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HRRS-Nummer: HRRS 2017 Nr. 747

Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 1 StR 55/17, Beschluss v. 24.05.2017, HRRS 2017 Nr. 747


BGH 1 StR 55/17 - Beschluss vom 24. Mai 2017 (LG Traunstein)

Schuldunfähigkeit (Intelligenzminderung als schwere andere seelische Abartigkeit).

§ 20 StGB

Leitsatz des Bearbeiters

Zwar kann eine Intelligenzminderung ohne nachweisbaren Organbefund dem Eingangsmerkmal des „Schwachsinns“ unterfallen und damit eine besondere Erscheinungsform schwerer anderer seelischer Abartigkeiten darstellen (vgl. BGH NStZ-RR 2015, 71), die zu einer erheblich verminderten oder sogar aufgehobenen Schuldfähigkeit führen kann. Die bloße Minderung der geistigen Leistungsfähigkeit begründet eine solche Beeinträchtigung aber nicht.

Entscheidungstenor

1. Auf die Revision des Beschuldigten wird das Urteil des Landgerichts Traunstein vom 25. Oktober 2016 mit den Feststellungen aufgehoben.

2. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat die Unterbringung des Beschuldigten in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet. Die Revision des Beschuldigten, mit der er die Verletzung formellen und materiellen Rechts rügt, hat mit der Sachrüge Erfolg.

I.

1. Nach den Feststellungen des Landgerichts leidet der im Jahr 1979 geborene Beschuldigte an einer leicht- bis mittelgradigen Intelligenzminderung mit gravierenden Verhaltensstörungen. In Anbetracht ihres „Ausprägungsgrades“ hat das sachverständig beratene Landgericht diese Erkrankung als „Schwachsinn“ im Sinne der §§ 20, 21 StGB eingestuft. Aufgrund dieser Erkrankung und der damit verbundenen Defizienzen war die Steuerungsfähigkeit des Beschuldigten zur Tatzeit nach der Wertung des Landgerichts mit Sicherheit erheblich vermindert im Sinne des § 21 StGB und nicht ausschließbar vollständig aufgehoben. Die Einsichtsfähigkeit des Beschuldigten war demgegenüber nicht beeinträchtigt.

Der Beschuldigte, der sich bereits als Kind in Heimeinrichtungen befunden und eine Schule für geistig Behinderte besucht hatte, befand sich von 1997 bis 1999 wegen zum Teil massiver selbst- und fremdgefährdender Vorfälle in einem Bezirkskrankenhaus. Er ist seit 1997 durchgängig auf zivilrechtlicher Grundlage untergebracht und steht unter Betreuung. Mehrfach kam es zu stationären Aufenthalten in psychiatrischen Kliniken. Zuletzt befand er sich seit März 2015 im I. Klinikum W.

Dort nutzte er am Tattag, dem 18. Februar 2016, gegen 20.35 Uhr den Wechsel des Pflegepersonals aus, um bei der Mitpatientin und Geschädigten K. im hinteren Bereich der Herrentoilette den vaginalen oder analen Geschlechtsverkehr vollziehen zu können. Die Geschädigte leidet an einer schwergradigen Intelligenzminderung und ist nicht in der Lage zu kommunizieren. Sie vermag lediglich unverständliche Laute zu äußern. Zu einer eigenen Willensbildung bezüglich ihrer Sexualität war sie nicht in der Lage. Auch konnte sie einen Willensentschluss gegen ein sexuelles Ansinnen des Beschuldigten weder äußern noch durchsetzen, was der Beschuldigte bewusst ausnutzte. Er veranlasste sie vor den Toilettenkabinen, mit heruntergezogener Hose und Unterhose ihren Oberkörper nach vorne zu beugen. Der Beschuldigte stand, ebenfalls mit herunter gezogener Hose und Unterhose, mit erigiertem Penis unmittelbar hinter der Geschädigten. Als eine Krankenpflegerin, die durch ein deutlich hörbares Wimmern der Geschädigten auf den Vorfall aufmerksam geworden war, die Herrentoilette betrat, ließ der Beschuldigte von seinem Vorhaben ab.

Das Landgericht konnte weder feststellen, ob die Geschädigte eigenständig in die Herrentoilette gegangen war, noch ob der Beschuldigte mit seinem Penis vaginal oder anal in die Geschädigte eingedrungen war. Es hat das Verhalten des Beschuldigten als versuchten schweren sexuellen Missbrauch widerstandsunfähiger Personen in der zur Tatzeit geltenden Gesetzesfassung gewertet, für das der Beschuldigte aber nicht bestraft werden könne, weil er sich zur Tatzeit nicht ausschließbar im Zustand der Schuldunfähigkeit gemäß § 20 StGB befunden habe.

