hrr-strafrecht.de - Rechtsprechungsübersicht


HRRS-Nummer: HRRS 2017 Nr. 715

Bearbeiter: Holger Mann

Zitiervorschlag: BVerfG, 2 BvR 1313/17, Beschluss v. 13.06.2017, HRRS 2017 Nr. 715


BVerfG 2 BvR 1313/17 (2. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 13. Juni 2017 (AG Osterholz-Scharmbeck)

Erfolgloser Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gegen die Durchführung einer Hauptverhandlung (Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs; Verhandlungsfähigkeit des Angeklagten; Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit; Interessenabwägung; Terminsaufhebung nur bei hinreichenden Anhaltspunkten für eine konkrete Lebens- oder Gesundheitsgefahr).

Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG; § 32 Abs. 1 BVerfGG

Leitsätze des Bearbeiters

1. Die aus dem Rechtsstaatsprinzip folgende Pflicht des Staates, die Sicherheit seiner Bürger und deren Vertrauen in die Funktionstüchtigkeit der staatlichen Institutionen zu schützen, sowie die Gleichbehandlung aller in Strafverfahren Beschuldigten erfordern grundsätzlich die Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs.

2. Besteht die naheliegende, konkrete Gefahr, dass der Angeklagte bei Durchführung der Hauptverhandlung sein Leben einbüßen oder schwerwiegenden Schaden an seiner Gesundheit nehmen würde, so verletzt ihn die Fortsetzung des Strafverfahrens in seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG.

3. Der Konflikt zwischen der Pflicht des Staates zur Gewährleistung einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege und dem Grundrecht des Beschuldigten aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG ist nach Maßgabe des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes durch Abwägung der widerstreitenden Interessen zu lösen. Dabei können vor allem Art, Umfang und mutmaßliche Dauer des Strafverfahrens, Art und Intensität der zu befürchtenden Schädigung sowie Möglichkeiten, dieser entgegenzuwirken, Beachtung erfordern.

4. Nur eine hinreichend sichere Prognose über den Schadenseintritt kann die Einstellung des Verfahrens rechtfertigen. Die Durchführung einer Hauptverhandlung ist daher verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, wenn das Gericht ohne Einholung einer amtsärztlichen Stellungnahme eine konkrete Gesundheitsgefahr für den Angeklagten verneint hat, nachdem dieser sein Vorbringen, er leide seit langem an einer Herzerkrankung, nicht durch valide und aktuelle ärztliche Stellungnahmen belegt, sondern lediglich mehrere Jahre alte medizinische Unterlagen vorgelegt hat, ausweislich derer er zuletzt ohne Befund aus der Behandlung entlassen worden war.

Entscheidungstenor

Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 32 BVerfGG in Verbindung mit § 93d Abs. 2 BVerfGG wird abgelehnt.

Gründe

Das Verfahren über den Erlass einer einstweiligen Anordnung betrifft die Aufhebung eines Hauptverhandlungstermins und die Einholung eines amtsärztlichen Gutachtens zur Verhandlungsfähigkeit des Beschwerdeführers.

1. Die Staatsanwaltschaft Verden klagte den Beschwerdeführer am 11. April 2017 - 145 Js 35577/16 - wegen eines vom 1. April 2016 bis zum 24. Juni 2016 begangenen Einmietbetruges zum Strafrichter des Amtsgerichts Osterholz-Scharmbeck an. Mit Beschluss des Amtsgerichts Osterholz-Scharmbeck vom 23. Mai 2017 - 22 Ds 145 Js 35577/16 (280/17) - wurde diese Anklage zur Hauptverhandlung zugelassen und das Hauptverfahren eröffnet. Dem Beschwerdeführer wurde am 30. Mai 2017 eine Ladung zu der auf den 14. Juni 2017, 10:40 Uhr terminierten Hauptverhandlung vor dem Strafrichter des Amtsgerichts Osterholz-Scharmbeck zugestellt.

