HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Februar 2015
16. Jahrgang
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Aufsätze und Entscheidungsanmerkungen

Erinnerungsverlust der Urkundspersonen – ein revisionsrechtliches Problem?

Zugleich Besprechung von BGH 3 StR 57/14 – Beschluss vom 10.06.2014 = HRRS 2014 Nr. 912.

Von RA Klaus-Ulrich Ventzke, Hamburg

I.

Unlängst konnten Leser der Online-Ausgabe des "manager magazin" nachverfolgen, mit welcher Intensität in einer bei dem Landgericht Hamburg anhängigen Wirtschaftsstrafsache zwischen den Verfahrensbeteiligten erbitterter Streit darüber ausgebrochen war, ob ein (Vorgänge vor der Hauptverhandlung aufgreifendes) Befangenheitsgesuch rechtzeitig i.S.d. § 25 Abs. 1 i.V.m. § 243 Abs. 2 S. 2 StPO[1] gestellt worden war. Durchaus launig berichtete der Prozeßbeobachter Christoph Rottwilm:

"Und dann, für die Genießer im Gerichtssaal, die Kür: (…) Und wie war das noch mit den Befangenheitsrügen zu Beginn des ersten Verhandlungstages? Wurden sie von der Verteidigung gestellt, nachdem der Richter die Präsenz der am Prozess beteiligten Personen festgestellt hatte, und bevor der Angeklagte zu seinen persönlichen Verhältnissen befragt wurde? Oder war es nach der Präsenzfeststellung und nach der Vernehmung zu den persönlichen Verhältnissen? (…) Der Hintergrund: Laut Strafprozessordnung müssen Befangenheitsanträge gestellt werden, bevor das eigentliche Prozessgeschehen begonnen hat. Das heißt, zunächst stellt der Richter fest, ob alle erforderlichen Parteien im Saal anwesend sind. Bevor er dann beginnen kann, den Angeklagten zu seinen persönlichen Verhältnissen zu befragen, muss die Verteidigung gegebenenfalls bereits ihren Antrag auf Aus-
wechselung der Richter wegen möglicher Befangenheit stellen. Im Schulte-Prozess hatte das Gericht die Befangenheitsanträge abgewiesen, weil sie nach Auffassung der Richter zu spät, nämlich erst nach der Vernehmung Schultes zu seinen persönlichen Verhältnissen gestellt wurden. Schultes Verteidiger Wolf Römmig jedoch verlas am heutigen dritten Prozesstag eine Erklärung, derzufolge das Gericht die Präsenzfeststellung und die Vernehmung unzulässiger Weise zu einem einzigen Vorgang zusammengefasst habe. Somit habe es gar nicht die Möglichkeit gegeben, mit den Anträgen im richtigen Moment dazwischen zu grätschen, so Römmig. Der Strafverteidiger ging sogar so weit, dem vorsitzenden Richter Loth Vorsatz zu unterstellen, also die Absicht, möglicherweise absehbare Befangenheitsanträge auf diese Weise bewusst zu verhindern. Ein Vorwurf, den Richter Loth sogleich deutlich zurückwies. Neben Römmig äußerte sich zudem der Angeklagte Schulte zum Ablauf des ersten Verhandlungstages. Er sagte erneut, ein faires Verfahren sehe nach seiner Ansicht anders aus. Mit Blick auf den fraglichen Zeitpunkt der Befangenheitsanträge betonte Schulte, er sei am ersten Tag zu seiner Person überhaupt nicht vernommen worden. Das sei schon daran zu erkennen, dass er an dem gesamten Prozesstag kein einziges Wort von sich gegeben habe. Nicht einmal ein Kopfnicken, so Schulte weiter, sei auf die Fragen zu seiner Person von ihm in Richtung der Richter gesendet worden. Als mögliche Zeugen für diese Behauptung nannte der Medizinprofessor sämtliche Anwesenden im Gerichtssaal, inklusive der Zuschauer und der Pressevertreter. Letztere allerdings diskutierten den Sachverhalt kurz darauf in einer Pause vor dem Saal - und konnten sich an die Ereignisse, die immerhin bereits etwa drei Wochen zurückliegen, merklich weniger präzise erinnern als der Angeklagte selbst."[2]

