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HRRS-Nummer: HRRS 2018 Nr. 215

Bearbeiter: Christian Becker

Zitiervorschlag: BGH, 3 StR 526/17, Beschluss v. 29.11.2017, HRRS 2018 Nr. 215


BGH 3 StR 526/17 - Beschluss vom 29. November 2017 (LG Krefeld)

Rechtsfehlerhafte Ablehnung eines auf Einholung eines psychiatrischen Sachverständigengutachtens gerichteten Beweisantrags wegen völliger Ungeeignetheit des Beweismittels (Anknüpfungstatsachen; Beweisgrundlage; eigene Sachkunde).

§ 244 StPO

Leitsatz des Bearbeiters

Ein Sachverständiger ist als völlig ungeeignetes Beweismittel anzusehen, wenn es an den Grundlagen für eine Gutachtenerstattung mangelt, weil die erforderlichen Anknüpfungstatsachen fehlen, auf denen die sachverständige Beurteilung aufbauen muss. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn sich der Sachverständige nach Inhalt oder Sinn des Beweisantrags auf Tatsachen stützen müsste, die das Gericht bereits als Beweisgrundlage ausgeschlossen hat. Hat das Gericht die entsprechenden Tatsachen hingegen zu Grunde gelegt, aus ihnen jedoch andere Schlüsse gezogen, scheidet eine Ablehnung wegen Ungeeignetheit demgegenüber in der Regel aus.

Entscheidungstenor

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Krefeld vom 15. Mai 2017 im Strafausspruch mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Die weitergehende Revision wird verworfen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen versuchten Mordes in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren verurteilt. Die dagegen gerichtete, auf eine Verfahrensbeanstandung und die allgemeine Sachrüge gestützte Revision des Angeklagten hat mit der Verfahrensrüge in dem aus der Entscheidungsformel ersichtlichen Umfang Erfolg; im Übrigen ist sie unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.

I. Dem Urteil liegen im Wesentlichen folgende Feststellungen und Wertungen zugrunde:

1. Es kam zunächst zu einer Auseinandersetzung zwischen dem Angeklagten und dem Zeugen T., in deren Verlauf T. eine Bierflasche auf dem Kopf des Angeklagten zerschlug und ihm dadurch Schnittverletzungen am Hals sowie an einem Ohrläppchen zufügte. Anschließend flüchtete T., ohne zu bemerken, dass er bei der Auseinandersetzung sein Handy verloren hatte. Während der Angeklagte später im Krankenhaus behandelt wurde, kam es zwischen ihm und T. zu einem Telefongespräch, bei dem beide vereinbarten, dass T. sein Handy im Krankenhaus abholen solle. Als T. im Krankenhaus eingetroffen war und dort mitgeteilt hatte, dass er sich sein Handy geben lassen wolle, setzte der Pfleger, der dem Angeklagten gerade einen Verband angelegt hatte, diesen davon in Kenntnis. Der Angeklagte steckte daraufhin in einem unbeobachteten Moment eine Schere aus dem Behandlungszimmer ein und verbarg sie unter seiner Jacke. Er hatte spätestens jetzt den Entschluss gefasst, T. mit der Schere anzugreifen, um sich für die zuvor erlittenen Verletzungen und Demütigungen zu rächen.

Der Pfleger begleitete den Angeklagten sodann in Richtung Ausgang. Währenddessen verbarg der Angeklagte die Schere weiterhin unter seiner Jacke, weil der Pfleger nicht bemerken sollte, dass er die Schere mitgenommen hatte, und weil T. sich in Sicherheit wiegen sollte. Ihm war bewusst, dass T. nur sein Handy abholen wollte, auf dem Flur des Krankenhauses nicht mit einem Angriff rechnete und deshalb zumindest nur eingeschränkt abwehrbereit war; das wollte er ausnutzen.

Auf dem Flur ging der Angeklagte ruhigen Schrittes auf T. zu. Als er nur noch wenige Schritte von ihm entfernt war, zog er mit einer schnellen Bewegung die Schere unter der Jacke hervor und stach mehrmals kräftig mit der Spitze der geschlossenen Scherenklingen auf Hals und Kopf von T. ein.

