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HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 871

Bearbeiter: Holger Mann

Zitiervorschlag: BVerfG, 1 BvR 58/23, Beschluss v. 12.07.2023, HRRS 2023 Nr. 871


BVerfG 1 BvR 58/23 (2. Kammer des Ersten Senats) - Beschluss vom 12. Juli 2023 (LG Darmstadt / AG Darmstadt)

Erfolglose Verfassungsbeschwerde gegen eine Durchsuchung wegen des Verdachts von Beleidigungen in einer Chatgruppe (fortbestehendes Rechtsschutzbedürfnis bei erledigten strafprozessualen Zwangsmaßnahmen; Fallgruppen; fortwirkende Beeinträchtigung; Wiederholungsgefahr; tiefgreifende Grundrechtseingriffe; kein Rechtsschutzinteresse an nachträglicher Überprüfung einer Durchsuchungsanordnung allein wegen der Betroffenheit des Wohnungsgrundrechts ohne entsprechende Rüge; Beschlagnahmeanordnung regelmäßig nicht Gegenstand des Durchsuchungsbeschlusses).

Art. 13 Abs. 1 GG; § 94 Abs. 2 StPO; § 102 StPO; § 105 StPO

Leitsätze des Bearbeiters

1. Nach der Erledigung einer strafprozessualen Zwangsmaßnahme muss von Verfassungs wegen grundsätzlich kein lückenloser voraussetzungsloser Rechtsschutz gewährt werden. Ein fortbestehendes Rechtsschutzbedürfnis ist allerdings anzunehmen bei einer weiterhin von der Maßnahme ausgehenden Beeinträchtigung sowie in Fällen der Wiederholungsgefahr und von tiefgreifenden und folgenschweren, sich typischerweise schnell erledigenden Grundrechtseingriffen, vor allem bei Anordnungen, die das Grundgesetz vorbeugend dem Richter vorbehalten hat.

2. Ein fortbestehendes Rechtsschutzbedürfnis an der verfassungsgerichtlichen Überprüfung einer Durchsuchungsanordnung, die durch Vollziehung erledigt ist, folgt nicht aus der bloßen Betroffenheit des Grundrechts aus Art. 13 Abs. 1 GG, wenn der Beschwerdeführer die Unverletzlichkeit der Wohnung gerade nicht als verletzt rügt.

3. Die Anordnung und Aufrechterhaltung einer im Rahmen der Durchsuchung vorgenommenen Beschlagnahme ist nur Gegenstand des Durchsuchungsbeschlusses, wenn dieser die erfassten Gegenstände bereits genau konkretisiert. Enthält er hingegen lediglich eine gattungsmäßige Umschreibung der aufzufindenden Gegenstände, so handelt es sich um eine bloße Richtlinie für die Durchsuchung.

Entscheidungstenor

Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.

Gründe

Gegenstand der Verfassungsbeschwerde sind auf den Verdacht von Beleidigungen in einer Chatgruppe gestützte Durchsuchungen.

I.

Der Beschwerdeführer ist Polizeibeamter. Nach eigenem Vortrag habe es in seiner Dienstgruppe persönliche Differenzen und dadurch ein angespanntes Arbeitsklima gegeben. Teile der Dienstgruppe tauschten sich daher - vornehmlich über ihre Kollegen - in der Chatgruppe eines Instant-Messengers aus.

Mit Beschlüssen vom 2. Juli 2021 ordnete das Amtsgericht gegen den Beschwerdeführer die Durchsuchung seiner Wohnung und seines Dienstbüros sowie die Beschlagnahme unter anderem von Kommunikationsmitteln des Beschwerdeführers wie Mobiltelefonen an. Er sei der Beleidigung verdächtig. Als Mitglied der Chatgruppe habe er Kollegen - in näher festgestellter Weise - beschimpft. Die Durchsuchung sei unter anderem geboten, um Kommunikationsmittel zu finden, die die beleidigenden Chatverläufe enthielten. In Vollziehung des Durchsuchungsbeschlusses wurde ein Mobiltelefon des Beschwerdeführers zunächst zur Durchsicht vorläufig sichergestellt und - nach Angaben des Beschwerdeführers - später auch beschlagnahmt.

Die gegen die Beschlüsse des Amtsgerichts vom 2. Juli 2021 erhobene Beschwerde verwarf das Landgericht mit Beschluss vom 4. Oktober 2022 als unbegründet. Eine hiergegen angebrachte Gehörsrüge blieb ohne Erfolg.

II.

Der Beschwerdeführer rügt eine Verletzung von Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG (Allgemeines Persönlichkeitsrecht) und Art. 10 Abs. 1 GG (Fernmeldegeheimnis). Dies begründet er im Wesentlichen damit, dass die Fachgerichte es versäumt hätten, eine (jede) private Chatgruppe unter Arbeitskollegen als „beleidigungsfreie Sphäre“ anzuerkennen, in der selbst Schmähkritik und Formalbeleidigungen in Bezug auf Dritte straffrei sein müssten.

III.

Die Verfassungsbeschwerde war nicht zur Entscheidung anzunehmen, weil sie offensichtlich und aus mehreren Gründen unzulässig ist.

1. Der Beschwerdeführer hat schon kein Rechtsschutzbedürfnis dargelegt.

a) Es ist durch das Bundesverfassungsgericht geklärt, dass nach der Erledigung einer strafprozessualen Zwangsmaßnahme von Verfassungs wegen grundsätzlich kein lückenloser voraussetzungsloser Rechtsschutz gewährt werden muss. Vielmehr ist mit deren Erledigung anzunehmen, dass das Rechtsschutzbedürfnis mangels fortbestehender Beschwer entfällt und damit einer gerichtlichen Entscheidung in der Sache die Grundlage entzogen ist. Lediglich in besonderen Fällen kann das Rechtsschutzbedürfnis trotz einer solchen Erledigung fortbestehen. Hierunter fallen neben einer weiterhin von der aufgehobenen oder gegenstandslos gewordenen Maßnahme ausgehenden Beeinträchtigung Fälle der Wiederholungsgefahr und von tiefgreifenden und folgenschweren, sich typischerweise schnell erledigenden Grundrechtseingriffen (vgl. BVerfGE 81, 138 <140 f.>; 116, 69 <79 f.>; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 15. Juli 1998 - 2 BvR 446/98 -, Rn. 12; Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 18. September 2008 - 2 BvR 683/08 -). Ein solcher Grundrechtseingriff kommt vor allem bei Anordnungen in Betracht, die das Grundgesetz vorbeugend dem Richter vorbehalten hat (vgl. BVerfGE 96, 27 <40>; 104, 220 <233>; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 18. September 2008 - 2 BvR 683/08 -). Hierzu zählen etwa Durchsuchungen von Wohn- und Geschäftsräumen (vgl. Art. 13 Abs. 2 GG; hierzu auch BVerfGE 104, 220 <233>). Im Übrigen entfällt regelmäßig das Rechtsschutzbedürfnis mit Erledigung einer Maßnahme (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 31. Januar 2020 - 2 BvR 2992/14 -, Rn. 34). Es obliegt dann einem Beschwerdeführenden anhand der Umstände des Einzelfalls näher vorzutragen, warum etwa ein besonders belastender Grundrechtseingriff vorliegt, der trotz Erledigung ein fortbestehendes Rechtsschutzinteresse begründen soll (vgl. BVerfGE 107, 299 <338>; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 4. Februar 2005 - 2 BvR 308/04 -, Rn. 18 ff.; Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 9. Juli 2009 - 2 BvR 1119/05 u.a. -, Rn. 32 m.w.N.).

b) Ein fortbestehendes Rechtsschutzbedürfnis hat der Beschwerdeführer nicht anhand dieser Maßstäbe dargelegt.