Mit Schriftsatz vom 2. Juni 2017 beantragte die Verteidigerin des Beschwerdeführers, den Termin vom 14. Juni 2017 aufzuheben und zunächst die Begutachtung des Beschwerdeführers hinsichtlich seiner Verhandlungsfähigkeit und seiner Schuldfähigkeit durchzuführen. Hilfsweise könne das Ergebnis der entsprechenden Begutachtung des Beschwerdeführers in dem Verfahren zu dem Geschäftszeichen 9 Ds 115 Js 19198/16 bei dem Amtsgericht Bremervörde abgewartet werden. Der Beschwerdeführer leide an einer lang bestehenden Herzerkrankung, die bereits mehrfach medizinisch behandelt worden und zudem Gegenstand von amtsärztlichen Untersuchungen über seine Verhandlungsfähigkeit gewesen sei. Hierzu nahm die Verteidigerin des Beschwerdeführers auf eine amtsärztliche Stellungnahme vom 19. Mai 2004, eine amtsärztliche Stellungnahme für das Amtsgericht Warendorf vom Mai 2005, ein vom Amtsgericht Warendorf beauftragtes internistisch-kardiologisches Gutachten vom 25. Juli 2005, einen Arztbrief des Universitätsklinikums Münster nach ambulanter Behandlung vom 10. Oktober 2013, einen Entlassungsbrief des Klinikums Bremen-Nord vom 15. Mai 2014 nach stationärer Behandlung vom 13. Mai 2014 bis zum 15. Mai 2014 und eine - lediglich die Verhandlungsunfähigkeit des Beschwerdeführers bestätigende - ärztliche Bescheinigung vom 25. August 2014 eines niedergelassenen Arztes Bezug. Nach alldem sei hervorzuheben, dass hinsichtlich der Durchführung einer Gerichtsverhandlung ein erhebliches Gefährdungspotential für die Gesundheit des Beschwerdeführers bestehe. Des Weiteren sei der Beschwerdeführer auch hinsichtlich seiner Schuldfähigkeit zu begutachten. Er leide an Pseudologie und somit an einer schweren psychischen Erkrankung, welche grundlegend für die Beurteilung des Tatvorwurfes sein werde.

Mit Beschluss des Amtsgerichts Osterholz-Scharmbeck vom 2. Juni 2017 - 22 Ds 145 Js 3577/16 (280/17) - wurde der Antrag auf Verlegung des für den 14. Juni 2017 anberaumten Hauptverhandlungstermins zurückgewiesen, da die zum Teil mehrere Jahre alten ärztlichen Unterlagen in keiner Weise geeignet seien, den Nachweis der behaupteten Verhandlungsunfähigkeit zu führen. Die Frage der Schuldfähigkeit sei in der Hauptverhandlung zu beurteilen. Vor diesem Hintergrund werde vorbehaltlich der Beweisaufnahme auch der Antrag auf Einholung eines Sachverständigengutachtens zur Schuldfrage zurückgewiesen. Die Entscheidung wurde der Verteidigung am 8. Juni 2017 zugestellt.

2. Mit der am 12. Juni 2017, 15:00 Uhr per Telefax eingegangenen Verfassungsbeschwerde wird beantragt, die Verfassungswidrigkeit des Beschlusses des Amtsgerichts Osterholz-Scharmbeck vom 2. Juni 2017 - 22 Ds 145 Js 35577/16 (280/17) - und die Verletzung der Rechte des Beschwerdeführers aus Art. 2 Abs. 1, Art. 2 Abs. 2 Satz 1 und Art. 20 Abs. 3 GG festzustellen sowie das Amtsgericht Osterholz-Scharmbeck - gegebenenfalls im Wege der einstweiligen Anordnung - anzuweisen, den Hauptverhandlungstermin am 14. Juni 2017 aufzuheben, sowie vorläufig bis zur Einholung eines amtsärztlichen Gutachtens über die Verhandlungsfähigkeit, hilfsweise bis zur Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts in der Hauptsache, keine Hauptverhandlung durchzuführen.