Daß schon in der tatgerichtlichen Instanz derartiger Streit ausbrechen konnte, läßt Schlimmes für die Sachverhaltsfeststellung in einem etwaigen Revisionsverfahren befürchten, in dem die Rechtmäßigkeit dieses tatrichterlichen Prozedierens zur Überprüfung des Revisionsgerichts gestellt würde. Das ist – auch wenn eine gesetzlich angeordnete Präklusionswirkung Verfahrensgegenstand war – Wasser auf die Mühlen derjenigen, die in der Diskussion der letzten Jahre über richterrechtlich bewirkte Neujustierungen des Revisionsverfahrens,[3] insbesondere das Vordringen des Präklusionsgedankens und die Etablierung eines Verfahrens der Rügeverkümmerung,[4] jenseits aller feinsinnigen dogmatischen Erwägungen darauf hingewiesen hatten, bei der Handhabung verfahrensrechtlicher Schutzvorschriften sei menschlichen Schwächen als Störfaktor ausreichend Rechnung zu tragen. Erinnerungsverlust und Eigeninteresse am Verfahrensgang[5] liegen als die Gerechtigkeit des Verfahrens kontaminierende Umstände ebenso nahe wie das allein situationsbedingte Unterbleiben des "Reingrätschens", also der gebotenen rechtzeitigen Reaktion auf ein Prozeßgeschehen.[6] Daß die Tagesform eines Prozeßbeteiligten[7] über das Schicksal eines Angeklagten entscheiden kann, wird sich auch im rechtsstaatlichen Strafverfahren nie vermeiden lassen, nichts spricht freilich dafür, diese Abhängigkeit - wie in den genannten Entwicklungen strukturell angelegt - richterrechtlich zu forcieren.[8]

II.

Der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in seinem Beschluß vom 10.06.2014 einen prozessualen Weg gefunden, in einem vergleichbar gelagerten Fall einer Besetzungsrüge gleichwohl zu einem angemessenen Ergebnis zu gelangen.[9]

1. Auch in dem bei dem Landgericht Wuppertal anhängigen Verfahren ging es darum, ob die (beiden revidierenden) Angeklagten und ihre Verteidiger eine gesetzliche Ausschlußvorschrift hinreichend beachtet hatten. Im Fall des § 222a StPO kann die Präklusion eines Besetzungseinwandes (und damit der späteren Geltendmachung des absoluten Revisionsgrundes des § 338 Nr. 1 StPO) nur verhindert werden, wenn die Rechtswidrigkeit der Besetzung in der tatgerichtlichen Hauptverhandlung "bis zum Beginn der Vernehmung des ersten Angeklagten zur Sache" (vgl. § 243 Abs. 5 S. 2 StPO) ordnungsgemäß beanstandet wird (§ 222b Abs. 1 StPO). Der Besetzungseinwand wie die Vernehmung zur Sache sind als wesentliche Förmlichkeiten (§ 273 Abs. 1 StPO) zu protokollieren und haben an der Beweiskraft des § 274 StPO teil.

2. Daß damit aber nicht alle Probleme für die revisionsrechtliche Beweisstation ausgeschlossen sind, ergibt sich daraus, daß die revisionsgerichtliche Rechtsprechung dem Vorsitzenden des Tatgerichts recht weitgehende Freiheiten einräumt, die Entgegennahme von Anträgen und Erklärungen Verfahrensbeteiligter an seinen Vorstellungen von einem sachgerechten Gang der Hauptverhandlung (§ 238 Abs. 1 StPO) auszurichten. Diesen Grundsatz betont der Senat (Rn. 18; meine Hervorhebung) in der vorliegenden Entscheidung, indem er – nicht tragend – ausdrücklich ausführt, "dass der Vorsitzende grundsätzlich nicht verpflichtet ist, Anträge der Verfahrensbeteiligten zu jeder Zeit entgegenzunehmen (…). Werden sie zu einem ungünstigen Zeitpunkt gestellt, kann er – auch bei fristgebundenen Anträgen – den Antragsteller auf einen späteren Zeitpunkt verweisen (…)."