2. Die Entscheidung zur Frage der Schuldfähigkeit und zur Unterbringung des Beschuldigten in einem psychiatrischen Krankenhaus hat das Landgericht auf das Gutachten des Sachverständigen Dr. G. gestützt. Nach dessen Ausführungen sei beim Beschuldigten von einer leicht- bis mittelgradigen Intelligenzminderung auszugehen, wobei eine eindeutige Ursache für seine Intelligenzminderung nicht bekannt sei. Diese sei aus forensisch-psychiatrischer Sicht dem biologischen Merkmal des „Schwachsinns“ zuzuordnen. Zwar sei sich der Beschuldigte bei Tatbegehung trotz seiner Intelligenzminderung darüber im Klaren gewesen, dass sein Vorgehen nicht statthaft gewesen sei und die Geschädigte weder Einverständnis noch Missfallen zum Ausdruck habe bringen können; seine Einsichtsfähigkeit sei daher noch erhalten gewesen. „Aufgrund des diagnostizierten Schwachsinns“ und der damit verbundenen Defizienzen mit impulshaftem Ausagieren und fehlender Fähigkeit zum Bedürfnisaufschub bzw. suffizienter Antizipation seines Handelns sei aber sicher von erheblich verminderter Steuerungsfähigkeit im Sinne von § 21 StGB und nicht ausschließbar aufgehobener Steuerungsfähigkeit im Sinne des § 20 StGB zum Tatzeitpunkt auszugehen. Das Landgericht schloss sich dem Gutachten „aufgrund eigener Bewertung“ in vollem Umfang an.

II.

Die Revision des Beschuldigten führt mit der Sachrüge zur Aufhebung des Maßregelausspruchs. Bereits die Ausführungen des Landgerichts zur erheblich verminderten Schuldfähigkeit (§ 21 StGB) als Grundlage für die Anordnung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (§ 63 StGB) halten rechtlicher Nachprüfung nicht stand.

Die Urteilsgründe ergeben nicht zweifelsfrei, dass der Beschuldigte bei Tatbegehung an einem geistigen oder seelischen Zustand litt, der die Voraussetzungen des § 21 StGB sicher begründete. Zwar kann eine Intelligenzminderung ohne nachweisbaren Organbefund, wie das Landgericht sie für den Beschuldigten angenommen hat, dem Eingangsmerkmal des „Schwachsinns“ unterfallen und damit eine besondere Erscheinungsform schwerer anderer seelischer Abartigkeiten darstellen (vgl. BGH, Beschluss vom 19. November 2014 - 4 StR 497/14, Rn. 15, NStZ-RR 2015, 71), die zu einer erheblich verminderten oder sogar aufgehobenen Schuldfähigkeit führen kann. Die bloße Minderung der geistigen Leistungsfähigkeit begründet eine solche Beeinträchtigung aber nicht (vgl. BGH, Urteil vom 31. August 1994 - 2 StR 366/94, BGHR StGB § 63 Zustand 17; Beschlüsse vom 22. August 2012 - 4 StR 308/12, Rn. 9 und vom 10. September 2013 - 4 StR 287/13, Rn. 8).

Wie sich die „leicht- bis mittelgradige Intelligenzminderung“ des Beschuldigten und deren „Ausprägungsgrad“ (UA S. 5) konkret auswirken, wird nicht näher beschrieben. Auch enthält das Urteil keine Angabe, welchen Intelligenzquotienten der Beschuldigte erreicht. Schon im Hinblick auf die denkbare Schwankungsbreite dieser Behinderung (vgl. etwa BGH, Beschluss vom 20. Juli 2010 - 5 StR 240/10 für die Diagnose „Schwachsinn“) sind die Urteilsausführungen wenig aussagekräftig und für die revisionsgerichtliche Überprüfung unzureichend, zumal nicht mitgeteilt wird, aufgrund welcher Untersuchungsverfahren und Kriterien der Sachverständige zu seiner Diagnose gelangt ist. Es bleibt zudem offen, ob der Beschuldigte entgegen der vom Landgericht angenommenen fehlenden Fähigkeit zum Bedürfnisaufschub in der Lage war, gerade den Zeitpunkt des Personalwechsels abzuwarten und mit der Geschädigten einen unbeobachteten Ort aufzusuchen, um „heimlich“ (UA S. 12) vorgehen zu können. Eine solche Fähigkeit könnte gegen die im Urteil angenommene erhebliche Beeinträchtigung der Steuerungsfähigkeit aufgrund intellektueller Minderbegabung sprechen. Überhaupt fehlen neben einer umfassenden Würdigung der Persönlichkeit des Beschuldigten (vgl. BGH, Urteil vom 5. Juli 2011 - 3 StR 173/11, NStZ 2012, 209 mwN) Ausführungen dazu, welchen Einfluss die Intelligenzminderung auf die Handlungsmöglichkeiten des Beschuldigten in der konkreten Tatsituation hatte (vgl. BGH, Urteil vom 22. April 2015 - 2 StR 393/14, NStZ-RR 2015, 306). Ferner erörtert das Landgericht rechtsfehlerhaft nicht, in welchem Zusammenhang die Intelligenzminderung mit den beim Beschuldigten ebenfalls angenommenen Verhaltensstörungen (UA S. 5) steht.

III.

Das Landgericht hat wegen Zweifeln an der Glaubhaftigkeit der Angaben des Beschuldigten nicht angenommen, dass der Beschuldigte in die Geschädigte eingedrungen ist. Im Hinblick darauf, dass bei einer abweichenden Beurteilung des geistigen und seelischen Zustands des Beschuldigten das neue Tatgericht auch die Frage der Glaubhaftigkeit seiner Angaben anders beantworten könnte, hebt der Senat auch die Feststellungen zum äußeren Tatgeschehen auf, um dem neuen Tatgericht insgesamt widerspruchsfreie Feststellungen zu ermöglichen. Zudem weist der Senat für die neue Hauptverhandlung auf die Vorschrift des § 358 Abs. 2 Satz 2 StPO hin.

HRRS-Nummer: HRRS 2017 Nr. 747

Externe Fundstellen: NStZ-RR 2017, 270 ; StV 2019, 258

Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede