HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

April 2018
19. Jahrgang
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III. Strafzumessungs- und Maßregelrecht


Entscheidung

313. BGH GSSt 3/17 – Beschluss vom 24. Juli 2017 (LG Osnabrück)

BGHSt; tatrichterliche Ermessensentscheidung über Strafrahmenverschiebung bei selbstverschuldeter Trunkenheit (Versagung der Strafrahmenmilderung allein aufgrund selbstverschuldeten Sichberauschens; keine vorhersehbare Erhöhung des Risikos zur Begehung von Straftaten erforderlich; abstraktes Risiko des Alkoholmissbrauchs; allgemeiner Erfahrungssatz; Erhöhung des Handlungsunrechts; tatschuldrelevantes Merkmal; Schuldminderungsrund mit anknüpfender Strafzumessungsregel; fakultative Strafrahmenmilderung; Kompensation durch schulderhöhende Umstände; für die Tatschuld relevante Umstände des Einzelfalles; Ermessensausübung; eingeschränkte Überprüfung in der Revision).

§ 21 StGB; § 49 Abs. 1 StGB

1. Im Rahmen der bei der tatgerichtlichen Ermessensentscheidung über die Strafrahmenverschiebung nach den §§ 21, 49 Abs. 1 StGB gebotenen Gesamtwürdigung aller schuldrelevanten Umstände kann eine selbstverschuldete Trunkenheit die Versagung der Strafrahmenmilderung tragen, auch wenn eine vorhersehbare signifikante Erhöhung des Risikos der Begehung von Straftaten aufgrund der persönlichen oder situativen Verhältnisse des Einzelfalls nicht festgestellt ist. (BGHSt)

2. Durch den Alkoholmissbrauch versetzt sich der Sich-Betrinkende in einen Zustand, der durch Enthemmung, Verminderung von Einsichts- und Urteilsvermögen sowie Verschlechterung von Körperbeherrschung und Reaktionsfähigkeit gekennzeichnet ist. Davon, dass Alkoholkonsum eine solche enthemmende Wirkung hat, geht auch § 21 StGB aus; andernfalls könnte die akute Alkoholintoxikation nicht als krankhafte seelische Störung zu einer erheblich verminderten Schuldfähigkeit führen. Vor diesem Hintergrund wird in der Rechtsprechung regelmäßig im Sinne eines allgemeinkundigen Erfahrungssatzes gefolgert, dass eine alkoholische Berauschung generell das Risiko strafbaren Verhaltens, insbesondere im Bereich der Gewalt- und Sexualdelikte erhöht. (Bearbeiter)

3. Das so beschriebene dem Alkoholkonsum selbst innewohnende Risiko zählt zum Allgemeinwissen. Es ist selbst Menschen von geringer Lebenserfahrung in aller Regel bekannt. Der Alkoholkonsum stellt somit für jedermann erkennbar eine abstrakte Gefahr für strafrechtlich geschützte Rechtsgüter dar, die sich, falls der Sich-Betrinkende eine rechtswidrige Tat begeht, in der konkreten Rechtsgutsgefährdung oder Rechtsgutsverletzung realisiert. Geht jemand dieses allgemeinkundige Risiko einer Alkoholintoxikation vorwerfbar ein, sind bereits allein dadurch das Handlungsunrecht seiner im Zustand der erheblich verminderten Schuldfähigkeit begangenen Tat sowie die Tatschuld signifikant erhöht. (Bearbeiter)

4. Dass es sich bei dem selbstverantwortlichen Sich-Betrinken um ein tatschuldrelevantes Merkmal handelt, entspricht den Regelungen des § 323a StGB und des § 122 OWiG zugrundeliegenden Wertungen. Die Vorschriften lassen Rückschlüsse auf die vom Gesetzgeber vorgenommene Beurteilung zu, dass es sich bei dem

schuldhaft herbeigeführten Rausch nicht um eine sozialadäquate, wertneutrale Erscheinung handelt, sondern dass ihm als offenkundigem Gefahrenherd ein Unwert anhaftet, der geeignet ist, das Ob und das Wie strafrechtlicher Sanktionen zu bestimmen. (Bearbeiter)

5. Bei § 21 StGB handelt es sich um einen Schuldminderungsgrund, an den eine Strafzumessungsregel anknüpft. Der vermindert schuldfähige Täter ist für seine Tat verantwortlich und wird deshalb für sie bestraft. Mit der Möglichkeit der Strafmilderung trägt § 21 StGB indes der Tatsache Rechnung, dass normabweichende psychologische Zustandsbilder es einem Schuldfähigen erheblich schwerer machen können, sich normgerecht zu verhalten, weswegen die vom Gesetz für den Regelfall vorgesehene Strafe möglicherweise das schuldangemessene Strafmaß übersteigt. (Bearbeiter)

