 - 2 BvR 2486/15 -, juris, Rn. 21).

b) Dennoch ist die Bewertung des Oberlandesgerichts, dass die Gründe, auf die der Beschwerdeführer sowohl in Deutschland als auch - ausweislich des vorliegenden Anerkennungsbescheids - in Belgien seinen Asylantrag gestützt hat, namentlich die Gefahr der Verhängung der Todesstrafe sowie einer menschenrechtswidrigen Behandlung in Weißrussland, mit den im Auslieferungsverfahren abgegebenen völkerrechtlich verbindlichen Zusicherungen entkräftet und im Ergebnis ausgeräumt worden sind, verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Das gilt auch mit Blick auf die in Art. 2 lit. f) in Verbindung mit Art. 15 der Richtlinie 2011/95/EU genannten Voraussetzungen für die Zuerkennung subsidiären Schutzes - die Gefahr eines ernsthaften Schadens in Gestalt der Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe, Folter oder einer menschenrechtswidrigen Behandlung.

3. Von einer weiteren Begründung wird nach § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

HRRS-Nummer: HRRS 2018 Nr. 293

Bearbeiter: Holger Mann