Diese dem Gesetz nicht ohne weiteres zu entnehmende[10] Befugnis war es indes, die vorliegend prozessual nur Verwirrung gestiftet hatte. Der mit ihrer tatrichterlichen Nutzung potentiell einhergehenden Gefahr für die Verteidigungsrechte des Angeklagten hat der Senat freilich in doppelter Hinsicht entgegengewirkt, indem er einerseits die Beweiskraft des Protokoll sorgfältig geprüft und alsdann mit einem zutreffenden Beweismaßstab das Freibeweisverfahren angewendet hat (a)), andererseits prozessuale Vorkehrungen für den Fall angedeutet hat, daß die Fristwahrung gerade aufgrund des Verhaltens des Vorsitzenden gefährdet zu werden droht (b)).

a) Der Senat (Rn. 7) gelangt zu dem Ergebnis, unter Zugrundelegung des Hauptverhandlungsprotokolls (§§ 273, 274 StPO) wäre die Präklusionswirkung (§ 222b Abs.1 StPO) dann und nur dann eingetreten, wenn die erwähnte Verteidigererklärung des nicht revidierenden Mitangeklagten I. nebst Autorisierung durch ihn verfahrensrechtlich bereits als Sacheinlassung eines Angeklagten zu werten gewesen wäre. Das Hauptverhandlungsprotokoll bot dem Senat (Rn. 6) nämlich folgendes Bild vom Gang des Verfahrens:

"Ausweislich des von der Revision vorgelegten[11] Protokolls des ersten Hauptverhandlungstages kündigte zunächst ein Verteidiger des Angeklagten K., Rechtsanwalt W., vor Verlesung der Anklageschrift an, einen Antrag zur Gerichtsbesetzung stellen zu wollen. Ein Verteidiger des Angeklagten L., Rechtsanwalt R., erklärte, dass er ebenfalls einen solchen Antrag stellen wolle. Im Anschluss daran ist protokolliert, dass die Angeklagten Angaben über ihre persönlichen Verhältnisse machten, die Vertreterin der Staatsanwaltschaft den Anklagesatz verlas, festgestellt wurde, dass die Anklage mit Eröffnungsbeschluss der Strafkammer zur Hauptverhandlung zugelassen worden war und die Angeklagten belehrt wurden, dass es ihnen freistehe, sich zur Beschuldigung zu äußern oder nicht zur Sache auszusagen. Das Protokoll weist sodann aus, dass Rechtsanwalt Dr. S., der Verteidiger des ehemaligen Mitangeklagten I., erklärt habe, sein Mandant räume die ihn betreffenden Anklagevorwürfe im Wesentlichen ein, und der ehemalige Mitangeklagte I. erklärt habe, dies sei richtig so. Erst im Anschluss daran verlas laut Protokoll Rechtsanwalt W. den von ihm vorformulierten Besetzungseinwand, der als Anlage zum Protokoll genommen wurde und dem sich Rechtsanwalt R. für den Angeklagten L. anschloss."

Der Senat (Rn. 8) sieht sich freilich gehindert, seine Entscheidung auf diesen Protokollinhalt zu stützen, da dessen formelle Beweiskraft (§ 274 S. 2 StPO) entfallen sei.

aa) Allerdings hatte der Verteidiger des nicht revidierenden Angeklagten I. auf eine Anfrage des Generalbundesanwalts (Rn. 14) der Tendenz nach die Richtigkeit des im Hauptverhandlungsprotoll dokumentierten Verfahrensgangs bestätigt, indem er (Rn. 15) ausgeführt hatte, "er sei sich sicher, dass er am ersten Hauptverhandlungstag erklärt habe, dass sein Klient die Vorwürfe im Wesentlichen einräume und dieser das bestätigt habe; `eine detaillierte Einlassung´ sei indes erst am zweiten Hauptverhandlungstag abgegeben worden."