Eine Abwägung zwischen der Pflicht des Staates, die Sicherheit der Bürger, deren Vertrauen in die Funktionsfähigkeit des Staates und das Gebot der Gleichbehandlung aller im Strafverfahren zu gewährleisten, sowie zur grundsätzlichen Durchsetzung des Strafanspruches und dem Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit des Beschwerdeführers sei nicht zu erkennen. Das Gericht habe weder eine Wahrscheinlichkeitsprognose vorgenommen noch eine Interessenabwägung. Die Pflicht zur zügigen Durchführung des Strafverfahrens müsse hier hinter das Grundrecht des Beschwerdeführers auf Leben und körperliche Unversehrtheit zurücktreten. Der Beschwerdeführer habe dem Amtsgericht Osterholz-Scharmbeck ausführlich dargelegt, dass er unter einer schwerwiegenden Herzerkrankung leide. Diese Erkrankung habe sich so verschlimmert, dass er 2015 als Notfall in das Krankenhaus habe eingeliefert werden müssen. Hierzu wird ein Arztbrief des Klinikums Bremen-Nord vom 2. März 2015 über eine stationäre Behandlung am 26. Februar 2015 vorgelegt.

3. Nach § 32 Abs. 1 BVerfGG kann das Bundesverfassungsgericht im Streitfall auch schon vor Anhängigkeit eines Verfahrens zur Hauptsache einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist. Erweist sich die - eingelegte oder noch zu erhebende - Verfassungsbeschwerde von vornherein als unzulässig oder offensichtlich unbegründet, kommt eine einstweilige Anordnung nicht in Betracht (vgl. BVerfGE 108, 238 <246>).

4. Der Erlass der beantragten einstweiligen Anordnung war abzulehnen, weil die erhobene Verfassungsbeschwerde jedenfalls offensichtlich unbegründet ist. Die vom Beschwerdeführer gerügte Verletzung seines Grundrechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG ist weder hinreichend plausibel dargelegt noch sonst ersichtlich.

a) Die aus dem Rechtsstaatsprinzip folgende Pflicht des Staates, die Sicherheit seiner Bürger und deren Vertrauen in die Funktionstüchtigkeit der staatlichen Institutionen zu schützen, sowie die Gleichbehandlung aller in Strafverfahren Beschuldigten erfordern grundsätzlich die Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs. Die verfassungsrechtliche Pflicht des Staates, eine funktionstüchtige Strafrechtspflege mit ihrem Ziel der Durchsetzung materieller Gerechtigkeit zu gewährleisten, umfasst regelmäßig auch die Pflicht, die Einleitung und Durchführung des Strafverfahrens sicherzustellen (vgl. BVerfGE 51, 324 <343 f.>). Ist angesichts des Gesundheitszustandes des Beschuldigten ernsthaft zu befürchten, dass er bei Fortsetzung des Strafverfahrens sein Leben einbüßen oder schwerwiegenden Schaden an seiner Gesundheit nehmen würde, entsteht zwischen der Pflicht des Staates zur Gewährleistung einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege und dem Grundrecht des Beschuldigten aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG ein Spannungsverhältnis. Der Konflikt ist, sofern dies nicht eine Aufopferung des Lebens verlangt, nach Maßgabe des Verhältnismäßigkeitsprinzips durch Abwägung der widerstreitenden Interessen zu lösen. Dabei können vor allem Art, Umfang und mutmaßliche Dauer des Strafverfahrens, Art und Intensität der zu befürchtenden Schädigung sowie Möglichkeiten, dieser entgegenzuwirken, Beachtung erfordern (vgl. BVerfGE 51, 324 <345 f.>; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 20. September 2001 - 2 BvR 1349/01 -, NJW 2002, S. 51 <52>; Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 6. Oktober 2009 - 2 BvR 1724/09 -, juris, Rn. 9).