6. Der Schuldgehalt der Tat bestimmt sich allerdings nicht allein nach dem Grad der Schuldfähigkeit des Täters, sondern nach den gesamten für die Tatschuld relevanten Umständen des Einzelfalls. Es ist möglich, dass die Tat trotz verminderter Schuldfähigkeit des Täters ihrem Schuldgehalt nach immer noch schwerer wiegt als der denkbar leichteste Regelfall, der dem Gesetzgeber bei der Bestimmung der Regelstrafdrohung eines Delikts vorgeschwebt hat. Dem trägt die Vorschrift des § 21 StGB Rechnung, indem sie lediglich eine fakultative Strafmilderung vorsieht. Denn die verminderte Schuldfähigkeit verringert die Tatschuld nicht in allen Fällen so stark, dass der weniger gewichtige Schuldgehalt im Normalstrafrahmen nicht zutreffend erfasst werden kann. (Bearbeiter)

7. Über die fakultative Strafrahmenverschiebung nach den §§ 21, 49 Abs. 1 StGB entscheidet das Tatgericht nach seinem pflichtgemäßen Ermessen auf Grund einer Gesamtwürdigung der im Einzelfall bedeutsamen Umstände. Dabei folgt aus dem für die Regelung des § 21 StGB wesentlichen Schuldprinzip auch, dass die tatgerichtliche Ermessensentscheidung, ob eine Strafmilderung nach §§ 21, 49 Abs. 1 StGB vorzunehmen oder zu versagen ist, nach dem Schuldgehalt der Tat, also unter Berücksichtigung aller schuldrelevanten Umstände des Einzelfalls, zu treffen ist. Präventiven Erwägungen kommt in diesem Zusammenhang keine Bedeutung zu. (Bearbeiter)

8. Im Rahmen der Ermessensausübung ist im Ausgangspunkt Bedacht darauf zu nehmen, dass auf Grund der erheblichen Verminderung der Schuldfähigkeit der Schuldgehalt der Tat in aller Regel verringert ist. Um dem Prinzip zu genügen, dass die Strafe das Maß der Schuld nicht überschreiten darf, erfordert die Versagung einer Strafrahmenverschiebung nach §§ 21, 49 Abs. 1 StGB schulderhöhende Umstände, die diese Schuldminderung kompensieren. (Bearbeiter)

9. Die Wertungen des Tatgerichts, insbesondere die Gewichtung der für und gegen eine Strafrahmenverschiebung sprechenden Umstände des Einzelfalls, sind in der Revisionsinstanz allein auf Rechtsfehler zu überprüfen. Hat es die für die Beurteilung wesentlichen tatsächlichen Grundlagen hinreichend ermittelt und berücksichtigt, so kann das Revisionsgericht nur beanstanden, dass es gesetzlich vorgegebene Wertungsmaßstäbe missachtet oder eine gerechtem Schuldausgleich nicht mehr entsprechende Strafe verhängt hat. (Bearbeiter)


Entscheidung

302. BGH 3 StR 515/17 – Beschluss vom 19. Dezember 2017 (LG Düsseldorf)

Umfang der gesamtschuldnerischen Haftung für Schmerzensgeld bei mittäterschaftlich begangener Körperverletzung (wechselseitige Zurechnung; gemeinsamer Tatplan; Exzess; Genugtuungsfunktion des Schmerzensgeldes bei vorsätzlicher Körperverletzung).

§ 224 StGB; § 840 BGB

Der Umfang der gesamtschuldnerischen Haftung nach § 840 Abs. 1 BGB richtet sich prinzipiell nach den für das Strafrecht entwickelten Grundsätzen. Die wechselseitige Zurechnung der einzelnen Tatbeiträge reicht daher nicht weiter als der gemeinsame Vorsatz und scheidet aus, soweit einer der Mittäter im Exzess Handlungen begeht, die vom gemeinsamen Tatplan und dem Vorsatz der anderen nicht gedeckt sind. Auch die Genugtuungsfunktion des Schmerzensgeldes bei vorsätzlichen Körperverletzungsdelikten vermag an dieser Beurteilung nichts zu ändern.


Entscheidung

368. BGH 4 StR 648/17 – Beschluss vom 14. Februar 2018 (LG Münster)

Einziehung von Taterträgen bei Tätern und Teilnehmern (Voraussetzungen einer Einziehungsanordnung).

§ 73 Abs. 1 nF StGB

Einzuziehen ist grundsätzlich jeder Vermögenswert („etwas“, den der Täter oder Teilnehmer „durch“ oder „für“ eine rechtswidrige Tat (= Erwerbstat) „erlangt“ hat. „Durch“ die rechtswidrige Tat sind Vermögenswerte erlangt, die dem Täter oder Teilnehmer aufgrund bzw. unmittelbar aus der Verwirklichung des Tatbestandes selbst in irgendeiner Phase des Tatbestands zufließen. „Für die Tat“ sind Vorteile erlangt, wenn sie dem Beteiligten als Gegenleistung für sein rechtswidriges Handeln gewährt werden („Lohn“), jedoch nicht auf der Tatbestandsverwirklichung selbst beruhen.


Entscheidung

360. BGH 4 StR 351/17 – Beschluss vom 21. Dezember 2017 (LG Hagen)

Grundsätze der Strafzumessung (Berücksichtigung weiterer noch nicht abgeurteilter Straftaten).