Dabei hielt er es für möglich, T. tödlich zu verletzen, und nahm dies billigend in Kauf. Nachdem T. zunächst erfolglos versucht hatte, den Angriffen auszuweichen, konnte er schließlich in einen Kopierraum flüchten und die Tür zu diesem schließen, ehe der Angeklagte ihm zu folgen vermochte. Da es dem Angeklagten nicht gelang, die Tür zu öffnen, und inzwischen ein Teil des Plastikgriffs der Schere abgebrochen war, sah er seinen Angriff schließlich als gescheitert an. T. hatte sich durch die Stiche mit der Schere unter anderem eine stark blutende Wunde am Hals zugezogen; er erlitt einen hohen Blutverlust, eine Arterie war allerdings nicht getroffen worden.

2. Der aus Algerien stammende Angeklagte, der über die sog. Balkanroute nach Deutschland gelangt war, hatte sowohl in seinem Heimatland als auch auf dem Weg nach Deutschland wiederholt „Gewalterfahrungen“ gemacht. In Algerien war er von Kriminellen ausgeraubt und von Polizeibeamten mit Strom gefoltert worden; auf dem Weg über den Balkan hatten ihm beispielsweise in Mazedonien Mitglieder der albanischen Mafia unter Vorhalt von Waffen Geld und Kleidung weggenommen.

Die Einlassung des Angeklagten, die Schere lediglich zum Schutz mitgenommen zu haben, weil er es für möglich gehalten habe, dass T. ihn erneut angreifen werde, und dann mit einem unvermittelten Angriff gerechnet zu haben, als ihm T. mit nach hinten gezogener Baseballkappe und mit den Händen in den Taschen entgegen gekommen sei, weil dies im nordafrikanischen Raum ein Zeichen von Aggressivität sowie eines bevorstehenden Angriffs darstelle und auf einmal seine Gewalterfahrungen aus Algerien „wieder hochgekommen“ seien, hat die Strafkammer als widerlegt angesehen. Sie ist ferner davon ausgegangen, dass der Angeklagte zur Tatzeit uneingeschränkt schuldfähig war; insbesondere habe sich kein tragfähiger Anhaltspunkt dafür ergeben, dass sich die von ihm geschilderten Gewalterfahrungen in der Tat manifestiert hätten.

II. Die auf die Sachrüge gebotene umfassende Überprüfung des Urteils hat keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben. Jedoch führt die Verfahrensrüge zur Aufhebung des Strafausspruchs.

1. Der Rüge liegt folgendes Prozessgeschehen zugrunde:

In der Hauptverhandlung beantragte die Verteidigerin, ein psychiatrisches Sachverständigengutachten einzuholen zum Beweis der Tatsachen, dass der Angeklagte aufgrund seiner Gewalt- und Angsterfahrungen in der Heimat sowie auf dem Weg von Algerien nach Deutschland zum Tatzeitpunkt unter einer akuten Belastungsstörung gelitten habe, dass er vor diesem Hintergrund eine panische Angst vor einem lebensgefährlichen Angriff auf sich entwickelt habe, als T. auf dem Krankenhausflur mit den Händen in den Hosentaschen auf ihn zugekommen sei, dass es infolgedessen zu einer tiefgreifenden Bewusstseinsstörung in Form eines Affektsturms gekommen sei, dem aus psychiatrischer Sicht nicht entgegenstehe, dass der Angeklagte ruhigen Schrittes auf T. zugegangen sei, und dass das Vorliegen der medizinischen Voraussetzungen einer verminderten Schuldfähigkeit im Sinne des § 21 StGB deshalb nicht auszuschließen sei. Die Strafkammer lehnte den Antrag mit der Begründung ab, dass der Sachverständigenbeweis völlig ungeeignet sei (§ 244 Abs. 3 Satz 2 StPO), weil es an den erforderlichen Anknüpfungstatsachen fehle. Der Sachverständige müsste sein Gutachten nach Inhalt und Sinn des Beweisantrags auf Tatsachen stützen, die das Gericht bereits als Beweisgrundlage ausgeschlossen habe. Das Vorliegen der akuten Belastungsstörung sowie panischer Angst bzw. eines Affektsturms im Tatzeitpunkt werde unter Bezugnahme auf die Einlassung des Angeklagten zum Tathergang behauptet, welcher das Landgericht bei vorläufiger Würdigung des Beweisergebnisses jedoch nicht folge. Insbesondere aus Videoaufnahmen vom Krankenhausflur und aus den Angaben des Pflegers ergebe sich vielmehr, dass der Angeklagte ruhigen Schrittes auf T. zugegangen sei und keine Anzeichen eines panik- oder affektgesteuerten Verhaltens gezeigt habe.

Daraufhin wiederholte die Verteidigerin unter Schilderung einer Vielzahl von „Gewalterfahrungen“ des Angeklagten im Einzelnen ihren Antrag auf Einholung eines psychiatrischen Sachverständigengutachtens, insbesondere zum Beweis dafür, dass das auf den Videoaufnahmen erkennbare und von den Zeugen geschilderte „ruhige“ Verhalten des Angeklagten aus psychiatrischer Sicht eine erhebliche Verminderung seiner Schuldfähigkeit aufgrund des behaupteten psychischen Befundes nicht ausschließe. Die Strafkammer lehnte den Antrag wiederum wegen völliger Ungeeignetheit des Sachverständigenbeweises (§ 244 Abs. 3 Satz 2 StPO) ab und führte zur Begründung aus: Die in dem erneuten Antrag vorgebrachten Angaben des Angeklagten zu seinen Gewalterfahrungen habe sie schon bei ihrer früheren Beschlussfassung in ihre vorläufige Beweiswürdigung einbezogen. Sie schließe nach wie vor aus, dass die Angsterfahrungen dem Angeklagten im Tatzeitpunkt gegenwärtig gewesen seien und er einen Angriff von T. erwartet habe.

2. Die in zulässiger Weise erhobene (§ 344 Abs. 2 Satz 2 StPO) Rüge ist begründet.

a) Das Landgericht hat den auf Einholung eines psychiatrischen Sachverständigengutachtens gerichteten Beweisantrag zu Unrecht wegen völliger Ungeeignetheit des Beweismittels (§ 244 Abs. 3 Satz 2 StPO) abgelehnt. Die Strafkammer ist zwar zutreffend davon ausgegangen, dass ein Sachverständiger als völlig ungeeignetes Beweismittel anzusehen ist, wenn es an den Grundlagen für eine Gutachtenerstattung mangelt, weil die erforderlichen Anknüpfungstatsachen fehlen, auf denen die sachverständige Beurteilung aufbauen muss. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn sich der Sachverständige nach Inhalt oder Sinn des Beweisantrags auf Tatsachen stützen müsste, die das Gericht bereits als Beweisgrundlage ausgeschlossen hat (vgl. zu allem LR/Becker, StPO, 26. Aufl., § 244 Rn. 238 mwN).

So verhielt es sich hier entgegen der Ansicht des Landgerichts aber nicht. Als Anknüpfungstatsachen standen dem Sachverständigen einerseits die von dem Angeklagten geschilderten Gewalt- und Angsterfahrungen sowie andererseits sein vor der Tatausführung an den Tag gelegtes ruhiges Verhalten zur Verfügung. Beides hatte die Strafkammer nicht als Beweisgrundlage ausgeschlossen. Die Angaben des Angeklagten zu seinen Gewalt- und Angsterfahrungen hat sie nicht für unglaubhaft erachtet, sondern ihren Feststellungen zugrunde gelegt. Ebenso ist sie aufgrund von Videoaufnahmen und Zeugenangaben davon ausgegangen, dass sich der Angeklagte ruhig und unauffällig verhielt, als er auf T. zuging. Die Strafkammer hat daraus lediglich andere Schlussfolgerungen gezogen als diejenigen, die mit dem Beweisantrag in das Wissen eines Sachverständigen gestellt worden sind.

Der Sache nach hat die Strafkammer den Beweisantrag letztlich aufgrund von Erwägungen abgelehnt, die sie aufgrund eigener Sachkunde angestellt hat. Sie hat sich indes weder auf eigene Sachkunde berufen (§ 244 Abs. 4 Satz 1 StPO) noch belegt, dass sie über die erforderliche eigene Sachkunde verfügt.

b) Auf der fehlerhaften Ablehnung des Beweisantrags beruht der Strafausspruch.

Der Schuldspruch bleibt von dem Rechtsfehler hingegen unberührt. Insbesondere ist auszuschließen, dass die von dem Angeklagten behauptete psychische Beeinträchtigung seine Schuldfähigkeit hätte aufheben bzw. seinen Tötungsvorsatz oder sein Bewusstsein, die Arg- und Wehrlosigkeit des Geschädigten auszunutzen, hätte in Frage stellen können.

HRRS-Nummer: HRRS 2018 Nr. 215

Externe Fundstellen: NStZ 2018, 300; StV 2018, 699

Bearbeiter: Christian Becker