bb) Diesen Ausführungen sollte aus Sicht des Senats letztlich keine durchgreifende Bedeutung zukommen. Das folgte für ihn (Rn. 9) im revisionsrechtlichen Ausgangspunkt seiner Prüfung aus dem in ständiger Rechtsprechung entwickelten Grundsatz, daß die Beweiskraft des Protokolls entfällt, wenn und soweit sich Vorsitzender oder Urkundsbeamter nachträglich zugunsten des Revisionsführers vom Protokollinhalt distanzieren.[12] Das war vorliegend geschehen. Einer der Verteidiger hatte nämlich – offenbar vor Ablauf der Revisionsbegründungsfrist – unter Beifügung anwaltlicher Versicherungen eine Berichtigung des Protokolls dahingehend begehrt,

"dass er die `Besetzungsrüge´ bereits zu Beginn der Hauptverhandlung habe erheben wollen, ihm das Wort dazu nicht erteilt worden sei, auf sein Drängen dieser Umstand und die Zusicherung des Vorsitzenden, dass dem Angeklagten K. durch die spätere Antragstellung keine Nachteile entstehen würden, in das Hauptverhandlungsprotokoll aufgenommen worden seien und er sodann den Besetzungseinwand vor der Vernehmung des ersten Angeklagten zur Sache – eine Einlassung eines Angeklagten habe es am ersten Hauptverhandlungstag nicht gegeben – erhoben habe. Zur Glaubhaftmachung überreichte er anwaltliche Versicherungen von sich selbst und den anderen drei Verteidigern der Angeklagten." (Rn. 10)

Wäre es so gewesen, wäre der Besetzungseinwand rechtzeitig angebracht worden. Der Vorsitzende wies diesen Antrag mit der lapidaren Begründung zurück, weder er noch die Urkundsbeamtin hätten nach Ablauf von sechs Monaten eine konkrete Erinnerung an den Verfahrensgang an jenem Hauptverhandlungstag (Rn. 10). Mit den hiervon unbeirrt den absoluten Revisionsgrund des § 338 Nr. 1 StPO geltend machenden Revisionsbegründungen war gegen den Vorsitzenden der Vorwurf der Protokollfälschung erhoben worden. Das motivierte ihn zur Abgabe einer dienstlichen Erklärung, mit der er sich weiter auf seine und der Urkundsbeamtin Erinnerungslosigkeit berief. Hiermit ließ er es freilich nicht bewenden. Etwas

indigniert berichtet der Senat (Rn. 11) über den weiteren Inhalt dieser Erklärung:

"Nach weiteren Erwägungen erklärte er, er könne sich eine objektiv unzutreffende Protokollierung zwar nicht vorstellen, wenn eine solche aber vorliege, handele es sich nicht um eine bewusste Falschbeurkundung, sondern lediglich um eine nachlässige Protokollierung. Er halte es indes `allenfalls für denkbar´, dass er nach der Belehrung der Angeklagten erklärt habe, infolge der vorgerückten Zeit sollten die Einlassungen der Angeklagten bzw. die Gelegenheit dazu auf den zweiten Hauptverhandlungstag verschoben werden, und der Verteidiger des ehemaligen Mitangeklagten I. daraufhin mit dessen Zustimmung eine geständige Einlassung seines Mandanten lediglich angekündigt habe. Dies könne die Protokollführerin möglicherweise als Einlassung zur Sache gewertet und entsprechend protokolliert haben, was ihm bei der späteren Lektüre des Protokolls nicht aufgefallen sei."

Diese Ausführungen des Kammervorsitzenden machten indes für das Senat (Rn. 12) den Weg frei, sich für die Prüfung der tatsächlichen Grundlagen der Verfahrensrüge von den Feststellungen des Hauptverhandlungsprotokolls zu lösen. Dem angesichts der vom Senat (Rn. 12) zitierten, einschlägigen Rechtsprechung eher befremdlichen Rettungsversuch des Generalbundesanwalts, darauf abzuheben, die Urkundsbeamten hätten das Protokoll immerhin nicht ausdrücklich als unrichtig bezeichnet, verweigerte er sich, um in der gebotenen Deutlichkeit[13] aufzuzeigen, bei unvoreingenommener Betrachtungsweise (Rn. 12: "…auf rationaler Basis…") könnten die gewundenen Ausführungen des Vorsitzenden nur dahingehend verstanden werden, er sei nicht mehr von der Richtigkeit des von ihm mitunterzeichneten Protokollinhalts überzeugt.

cc) Damit hatte der Senat (Rn. 13 ff.) in einem nächsten Schritt zu prüfen, ob im Freibeweisverfahren[14] die Richtigkeit des Sachvortrags der materiell begründeten (Rn. 19 ff.) Verfahrensrüge zur Zulässigkeitsvoraussetzung der rechtzeitigen Beachtung der Beanstandungsobliegenheit (§ 222b Abs. 1 StPO) nachgewiesen werden konnte. Diese Frage bejaht der Senat (a.a.O. Rn. 14) überzeugend und nimmt hierbei auch in den Blick, daß die Kammer selbst den Besetzungseinwand auch nicht etwa – wozu sie ggfls. verpflichtet gewesen wäre[15] – als unzulässig behandelt, sondern als unbegründet zurückgewiesen hatte. Wörtlich:

"Aufgrund der auch im Revisionsverfahren vorgelegten anwaltlichen Versicherungen[16] der Verteidiger der Angeklagten und der durch den Generalbundesanwalt eingeholten Mitteilung des Verteidigers des ehemaligen Mitangeklagten I., Rechtsanwalt Dr. S., ist der Senat jedenfalls davon überzeugt, dass am ersten Hauptverhandlungstag vor Erhebung des Besetzungseinwands durch Rechtsanwalt W. eine Einlassung des ehemaligen Mitangeklagten I. nicht abgegeben, sondern – entsprechend den Erwägungen in der dienstlichen Erklärung des Vorsitzenden der Strafkammer – nur angekündigt worden ist. Dies steht mit den anwaltlichen Versicherungen aller Verteidiger im Einklang, nach denen eine Einlassung eines Angeklagten am ersten Hauptverhandlungstag nicht abgegeben worden sei."

Die oben zitierte weitergehende Erklärung des Rechtsanwaltes Dr. S. hält der Senat (Rn. 16) "angesichts des geschilderten Ablaufs und der Pauschalität der Erklärung, die Vorwürfe würden `im Wesentlichen´ eingeräumt", ohne weiteres mit seiner Feststellung für vereinbar, "dass eine Einlassung des ehemaligen Mitangeklagten I. damit am ersten Hauptverhandlungstag lediglich für den nächsten Hauptverhandlungstag angekündigt, nicht aber bereits abgegeben worden ist." Eine weitergehende Sachaufklärung sieht der Senat (Rn. 16) nicht als veranlaßt an und verweist indiziell auf das (angesichts des erhobenen Vorwurfs der Protokollfälschung allerdings kaum nachvollziehbare[17]) Unterbleiben der Abgabe einer Revisionsgegenerklärung durch die örtliche Staatsanwaltschaft, um mit Recht abschließend folgende antizipierende Beweiswürdigung vorzunehmen:

"Nachdem der Vorsitzende der Strafkammer und die Protokollführerin keine Erinnerung mehr an die Abläufe des Hauptverhandlungstages (…), sieht der Senat von der Einholung weiterer dienstlicher Erklärungen, etwa der Beisitzer, der Schöffen oder der Sitzungsvertreterin der Staatsanwaltschaft ab: Da schon die Urkundspersonen sich nicht mehr an die konkreten, von ihnen zu beurkundenden Abläufe erinnern können, steht nicht zu erwarten, dass die Verfahrensbeteiligten, die weniger Veranlassung hatten, sich die genauen Abläufe einzuprägen, zur Sachaufklärung beitragen könnten."

b) Der Senat läßt es hiermit allerdings nicht bewenden, sondern äußert sich auch zu der Frage, welchen Pflichten sich der Vorsitzende ausgesetzt gesehen haben könnte, hätte er von seiner eingangs erwähnten Befugnis Gebrauch gemacht hatte, einen befristungsbedrohten Antrag nicht sofort entgegenzunehmen. Trifft ihn nicht gleichsam aus prozessualer Ingerenz die Verpflichtung, den Antragstellern zum nächstmöglichen Zeitpunkt innerhalb der Frist ausdrücklich "von sich aus das Wort zur Erhebung der angekündigten, aber auf sein Betreiben zurückgestellten Besetzungseinwände zu erteilen" (Rn. 18)? Daß hierfür schon nach dem prozessualen Ablauf gute Gründe streiten, hebt der Senat (Rn. 18) anschaulich hervor:

"Es ist kein Grund ersichtlich, aus dem die Verteidiger der Angeklagten von sich aus auf die Erhebung der Besetzungseinwände vor Verlesung der Anklageschrift hätten verzichten und stattdessen diese nur hätten ankündigen sollen; der Vorsitzende Richter hat in seiner dienstlichen Erklärung – schon aufgrund seiner fehlenden Erinnerung – nicht in Abrede gestellt, die Verteidiger zur Zurückstellung der Besetzungseinwände gebracht zu haben. Hätte bei einem solchen Verfahrensablauf aber der Vorsitzende Richter von sich aus auf die Besetzungseinwände zurückkommen müssen, hätte er dies auch zum gebotenen Zeitpunkt und damit vor Vernehmung des ersten Angeklagten zur Sache tun müssen."

Der Senat (Rn. 18 a.E.) deutet mit Blick hierauf nicht nur überzeugend an, eine Verletzung dieser Pflicht wäre mit der prozessualen Fürsorgepflicht[18] nicht zu vereinbaren, sondern erwägt ausdrücklich und insoweit wohl verfahrensrechtliches Neuland betretend, es könne in diesem Fall deshalb zweifelhaft erscheinen, "den Angeklagten die verspätete Erhebung des Besetzungseinwandes anzulasten und sie mit der Rüge nach § 338 Nr. 1 StPO auszuschließen." Alles andere liefe allerdings auch auf eine Einladung an den Tatrichter hinaus, durch eine listige Verfahrensgestaltung Beanstandungsmöglichkeiten des Angeklagten leerlaufen zu lassen.[19]

Das dürfte im Ergebnis erst recht dann gelten, wenn der Vorsitzende – wie in dem unter I. geschilderten Prozeß von der Verteidigung in den Raum gestellt – das Verfahren so gestaltet, daß praktisch das "Hineingrätschen" der Verteidigung, also die fristgerechte Beanstandung bzw. Antragsanbringung in der Hauptverhandlung, vereitelt wird. Allerdings werden Verteidiger sehr sorgfältig zu prüfen haben, ob zur Vermeidung derartiger prozessualer Risikolagen bei für die spätere Erhebung von Revisionsrügen essentiellen, fristgebundenen Beanstandungen, die genauso wirksam auch vorab außerhalb der Hauptverhandlung angebracht werden können, dieser sicherere, da von der Dynamik der Hauptverhandlung unabhängige Weg beschritten werden sollte. Das gilt erst recht dann, wenn mit ihnen – wie hier – Grundrechtsverletzungen durch die Strafjustiz (Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG) entgegengetreten werden soll.[20]

III.

Ist damit alles gut? Belegt die im Kern überzeugend begründete Entscheidung des Senats, daß die einleitend in Erinnerung gerufenen Bedenken gegen manch neuere Tendenz in der revisionsgerichtlichen Rechtsprechung nur womöglich verteidigertypischem Alarmismus geschuldet sind? Wird es der BGH schon richten?

Daß vorliegend der (vorgeschützte) Erinnerungsverlust der Urkundspersonen im Ergebnis nicht zu einem revisionsrechtlichen Problem wurde, die materiell begründete Verfahrensrüge also durchgreifen konnte, war nicht selbstverständlich. Es bedarf wenig an Vorstellungskraft, um zu ermessen, wie – etwa mit schlichtem Hinweis auf die Beweisproblematik – andere Revisionsgerichte sich dieses Falles angenommen haben könnten.

Vor allem aber: Es ist eine der Verdienste der gedankenreichen Habilitationsschrift René Börners, auf die Gefahr aufmerksam gemacht zu haben, die entsteht, wenn in die Auslegung strafverfahrensrechtlicher Normen das "Weltbild des redlichen Strafrichters"[21] Einzug hält. Diese Perspektive einzunehmen, ist fatal: Sie verstellt den Blick darauf, daß Förmlichkeiten eine notwendige Bedingung "zur Eindämmung der auf Seiten des Gerichts liegenden Gefahren für den Wahrheitsanspruch und die Akzeptanz der Strafrechtspflege"[22] sind, glaubt doch der redliche Strafrichter, jede ihn beschränkende Form sei letztlich pure Förmelei, weshalb ihm die Einsicht verschlossen zu bleiben droht, daß "gerade das Gericht als solches eine maßgebliche Fehlerquelle ist".[23]

Wie anders soll man denn – jedenfalls bei wohlwollender Betrachtungsweise - das Verhalten des Landgerichts in Wuppertal – bezogen sowohl auf die Handhabung des Protokolls als auch die Bestimmung des gesetzlichen Richters – interpretieren?


[1] Vgl. zum Norminhalt Franke, in: S/S/W, StPO, 1. Aufl. (2014), § 243, Rn. 6.

[2] http://www.manager-magazin.de/finanzen/artikel/prozess-ex-woelbern-chef-schulte-zeugin-durchleuchtet-woelbern-invest-a-974316.html .

[3] Vgl. nur den Überblick bei Ventzke NStZ 2011, 481 ff.

[4] Diese Entwicklungen sind – neben den Eingriffen in das Beweisantragsrecht - Gegenstand der weit ausholenden Studie René Börners, Legitimation durch Strafverfahren (2014), §§ 9, 10.

[5] Vgl. dazu Börner a.a.O. (Fn. 4) S. 255 ff., 259 ff.; für das Rügeverkümmerungsverfahren zu diesem Aspekt aus revisionsgerichtlicher Sicht erhellend BGH 1 StR 75/14 - Urteil vom 04.09.2014, Rn. 102 = HRRS 2015 Nr. 38.

[6] Vgl. dazu Börner a.a.O. (Fn. 4) S. 444 ff.

[7] Ventzke StV 1997, 543, 548.

[8] Dem entgegenzuwirken, ist das Anliegen der Studie Börners a.a.O. (Fn. 4) S. 583.

[9] Randnummern ohne Zusatz beziehen sich auf diese Entscheidung. Die nach Fertigstellung des Manuskripts erschienene Anmerkung von Wollschläger (StV 2015, 100) konnte nicht mehr eingearbeitet werden.

[10] Die vom Senat (Rn. 18) als Begründung zitierten Entscheidungen betreffen gerade keine Präklusionsfälle (BGH 1 StR 368/03 - Beschluß vom 05.11.2003 = HRRS 2004 Nr. 34, Rn. 3 ff.; 3 StR 460/06 - Beschluß vom 24.01.2006 = HRRS 2006 Nr. 279, Rn. 3 f.), in denen der Vorrang der Sachleitungsbefugnis (§ 238 Abs. 1 StPO) sich jedenfalls nicht von selbst versteht. Die unter II. 2. b) gewürdigten Erwägungen des Senats könnten die Problematik möglicherweise ausreichend entschärfen.

[11] Da vorliegend die Gefahr einer Protokollrüge nicht bestand und gem. § 344 Abs. 2 S. 2 StPO möglicherweise auch das Schicksal des Berichtigungsantrages vorzutragen war, empfahl es sich durchaus, das Protokoll mit der Revisionsbegründung vorzutragen.

[12] Z.B. Güntge, in: S/S/W a.a.O. (Fn. 1) § 274, Rn. 8 m.w.N.

[13] Rn. 12: " Der Vorsitzende der Strafkammer hält ausweislich der Ausführungen in seiner dienstlichen Erklärung den vom Protokoll abweichenden Ablauf der Hauptverhandlung ausdrücklich für denkbar, er hält es insoweit für möglich, dass die Protokollführerin die bloße Ankündigung einer Einlassung irrtümlich als Abgabe einer solchen protokolliert habe und ihm dies vor Unterzeichnung des Protokolls nicht aufgefallen sei. Dass er sich eine objektiv unrichtige Protokollierung gleichwohl nicht vorstellen kann, ist demgegenüber schon deshalb ohne maßgebende Bedeutung, weil er gerade keine konkrete Erinnerung mehr an den Ablauf des Hauptverhandlungstages hat. Im Ergebnis hat sich der Vorsitzende Richter damit vom Protokollinhalt in dem Sinne distanziert, dass er einen anderen Ablauf als den protokollierten jedenfalls nicht ausschließen kann."

[14] Zu dessen Leistungsfähigkeit kritisch Börner a.a.O. (Fn. 4) S. 261 ff.

[15] Z.B. Grube, in: S/S/W a.a.O. (Fn. 1) § 222b, Rn. 23.

[16] Dies belegt einmal mehr, wie wichtig es ist, daß Verteidiger während der Hauptverhandlung die Erstellung einer auch in prozessualer Hinsicht aussagekräftigen Mitschrift als Grundlage derartiger Erklärungen sicherstellen.

[17] Vgl. zur Funktion der staatsanwaltschaftlichen Gegenerklärung z.B. Frisch, in: SK, StPO, 4. Aufl. (2014), § 347, Rn. 8 m.w.N.

[18] Dazu z.B. Beulke, in: S/S/W a.a.O. (Fn. 1) Einleitung, Rn. 75.

[19] Bemerkenswert ist, daß offenbar erst der harsche Vorwurf der Protokollfälschung durch die Revisionsverteidigung den Vorsitzenden veranlaßt hatte, mit halbwegs offenen Karten zu spielen. Möglicherweise war er vorher unterschwellig von der Vorstellung beherrscht, der Verweis auf die allseitige Amnesie sei nicht unbehelflich, da nach revisionsrechtlich vorherrschender Auffassung (vgl. Frisch a.a.O. (Fn. 17) § 337, Rn. 75 f.) ein Verfahrensverstoß durch den Beschwerdeführer zu beweisen ist.

[20] Daß ein Prozeßbeginn mit einer den Tatrichter überraschenden Antragsspringflut geeignet sein könnte, das Mandanteninteresse zu befördern, dürfte regelmäßig allenfalls anwaltlichem Kinderglauben geschuldet sein (und zudem bei Strafrichtern – aller Abwegigkeit derartiger Vorstellungen zum Trotz – schwarze rechtspolitische Phantasien über eine ins Zwischenverfahren vorverlagerte Präklusion wecken). Daß Anträge außerhalb der Hauptverhandlung den Fortgang des Verfahrens weitergehend blockieren können (arg. § 29 Abs. 2 StPO), ist demgegenüber als gesetzlich vorgesehene Folge hinzunehmen.

[21] A.a.O. (Fn. 4) S. 189.

[22] A.a.O. (Fn. 4) S. 190.

[23] A.a.O. (Fn. 4) S. 190. Dazu paßt die Beobachtung, daß man kaum sagen können wird, innerhalb der Strafjustiz sei die fundierte Studie von Thomas Darnstädt (Der Richter und sein Opfer – wenn die Justiz irrt, 2013) nachvollziehbar selbstkritisch rezipiert worden. Deren Interesse an der vielfach billigen Polemik Joachim Wagners (Vorsicht Rechtsanwalt, 2014) erscheint jedenfalls deutlich ausgeprägter.