§ 46 Abs. 1 StGB

Zwar ist es nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zulässig, bei der Strafzumessung zu berücksichtigen, dass der Angeklagte noch weitere nicht abgeurteilte Straftaten begangen hat; dies gilt allerdings nur, wenn diese Taten prozessordnungsgemäß und so bestimmt festgestellt sind, dass sie in ihrem wesentlichen Unrechtsgehalt abzuschätzen sind und eine unzulässige strafschärfende Berücksichtigung des bloßen Verdachts der Begehung weiterer Straftaten ausgeschlossen werden kann.


Entscheidung

365. BGH 4 StR 529/17 – Beschluss vom 7. Februar 2018 (LG Essen)

Grundsätze der Strafzumessung (Gewichtung einer wahrheitswidrigen Notwehrbehauptung als prozessuales Verteidigungsverhalten).

§ 32 StGB; § 46 Abs. 2 StGB

1. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist es einem Angeklagten grundsätzlich nicht verwehrt, sich mit der Behauptung zu verteidigen, er habe in Notwehr gehandelt. Soweit damit Anschuldigungen gegen eine andere Person verbunden sind, werden die Grenzen eines zulässigen Verteidigungsverhaltens dadurch nicht überschritten.

2. Eine wahrheitswidrige Notwehrbehauptung kann erst dann straferschwerend gewertet werden, wenn Umstände hinzukommen, nach denen sich dieses Verteidigungsverhalten als Ausdruck einer zu missbilligenden Einstellung darstellt.


Entscheidung

304. BGH 3 StR 586/17 – Beschluss vom 23. Januar 2018 (LG Wuppertal)

Rechtsfehler bei der Strafzumessung im Betäubungsmittelstrafrecht (Doppelverwertungsverbot; in-den-Verkehr-Gelangen der Betäubungsmittel; Art und Gefährlichkeit des Rauschgifts; mittlere Gefährlichkeit von Amphetamin; „weiche“ Drogen).

§ 29 BtMG; § 46 StGB

1. Es begründet regelmäßig einen Verstoß gegen das in § 46 Abs. 3 StGB geregelte Doppelverwertungsverbot, wenn bei der Strafzumessung zum Nachteil des Angeklagten gewertet wird, dass die gehandelten Betäubungsmittel in den Verkehr gelangt sind. Denn das Handeltreiben mit Betäubungsmitteln umfasst typischerweise deren Verkauf an andere Personen und damit auch, dass die Betäubungsmittel in den Verkehr geraten.

2. Der Art des Rauschgifts und seiner Gefährlichkeit kommt im Rahmen der Strafzumessung grundsätzlich eine eigenständige Bedeutung zu. Dabei besteht ein für die Strafzumessung maßgebliches Stufenverhältnis von so genannten harten Drogen wie Heroin oder Kokain über Amphetamin, das auf der Gefährlichkeitsskala einen mittleren Platz einnimmt, bis hin zu so genannten weichen Drogen wie Cannabis. Daran gemessen ist es verfehlt, dem Umstand, dass es sich bei Amphetamin nicht um eine weiche Droge handelt, strafschärfendes Gewicht beizumessen.


Entscheidung

331. BGH 4 StR 585/17 – Beschluss vom 13. Februar 2018 (LG Konstanz)

Bildung einer Gesamtstrafe (erforderliche Strafzumessungsüberlegungen: Darstellung im Urteil; revisionsrechtliche Überprüfbarkeit).

§ 54 Abs. 1, Abs. 2 StGB; § 267 Abs. 3 Satz 1 StPO

1. Die Gesamtstrafenbildung nach § 54 Abs. 1 StGB ist ein eigenständiger Zumessungsakt, bei dem vor allem das Verhältnis der einzelnen Taten zueinander, ihre größere oder geringere Selbstständigkeit, die Häufigkeit der Begehung, die Gleichheit oder Verschiedenheit der verletzten Rechtsgüter und der Begehungsweisen sowie das Gesamtgewicht des abzuurteilenden Sachverhalts zu berücksichtigen sind. Zu ihrer Begründung braucht der Tatrichter nach § 267 Abs. 3 Satz 1 StPO nur die bestimmenden Zumessungsgründe im Urteil darzulegen. In einfach gelagerten Fällen bedarf es dabei nur weniger Hinweise; eine Bezugnahme auf bei der Bildung der Einzelstrafen abgehandelte Gesichtspunkte ist grundsätzlich zulässig (st. Rspr.).

2. Da der Summe der Einzelstrafen bei der Bestimmung der Gesamtstrafe zumeist nur ein geringes Gewicht zukommt, ist eine nähere Begründung aber erforderlich, wenn sich die Gesamtstrafe der durch § 54 Abs. 2 Satz 1 StGB bestimmten Obergrenze des Strafrahmens annähert und sich die Gründe hierfür nicht von selbst aus den Feststellungen ergeben (st. Rspr.). Fehlt es in einem solchen Fall an einer näheren Begründung, ist die Besorgnis gerechtfertigt, dass sich der Tatrichter bei der Bemessung der Gesamtstrafe nicht an den hierfür maßgeblichen Kriterien, sondern – rechtsfehlerhaft – an der Summe der Einzelstrafen orientiert hat.