HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

November 2011
12. Jahrgang
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Aufsätze und Entscheidungsanmerkungen

Europarechtliche Verweisungen in Blankettstrafgesetzen und ihre Vereinbarkeit mit dem Bestimmtheitsgebot

Anmerkung zu BGH 5 StR 543/10 – 17. März 2011 (LG Hamburg) = HRRS 2011 Nr. 572

Von Prof. Dr. Helmut Satzger und Wiss. Mitarbeiter RRef. Georg Langheld, München

I. Der BGH hat in seinem Beschluss 5 StR 543/10 zur Strafbarkeit aufgrund sog. Blankettstrafnormen Stellung bezogen. In dem der Entscheidung zu Grunde liegenden Fall hatte das Landgericht Hamburg den Angeklagten wegen Handeltreibens mit Essigsäureanhydrid verurteilt, das nach §§ 3, 19 Abs. 1 Nr. 1 GