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HRRS-Nummer: HRRS 2018 Nr. 206

Bearbeiter: Holger Mann

Zitiervorschlag: BVerfG, 2 BvR 1362/16, Beschluss v. 25.01.2018, HRRS 2018 Nr. 206


BVerfG 2 BvR 1362/16 (2. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 25. Januar 2018 (LG München I)

Anspruch auf rechtliches Gehör in einem Ermittlungsverfahren wegen wettbewerbsbeschränkender Rabatte bei der Vermarktung von Werbezeiten (Einsicht in die Ermittlungsakten durch einen konkurrierenden Fernsehveranstalter; Abänderung einer Entscheidung zum Nachteil des durch diese Begünstigten nur nach Gewährung rechtlichen Gehörs; Umfang des Äußerungsrechts wie bei Beteiligten in erster Instanz; Gehörsanspruch bereits bei unmittelbarer rechtlicher Betroffenheit von einer Gerichtsentscheidung; Verletzteneigenschaft als Voraussetzung nur des Akteneinsichtsrechts, nicht des Gehörsanspruchs); Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde (Beginn der Monatsfrist erst mit Abschluss eines Anhörungsrügeverfahrens; Statthaftigkeit der Beschwerde gegen eine Entscheidung über die Anhörungsrüge).

Art. 103 Abs. 1 GG; § 93 Abs. 1 BVerfGG; § 308 Abs. 1 Satz 1 StPO; § 406e Abs. 1 StPO; § 475 Abs. 2 StPO; § 299 StGB

Leitsätze des Bearbeiters

1. Will ein Gericht eine Entscheidung abändern und greift es dadurch in die Rechtsstellung des durch die Entscheidung Begünstigten ein, so muss dieser Gelegenheit erhalten, sich in Kenntnis der dem Gericht vorliegenden Stellungnahme der Gegenseite umfassend zur Sach- und Rechtslage zu äußern. Der Umfang des Äußerungsanspruchs entspricht in diesem Fall dem eines vom Gericht noch nicht angehörten Beteiligten in erster Instanz und hängt nicht davon ab, ob neue Tatsachen oder Beweisergebnisse vorhanden sind. Diese Vorgaben finden ihren Niederschlag in § 308 Abs. 1 Satz 1 StPO.

2. Weist das Beschwerdegericht in einem Ermittlungsverfahren wegen wettbewerbsbeschränkender Rabatte bei der Vermarktung von Werbezeiten auf die Beschwerde des Beschuldigten den von der Vorinstanz teilweise bewilligten Akteneinsichtsantrag eines konkurrierenden Fernsehveranstalters vollständig zurück, so verletzt es dessen Anspruch auf rechtliches Gehör, wenn es ihm nicht zuvor das Beschwerdevorbringen des Beschuldigten zur Kenntnis gegeben hat.

3. Dabei ist ohne Bedeutung, ob der Fernsehveranstalter Verletzter im Sinne des § 406e Abs. 1 StPO ist. Die Verletzteneigenschaft ist zwar Voraussetzung für ein Akteneinsichtsrecht; sie bestimmt jedoch nicht das hierbei zu beachtende Verfahren. Anspruch auf rechtliches Gehör hat vielmehr jeder, der an einem gerichtlichen Verfahren beteiligt ist oder unmittelbar rechtlich von dem Verfahren betroffen wird und dem gegenüber die Entscheidung materiell-rechtliche Wirkung entfaltet.

4. Für den Lauf der Monatsfrist zur Erhebung der Verfassungsbeschwerde kommt es auf die den Rechtsweg abschließende Entscheidung an. Zum Rechtsweg gehört grundsätzlich auch die Erhebung eine Anhörungsrüge, soweit diese nicht aussichtslos ist. Ist gegen die auf die Anhörungsrüge ergangene Entscheidung die Beschwerde statthaft, so ist auch das Beschwerdeverfahren durchzuführen.

5. Entscheidungen nach den §§ 33a, 311a StPO sind mit der Beschwerde anfechtbar, wenn die nachträgliche Gewährung des rechtlichen Gehörs versagt wird. Hiervon ist auszugehen, wenn das über die Gehörsrüge befindende Gericht zwar erneut eine Sachentscheidung trifft, ohne jedoch dem Beschwerdeführer zuvor die Schriftsätze der Gegenseite ihrem vollen Inhalt nach bekannt gemacht und Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben zu haben.

Entscheidungstenor

Die Beschlüsse des Landgerichts München I vom 3. Juli 2015 - 4 Qs 2/15, 4 Qs 3/15, 4 Qs 4/15, 4 Qs 5/15, 4 Qs 8/15, 4 Qs 9/15, 4 Qs 10/15 - verletzen die Beschwerdeführerin jeweils in ihrem grundrechtsgleichen Recht aus Artikel 103 Absatz 1 des Grundgesetzes. Sie werden aufgehoben. Die Sache wird an das Landgericht München I zurückverwiesen.

Der Freistaat Bayern hat der Beschwerdeführerin ihre notwendigen Auslagen zu erstatten.

Der Wert des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit im Verfassungsbeschwerdeverfahren wird auf 10.000 Euro (in Worten: zehntausend Euro) festgesetzt.

Gründe

Die Verfassungsbeschwerde betrifft den Anspruch auf rechtliches Gehör.

A.

I.

Die Beschwerdeführerin, die ein werbefinanziertes Fernsehprogramm veranstaltet, führt vor dem Landgericht Düsseldorf einen Auskunfts- und Schadensersatzprozess gegen die S. GmbH (im Folgenden: S.), die für andere Fernsehsender Werbezeiten vermarktet. Die S. gewährte in den Jahren 2005 bis 2007 Media-Agenturen, also Unternehmen, die im Auftrag der werbetreibenden Industrie Werbezeiten im Fernsehen buchen, wettbewerbsbeschränkende Rabatte, die den Zugang zum Werbemarkt für andere Fernsehveranstalter erschwerten. Wegen der Kartellrechtswidrigkeit des praktizierten Rabattsystems setzte das Bundeskartellamt gegen die S. mit Bußgeldbescheid vom 27. November 2007 eine Geldbuße fest. Parallel leitete die Staatsanwaltschaft München I ein Ermittlungsverfahren gegen den Geschäftsführer und weitere Angestellte der S. sowie gegen verantwortliche Mitarbeiter von Media-Agenturen wegen des Vorwurfs der Untreue, der Beihilfe zur Untreue sowie wegen Bestechung und Bestechlichkeit im geschäftlichen Verkehr ein. Das Verfahren wurde im Hinblick auf § 30 Abs. 1 OWiG auch auf die S. und verschiedene Media-Agenturen erweitert. Am 10. November 2009 stellte die Staatsanwaltschaft München I das Verfahren nach § 153 Abs. 1 StPO und § 47 OWiG ein.

Im Dezember 2009 beantragte die Beschwerdeführerin durch ihren Rechtsanwalt unter Berufung auf § 406e StPO und § 475 Abs. 2 StPO Einsicht in die Ermittlungsakten. Die Staatsanwaltschaft München I gab dem Antrag mit Verfügung vom 12. Juli 2012 nur teilweise statt. Gegen diese Verfügung stellten die Beschwerdeführerin, die S. sowie weitere Beschuldigte und Nebenbeteiligte des (eingestellten) Verfahrens Anträge auf gerichtliche Entscheidung, worauf die Staatsanwaltschaft München I mit Verfügung vom 15. November 2012 die Akteneinsicht weiter einschränkte. Mit Beschluss vom 15. Januar 2015 bestätigte das Amtsgericht München die Entscheidung der Staatsanwaltschaft in ihren beiden Verfügungen vom 12. Juli 2012 und 15. November 2012 und wies die Anträge auf Abänderung der Entscheidung zurück.

Gegen den Beschluss des Amtsgerichts legten die S. und weitere sechs (ehemals) Beschuldigte Beschwerde ein. Das Landgericht München I teilte daraufhin das Verfahren - nach Nichtabhilfe der Beschwerde durch das Amtsgericht - in sieben Einzelverfahren auf. Weder der Umstand, dass Beschwerden eingelegt wurden, noch die Beschwerdebegründungen wurden der hiesigen Beschwerdeführerin mitgeteilt. In den Beschwerdebegründungen wurde unter anderem darauf abgestellt, dass die Schadensersatzklagen anderer „Nischensender“ gegen die S. von dem Landgericht München I rechtskräftig abgewiesen worden seien und daher zu erwarten sei, dass der durch das Landgericht Düsseldorf zwischenzeitlich beauftragte Sachverständige in dem zwischen der Beschwerdeführerin und der S. geführten Rechtsstreit ebenfalls zu dem Ergebnis kommen werde, ein Schaden auf Seiten der Beschwerdeführerin sei unwahrscheinlich. Dieser Umstand sei im Rahmen der Abwägung zu Gunsten der S. zu berücksichtigen. Die Gewährung von Akteneinsicht würde der zivilgerichtlichen Entscheidung vorgreifen und laufe auf eine unzulässige Ausforschung hinaus.

Mit nahezu gleichlautenden Beschlüssen vom 3. Juli 2015, der Beschwerdeführerin zugegangen am 13. Juli 2015, hob das Landgericht München I die Verfügung der Staatsanwaltschaft München I vom 12. Juli 2012 in der Form der Verfügung vom 15. November 2012 und den Beschluss des Amtsgerichts München vom 15. Januar 2015 auf und wies den Antrag der Beschwerdeführerin auf Akteneinsicht als unbegründet zurück. Das Landgericht beanstandete, dass das Amtsgericht nicht die seit den Verfügungen der Staatsanwaltschaft veränderte Sachlage berücksichtigt und sich nicht mit den hierauf abstellenden Beschwerdebegründungen auseinandergesetzt habe. Ungeachtet der Tatsache, dass in dem Schadensersatzprozess zwischen der Beschwerdeführerin und der S. ein Urteil noch ausstehe, hätte das Amtsgericht die in vergleichbaren Schadensersatzprozessen bereits ergangenen rechtskräftigen klageabweisenden Urteile in seiner Nichtabhilfeentscheidung beachten und eine erneute Abwägung und Gewichtung der widerstreitenden Interessen durchführen müssen. Weiter vertrat das Landgericht die Auffassung, dass die Beschwerdeführerin mangels unmittelbarer Rechtsgutsverletzung - § 299 StGB bewirke als abstraktes Gefährdungsdelikt allenfalls einen reflexartigen Schutz der Mitbewerber - schon nicht Verletzte im Sinne von § 406e Abs. 1 StPO sei, jedenfalls aber nach § 406e Abs. 2 Satz 1 StPO und § 475 Abs. 1 Satz 2 StPO überwiegende schutzwürdige Interessen der Beschuldigten und Nebenbetroffenen der Akteneinsicht entgegenstünden. Das Interesse der Beschwerdeführerin an einer Akteneinsicht zum Zwecke der Verfolgung nur möglicherweise bestehender zivilrechtlicher Ansprüche sei angesichts der bereits lange zurückliegenden Einstellung des Ermittlungsverfahrens nach § 153 Abs. 1 StPO und § 47 OWiG sowie der in anderen Schadensersatzprozessen ergangenen rechtskräftigen klageabweisenden Urteile nicht besonders hoch. Bei der Frage nach einem möglicherweise bestehenden materiellen Schaden auf Seiten der Beschwerdeführerin müssten die rechtskräftigen klageabweisenden Urteile in den anderen Schadensersatzprozessen insoweit prognostisch Berücksichtigung finden, als sie das Bestehen von Schadensersatzansprüchen der Beschwerdeführerin und einen Erfolg des noch anhängigen Rechtsstreits „zumindest sehr fraglich und fernliegend erscheinen“ ließen, so dass das berechtigte Interesse der Beschwerdeführerin sehr vage sei und hinter den entgegenstehenden schutzwürdigen Interessen der Beschuldigten und Nebenbeteiligten zurückzutreten habe. Solange das vom Landgericht Düsseldorf in Auftrag gegebene Sachverständigengutachten nicht zu dem Ergebnis komme, dass der Beschwerdeführerin ein Schaden entstanden sei, laufe eine Akteneinsicht auf eine unzulässige Ausforschung hinaus.

Am 12. August 2015 stellte die Beschwerdeführerin Antrag nach § 33a Satz 1 StPO. Ohne der Beschwerdeführerin die Beschwerden und deren Begründungen zu übermitteln, verwarf das Landgericht München I mit Beschluss vom 25. November 2015 die Gehörsrüge als unzulässig. Die Rüge nach § 33a StPO sei gegenüber dem Verfahren nach § 311a StPO subsidiär und daher unzulässig. Für eine Anhörung nach § 311a StPO bestehe kein Rechtsschutzbedürfnis, da die Beschwerdeführerin mangels Verletzteneigenschaft nicht „Gegner“ im Sinne von § 308 Abs. 1 Satz 1, § 311a Abs. 1 Satz 1 StPO sei. Auch soweit die Beschwerdeführerin Antragstellerin im Sinne des § 475 Abs. 1 StPO und damit nicht am Verfahren beteiligte „Privatperson“ sei, fehle es an einem Rechtsschutzbedürfnis für ein Nachverfahren nach § 311a StPO, ganz abgesehen davon, dass sie als nicht am Verfahren beteiligte „Privatperson“ erst recht nicht „Gegner“ im Sinne von § 308 Abs. 1 Satz 1, § 311a Abs. 1 Satz 1 StPO sei. Im Übrigen ergäben sich „auch unter Berücksichtigung des Vorbringens in den Gehörsrügen und unter erneuter sorgfältiger Prüfung durch die Kammer […] weiterhin keine Anhaltspunkte, die Entscheidungen abzuändern oder aufzuheben“. Die Beschlüsse entsprächen der Sach- und Rechtslage.

Gegen den Beschluss des Landgerichts vom 25. November 2015 legte die Beschwerdeführerin am 3. Dezember 2015 Beschwerde ein, die das Oberlandesgericht München am 24. Mai 2016 als unzulässig verwarf. Obwohl die Strafkammer die Gehörsrüge als unzulässig verworfen habe, habe sie das Nachverfahren nach § 311a StPO durchgeführt und in der Sache entschieden. Die Strafkammer habe sich inhaltlich mit den Argumenten der Beschwerdeführerin auseinandergesetzt, sie allerdings nicht als stichhaltig angesehen. Diese Überprüfungsentscheidung sei unanfechtbar. Der Beschluss ging der Beschwerdeführerin am 6. Juni 2016 zu.

II.

Mit ihrer am 13. August 2015 eingegangenen und am 27. Juni 2016 - im Hinblick auf den Beschluss des Oberlandesgerichts München vom 24. Mai 2016 - ergänzend begründeten Verfassungsbeschwerde wendet sich die Beschwerdeführerin gegen die Beschlüsse des Landgerichts München I vom 3. Juli 2015 und rügt eine Verletzung des Willkürverbots aus Art. 3 Abs. 1 GG und des Art. 103 Abs. 1 GG. Das Landgericht habe in willkürlicher Weise sowohl die Verletzteneigenschaft im Sinne von § 406e Abs. 1 StPO verneint als auch ein überwiegendes schutzwürdiges Interesse der S. und der anderen Beschwerdeführer des Ausgangsverfahrens angenommen. Des Weiteren habe das Landgericht ihr weder im Beschwerde- noch im Anhörungsrügeverfahren die Beschwerden gegen den Beschluss des Amtsgerichts München vom 15. Januar 2015 und deren Begründungen zugänglich gemacht. Sie habe daher keine Gelegenheit gehabt, sich zu dem Beschwerdevorbringen zu äußern.

III.

Das Bayerische Staatsministerium der Justiz hat von einer Stellungnahme abgesehen. Der Generalbundesanwalt erachtet die Verfassungsbeschwerde für begründet, soweit eine Verletzung des Art. 103 Abs. 1 GG gerügt wird; im Übrigen hält er sie für unbegründet. Die weiteren Äußerungsberechtigten tragen im Wesentlichen wie folgt vor: Die Verfassungsbeschwerde sei schon unzulässig. Die Beschwerde gegen den Beschluss des Landgerichts München I vom 25. November 2015 sei offensichtlich unzulässig und damit nicht geeignet, den Ablauf der mit dieser Entscheidung in Gang gesetzten Monatsfrist des § 93 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG zu verhindern. Insoweit sei zu berücksichtigen, dass sich das Landgericht „vollumfänglich mit dem Sach- und Rechtsvortrag“ in der Gehörsrüge befasst und damit eine Sachentscheidung getroffen habe. Der Beschwerdeführerin sei folglich rechtliches Gehör durch das Landgericht gewährt worden. Darüber hinaus habe die Beschwerdeführerin - nachdem ihr im Rahmen des Verfassungsbeschwerdeverfahrens die Beschwerdebegründungen zugegangen seien - nicht hinreichend dargelegt, was sie bei deren Kenntnis vorgetragen hätte. Die Verfassungsbeschwerde sei aber auch unbegründet, insbesondere liege kein Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG vor. Die Beschwerden und Beschwerdebegründungen enthielten keinerlei rechtliches oder tatsächliches Vorbringen, das der Beschwerdeführerin nicht ohnehin bereits bekannt gewesen oder jedenfalls durch die Zustellung der angegriffenen Beschlüsse, die den Beschwerdevortrag jeweils im Wesentlichen zusammenfassen würden, bekannt geworden und das zugleich auch entscheidungserheblich gewesen sei. Im Übrigen sei ein etwaiger Gehörsverstoß jedenfalls durch die Entscheidung des Landgerichts vom 25. November 2015 geheilt worden. Die Beschwerdeführerin habe im Anhörungsrügeverfahren Gelegenheit zur Äußerung gehabt. Das Landgericht habe sich mit ihrem Vorbringen auch auseinandergesetzt, jedoch an seiner Rechtsauffassung festgehalten. Vorliegend sei es ausschließlich um Rechtsfragen gegangen, zu denen sich das Landgericht eine abschließende Meinung gebildet habe.

Dem Bundesverfassungsgericht haben die Akten des Ausgangsverfahrens vorgelegen.

B.

Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr statt, weil dies zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechte der Beschwerdeführerin angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 Buchst. b BVerfGG); die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen sind durch das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden (§ 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG).

I.

Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig, insbesondere fristgerecht eingelegt und begründet. Für den Lauf der Monatsfrist nach § 93 Abs. 1 BVerfGG kommt es auf den Beschluss des Oberlandesgerichts München vom 24. Mai 2016 an, da zur Erschöpfung des Rechtswegs zunächst eine Anhörungsrüge zu erheben und die Beschwerde an das Oberlandesgericht gegen den die Anhörungsrüge verwerfenden Beschluss des Landgerichts München I vom 25. November 2015 nicht offensichtlich unzulässig war (vgl. BVerfGE 122, 190 <197 f.>). Nach heute überwiegender Auffassung sind Entscheidungen nach §§ 33a, 311a StPO dann mit der Beschwerde anfechtbar, wenn die nachträgliche Gewährung des rechtlichen Gehörs - wie vorliegend - abgelehnt wird (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 10. August 1999 - 2 BvR 184/99 -, NStZ 2000, S. 44 <44>; Kammergericht, Beschluss vom 2. Februar 1966 - 1 Ws 6/66 -, NJW 1966, S. 991 <992>; OLG Celle, Beschluss vom 1. August 2012 - 1 Ws 290/12 u.a. -, NJW 2012, S. 2899 <2900>; Maul, in: Karlsruher Kommentar zur StPO, 7. Aufl. 2013, § 33a Rn. 11 ff.; Zabeck, in: Karlsruher Kommentar zur StPO, 7. Aufl. 2013, § 311a Rn. 13 ff.). Rechtliches Gehör setzt voraus, dass einem Betroffenen die Schriftsätze der Gegenseite ihrem vollen Inhalt nach bekannt gemacht werden und er Gelegenheit zur Stellungnahme erhält. Dies ist vorliegend unterblieben. Von einer sachlichen Überprüfungsentscheidung nach erfolgter nachträglicher Gewährung rechtlichen Gehörs kann entgegen der Auffassung des Oberlandesgerichts München und der Äußerungsberechtigten daher keine Rede sein. Mit Einreichung der Verfassungsbeschwerde am 13. August 2015 und Vorlage der Entscheidung des Oberlandesgerichts München am 27. Juni 2016 hat die Beschwerdeführerin die Monatsfrist des § 93 Abs. 1 BVerfGG eingehalten.

II.

Die Verfassungsbeschwerde ist, soweit die Verletzung von Art. 103 Abs. 1 GG gerügt wird, offensichtlich begründet.