Sowohl fachgerichtlich als auch in seiner Verfassungsbeschwerde richtet er sich gegen die Beschlüsse des Amtsgerichts vom 2. Juli 2021 und die diese bestätigende Beschwerdeentscheidung des Landgerichts. Diese Entscheidungen umfassten allein eine Durchsuchung. Soweit das Amtsgericht zugleich auch eine Beschlagnahme anordnete und das Landgericht diese Anordnung bestätigte, handelte es sich ersichtlich nicht um eine Beschlagnahme im Sinne des § 94 Abs. 2 StPO. Wird eine Beschlagnahmeanordnung im Zusammenhang mit einem Durchsuchungsbeschluss erlassen und erfolgt dabei noch keine genaue Konkretisierung der erfassten Gegenstände, sondern nur eine gattungsmäßige Umschreibung, so handelt es sich um eine bloße Richtlinie für die Durchsuchung (BVerfGE 124, 42 <76>).

Mit Vollziehung der Durchsuchung hat sich diese Zwangsmaßnahme erledigt. Ein gleichwohl fortbestehendes Rechtsschutzbedürfnis an der verfassungsgerichtlichen Überprüfung der die Durchsuchungsanordnungen betreffenden Gerichtsentscheidungen ist weder dargelegt noch sonst erkennbar. Insbesondere hat der Beschwerdeführer nicht aufgezeigt, dass ein tiefgreifender und folgenschwerer, sich typischerweise schnell erledigender Grundrechtseingriff vorliegt. Ein solcher folgt auch nicht aus der bloßen Betroffenheit von Art. 13 Abs. 1 GG, wenn - wie hier - der Beschwerdeführer die Unverletzlichkeit der Wohnung gerade nicht als verletzt rügt (vgl. dazu auch BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 27. Juni 2018 - 2 BvR 1405/17 u.a. -, Rn. 59). Soweit der Beschwerdeführer eine Verletzung der Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG und Art. 10 Abs. 1 GG rügt, stehen Anordnungen, die in die genannten Grundrechte eingreifen, weder unter einem verfassungsrechtlichen Richtervorbehalt, noch erfolgt ein einzelfallbezogener Vortrag, in dessen Lichte auf einen besonders belastenden Grundrechtseingriff zu schließen sein könnte. Zwar weist der Beschwerdeführer wiederholt darauf hin, die in Rede stehende Chatgruppe diene dazu, dem eigenen Unmut über die Vorgänge auf der Dienststelle „Luft“ zu machen. Eine verständliche Darlegung, warum die Nutzung dieser Chatgruppe für die Persönlichkeitskonstituierung des Beschwerdeführers von derart herausgehobener Bedeutung sein könnte, dass die Durchsuchung seiner Wohn- und Büroräume unter dem Blickwinkel des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts besonders belastend gewesen sein könnte, fehlt aber vollständig.

2. Der Beschwerdeführer hat zudem nicht dargelegt, die Verfassungsbeschwerde fristgerecht erhoben zu haben.

a) Eine Verfassungsbeschwerde ist innerhalb der Monatsfrist des § 93 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG nicht nur einzulegen, sondern auch verfassungsprozessgerecht zu begründen. Die einem Beschwerdeführenden auferlegten Begründungsanforderungen aus § 23 Abs. 1 Satz 2, § 92 BVerfGG erstrecken sich auch auf die Sachentscheidungsvoraussetzungen der Verfassungsbeschwerde, soweit deren Vorliegen nicht aus sich heraus erkennbar ist. Aus diesem Grund ist es erforderlich, auch deren Fristwahrung schlüssig darzulegen, falls sich die Einhaltung der Beschwerdefrist des § 93 Abs. 1 BVerfGG nicht offensichtlich aus den beigefügten Unterlagen ergibt (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 27. September 2019 - 1 BvR 1700/19 -, Rn. 3; Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 8. August 2021 - 2 BvR 171/20 -, Rn. 14; stRspr). Dies schließt ein, dass unaufgefordert der fristauslösende Zugangszeitpunkt der den Rechtsweg beendenden Entscheidung mitzuteilen ist, die mit der Verfassungsbeschwerde angegriffen wird (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 28. April 2020 - 1 BvR 209/20 -, Rn. 5; stRspr). Ohne solchen Vortrag ist es dem Bundesverfassungsgericht nämlich nicht möglich, die Einhaltung der Monatsfrist des § 93 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG zu prüfen.

b) Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe führt es zur Unzulässigkeit der nicht schon ersichtlich fristgerecht erhobenen Verfassungsbeschwerde, da der Beschwerdeführer nicht mitgeteilt hat, wann ihm die letzte angegriffene Entscheidung zugegangen ist.

aa) Für die Fristberechnung kommt es auf die Beschwerdeentscheidung des Landgerichts vom 4. Oktober 2022 an. Die fachgerichtliche Gehörsrüge, die der Beschwerdeführer unter dem 24. Oktober 2022 anbrachte, hielt hier die Monatsfrist des § 93 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG nicht offen, weil er mit ihr - wie er in seiner Verfassungsbeschwerde auch offen einräumt - nur die inhaltliche Unrichtigkeit der Entscheidung vom 4. Oktober 2022 rügte (vgl. etwa BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 19. Juni 2019 - 2 BvR 2492/18 -).

bb) Wann dem Beschwerdeführer die Entscheidung des Landgerichts vom 4. Oktober 2022 bekannt gemacht und daher die Frist des § 93 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG in Gang gesetzt wurde, hat er dagegen nicht aufgezeigt.

(1) Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts muss bei einer gegen eine strafprozessuale Zwangsmaßnahme gerichteten Verfassungsbeschwerde mitgeteilt werden, wann die für die Fristberechnung maßgebliche Instanzentscheidung sowohl der Verteidigung als auch dem beschuldigten Beschwerdeführenden bekannt gemacht wurde. Das einfache Prozessrecht sieht eine Bekanntgabe an beide vor, wobei die zeitlich frühere Bekanntgabe die Verfassungsbeschwerdefrist auslöst (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 12. Juni 2014 - 2 BvR 1004/13 -, Rn. 5, 8 ff.).

(2) In Missachtung dieser Darlegungsobliegenheit hat der Beschwerdeführer lediglich mitgeteilt, dass die Bekanntgabe des landgerichtlichen Beschlusses vom 4. Oktober 2022 an seinen Verfahrensbevollmächtigten am 11. Oktober 2022 erfolgt sei. Zur Bekanntgabe an ihn selbst fehlt dagegen jeder Vortrag, obwohl eine frühere Bekanntgabe an ihn und damit eine verfristete Erhebung der Verfassungsbeschwerde nicht ausgeschlossen ist. Von einer Fristwahrung kann hier auch nicht ohne weiteren Vortrag ausgegangen werden, weil die Verfassungsbeschwerde erst am 9. November 2022, also nicht innerhalb eines Monats ab Entscheidungsdatum des angegriffenen landgerichtlichen Beschlusses, beim Bundesverfassungsgericht eingegangen ist.

3. Soweit die Verfassungsbeschwerde so zu verstehen sein sollte, dass der Beschwerdeführer eine Grundrechtsverletzung auch wegen der nach Durchführung der Durchsuchung erfolgten vorläufigen Sicherstellung seines Mobiltelefons zur Durchsicht und dessen - nach seinem Vortrag - anschließend erfolgten Beschlagnahme im Sinne des § 94 Abs. 2 StPO behaupten will, hat er nicht dargelegt, dass er von den durch das Fachrecht eröffneten Rechtsschutzmöglichkeiten (vgl. etwa Hauschild, in: Münchener Kommentar zur StPO, 2. Aufl. 2023, § 98 Rn. 39 ff., § 110 Rn. 22) Gebrauch gemacht und insofern den Rechtsweg gemäß § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG erschöpft hat.

4. Darauf, dass die Verfassungsbeschwerde nicht in einer den § 23 Abs. 1 Satz 2, § 92 BVerfGG genügenden Weise die Möglichkeit einer Grundrechtsverletzung aufgezeigt hat, wird nach § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG nicht weiter eingegangen.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 871

Bearbeiter: Holger Mann