Besteht die naheliegende, konkrete Gefahr, dass der Beschuldigte bei Durchführung der Hauptverhandlung sein Leben einbüßen oder schwerwiegenden Schaden an seiner Gesundheit nehmen würde, so verletzt ihn die Fortsetzung des Strafverfahrens in seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG. Die Grundrechtsgefährdung ist in diesem Fall einer Grundrechtsverletzung gleich zu achten. Dabei kann allerdings nur eine hinreichend sichere Prognose über den Schadenseintritt die Einstellung des Verfahrens vor der Verfassung rechtfertigen. Einerseits verpflichtet die unterhalb der Wahrscheinlichkeitsgrenze liegende bloße Möglichkeit des Todes oder einer schweren gesundheitlichen Schädigung des Beschuldigten das Gericht nicht, von der Durchführung der Hauptverhandlung Abstand zu nehmen. Die Möglichkeit, dass der Beschuldigte den Belastungen einer Hauptverhandlung nicht gewachsen ist, lässt sich letztlich niemals ausschließen. Derartige Risiken sind innerhalb gewisser Grenzen unvermeidbar und müssen im Interesse einer wirksamen Strafrechtspflege hingenommen werden. Andererseits dürfen die Anforderungen an die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts nicht überspannt werden (vgl. BVerfGE 51, 324 <346, 348 f.>; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 20. September 2001 - 2 BvR 1349/01 -, NJW 2002, S. 51 <52>; BVerfGK 3, 247 <255>; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 6. Oktober 2009 - 2 BvR 1724/09 -, juris, Rn. 10).

In Anwendung dieses verfassungsrechtlichen Maßstabs müssen bei der Beurteilung der Verhandlungsfähigkeit des Beschuldigten alle wesentlichen Umstände des Einzelfalles berücksichtigt und gegeneinander abgewogen werden (vgl. BVerfGE 51, 324 <350 f.>; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 20. September 2001 - 2 BvR 1349/01 -, NJW 2002, S. 51 <52>). Dabei ist es in erster Linie Aufgabe der Strafgerichte, die für die Abwägung bedeutsamen tatsächlichen Feststellungen zu treffen. Das Bundesverfassungsgericht kann insofern nur prüfen, ob die Feststellungen und die ihnen zugrunde liegende Beweiswürdigung auf willkürlichen Erwägungen beruhen oder ob die Strafgerichte die verfassungsrechtlichen Anforderungen verkannt haben, die sich aus der Bedeutung und Tragweite der Grundrechte für die Sachverhaltsermittlung ergeben (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 24. Februar 1995 - 2 BvR 345/95 -, NJW 1995, S. 1951 <1952>; Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 6. Oktober 2009 - 2 BvR 1724/09 -, juris, Rn. 11).

b) Danach ist die angegriffene Entscheidung des Amtsgerichts Osterholz-Scharmbeck vom 2. Juni 2017 - 22 Ds 145 Js 35577/16 (280/17) - von Verfassungs wegen nicht zu beanstanden.

Wegen des seit der Erstellung der vorgelegten ärztlichen Stellungnahmen verstrichenen Zeitraumes durfte der Strafrichter des Amtsgerichts Osterholz-Scharmbeck davon ausgehen, dass eine konkrete Gefahr, dass der Beschwerdeführer bei Durchführung der Hauptverhandlung sein Leben einbüßen oder schwerwiegenden Schaden an seiner Gesundheit nehmen wird, fernliegt; daher bestand auch keine Pflicht zur Einholung eines entsprechenden Gutachtens.

Gerade wegen der beim Beschwerdeführer diagnostizierten Pseudologie hätte eine Notwendigkeit zur Einholung einer amtsärztlichen Stellungnahme zur Verhandlungsfähigkeit des Beschwerdeführers nur dann bestanden, wenn die Verhandlungsunfähigkeit des Beschwerdeführers durch valide und aktuelle ärztliche Stellungnahmen belegt worden wäre.

Dies wird letztlich auch durch den im Verfassungsbeschwerdeverfahren vorgelegten Arztbrief des Klinikums Bremen-Nord vom 2. März 2015 bestätigt. Danach wurde der Beschwerdeführer dort wegen von ihm geschilderter Beschwerden (Angina Pectoris) am 26. Februar 2015 - dem Tag eines anberaumten Gerichtstermins - notfallmäßig eingeliefert. Die vom Beschwerdeführer geschilderten Beschwerden ließen sich aufgrund des Ergebnisses der durchgeführten Untersuchungen - unauffälliges Echokardiogramm und negative laborchemische Parameter - nicht nachvollziehen; der Beschwerdeführer konnte beschwerdefrei nach Hause entlassen werden.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

HRRS-Nummer: HRRS 2017 Nr. 715

Bearbeiter: Holger Mann