1. Art. 103 Abs. 1 GG sichert den Anspruch auf rechtliches Gehör. Der Einzelne soll nicht nur Objekt der richterlichen Entscheidung sein, sondern vor einer Entscheidung, die seine Rechte betrifft, zu Wort kommen, um als Subjekt Einfluss auf das Verfahren und sein Ergebnis nehmen zu können (BVerfGE 107, 395 <409>). Wenn ein Gericht eine Entscheidung abändern will und dadurch in die Rechtsstellung des durch diese Entscheidung Begünstigten eingreift, muss dieser Gelegenheit erhalten, sich in Kenntnis der dem Gericht vorliegenden Stellungnahme der Gegenseite zumindest einmal umfassend zur Sach- und Rechtslage zu äußern (vgl. BVerfGE 7, 95 <98 f.>; 11, 29 <30>; 14, 54 <56>; 17, 188 <190>; 17, 262 <264 f.>; 34, 157 <159>; 65, 227 <234>; stRspr). Der Umfang des Äußerungsanspruchs entspricht in diesem Fall dem eines vom Gericht noch nicht angehörten Beteiligten in erster Instanz und hängt nicht davon ab, ob neue Tatsachen oder Beweisergebnisse vorliegen (BVerfGE 65, 227 <234>). Diese Maßstäbe finden ihren einfachgesetzlichen Niederschlag im hier relevanten Zusammenhang in § 308 Abs. 1 Satz 1 StPO, wonach das Beschwerdegericht die angefochtene Entscheidung nicht zum Nachteil des Gegners des Beschwerdeführers ändern darf, ohne dass diesem die Beschwerde zur Gegenerklärung mitgeteilt worden ist.

2. Dadurch, dass das Landgericht München I die Verfügungen der Staatsanwaltschaft und den Beschluss des Amtsgerichts aufgehoben und das Akteneinsichtsgesuch der Beschwerdeführerin als unbegründet zurückgewiesen hat, ohne ihr zuvor die Beschwerdeschriften und -begründungen der Beschwerdeführer des Ausgangsverfahrens zur Kenntnis zu geben, hat es nicht nur gegen § 308 Abs. 1 Satz 1 StPO verstoßen, sondern zugleich auch den Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt. Unerheblich ist, ob die Beschwerdeführerin Verletzte im Sinne von § 406e Abs. 1 StPO ist. Die Verletzteneigenschaft ist eine Voraussetzung für die Akteneinsicht nach § 406e Abs. 1 StPO und bestimmt den Inhalt der Beschwerdeentscheidung, nicht aber das hierbei zu beachtende Verfahren. Anspruch auf rechtliches Gehör hat vielmehr jeder, der an einem gerichtlichen Verfahren als Partei oder in ähnlicher Stellung beteiligt ist oder unmittelbar rechtlich von dem Verfahren betroffen wird (BVerfGE 65, 227 <233>; 75, 201 <215>; 101, 397 <404>; stRspr). Unmittelbar betroffen ist neben dem förmlich am Prozess Beteiligten auch derjenige, dem gegenüber die richterliche Entscheidung materiell-rechtlich wirkt (vgl. BVerfGE 60, 7 <13>; 89, 381 <390 f.>; 92, 158 <183>). Dies ist vorliegend der Fall. Durch die angegriffenen stattgebenden Beschlüsse des Landgerichts wird die Entscheidung der Vorinstanz zum Nachteil der Beschwerdeführerin abgeändert, indem ihr die (teilweise) eingeräumte Akteneinsicht wieder entzogen wird. Die Versagung der Akteneinsicht beeinträchtigt unmittelbar die rechtlichen Interessen der Beschwerdeführerin.

3. Die Beschlüsse beruhen auch auf der Gehörsverletzung. Es ist nicht ausgeschlossen, dass die Entscheidungen bei Gewährung rechtlichen Gehörs anders ausgefallen wären (vgl. BVerfGE 11, 29 <30>; 14, 54 <56>; 86, 133 <147>; 89, 381 <392 f.>; stRspr). Aus der Verfassungsbeschwerde geht hinreichend hervor, was die Beschwerdeführerin bei ordnungsgemäßer Gewährung rechtlichen Gehörs vorgebracht hätte. So vertritt sie die Ansicht, aus der Einholung des Sachverständigengutachtens zur Schadenswahrscheinlichkeit folge, dass der Fall nach Auffassung des Landgerichts Düsseldorf gerade nicht mit den vom Landgericht München I bereits entschiedenen Schadensersatzklagen vergleichbar sei. Sie argumentiert ausführlich gegen die Vergleichbarkeit der Fälle und gegen die Einstufung der Akteneinsicht als unzulässige Ausforschung. Anders könnte es sich nur dann verhalten, wenn festzustellen wäre, dass dem Begehren der Beschwerdeführerin ganz unabhängig von jeglichem Vorbringen von Rechts wegen nicht hätte entsprochen werden dürfen. Eine solche Feststellung lässt sich jedoch seitens des Bundesverfassungsgerichts, das die primäre Zuständigkeit der Fachgerichte für die Anwendung und Auslegung des einfachen Rechts zu respektieren hat (vgl. BVerfGE 18, 85 <92>; stRspr) hier nicht treffen (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 15. November 2010 - 2 BvR 1183/09 -, juris, Rn. 31).

4. Der Gehörsverstoß wurde nicht im Rahmen des Anhörungsrügeverfahrens geheilt. Eine Heilung ist - wie bereits ausgeführt - schon deshalb ausgeschlossen, weil der Beschwerdeführerin die Schriftsätze der Gegenseite auch nicht nachträglich ihrem vollen Inhalt nach zur Kenntnis gebracht wurden und sie damit weiter nicht in der Lage war, unter Berücksichtigung des Vortrags der anderen Beteiligten eine eigene Stellungnahme abzugeben. Hieran ändert auch die Wiedergabe der wesentlichen Argumente der Beschwerdebegründungen in den angegriffenen Beschlüssen nichts. Da der Beschwerdeführerin die Beschwerdebegründungen selbst nicht bekannt waren, konnte sie nicht auf die Vollständigkeit und Richtigkeit der Wiedergabe vertrauen, zumal die Gerichte nicht gehalten sind, sich mit jedem rechtlichen und tatsächlichen Vorbringen der Beteiligten ausdrücklich zu befassen (vgl. BVerfGE 79, 51 <61>; 86, 133 <146>). Dementsprechend ging die Beschwerdeführerin auf den Vortrag der Gegenseite, wie er in den angegriffenen Beschlüssen zusammengefasst ist, nicht ein, sondern verlangte die Nachholung rechtlichen Gehörs. Es liegt - mangels Möglichkeit einer Stellungnahme in voller Kenntnis des Beschwerdevorbringens der Gegenseite - folglich keine Situation vor, in der das Landgericht einem Gehörsverstoß durch bloße Rechtsausführungen im Anhörungsrügebeschluss abhelfen konnte (vgl. BVerfGK 15, 116 <119 f.>; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 15. August 2014 - 2 BvR 969/14 -, juris, Rn. 50; Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 15. Juli 2016 - 2 BvR 857/14 -, juris, Rn. 11; Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 14. September 2016 - 1 BvR 1304/13 -, juris, Rn. 28).

III.

Angesichts des festgestellten Verstoßes gegen Art. 103 Abs. 1 GG kann offen bleiben, ob die Verfassungsbeschwerde auch insoweit begründet ist, als die Beschwerdeführerin eine Verletzung des Willkürverbots rügt.

C.

Gemäß § 95 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG ist festzustellen, dass die Beschlüsse des Landgerichts München I vom 3. Juli 2015 die Beschwerdeführerin jeweils in ihrem grundrechtsgleichen Recht aus Art. 103 Abs. 1 GG verletzen. Die angegriffenen Beschlüsse sind aufzuheben und die Sache an das Landgericht München I zurückzuverweisen (§ 93c Abs. 2 i.V.m. § 95 Abs. 2 BVerfGG).

Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG. Die Festsetzung des Gegenstandswertes für die anwaltliche Tätigkeit ist auf § 37 Abs. 2 Satz 2, § 14 Abs. 1 RVG in Verbindung mit den Grundsätzen über die Festsetzung des Gegenstandswerts im verfassungsrechtlichen Verfahren gestützt (vgl. BVerfGE 79, 365 <368 ff.>; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 26. Januar 2011 - 1 BvR 1671/10 -, juris, Rn. 8). Im Hinblick auf die objektive Bedeutung der Sache ist ein Gegenstandswert von 10.000 Euro angemessen.

HRRS-Nummer: HRRS 2018 Nr. 206

Bearbeiter: Holger Mann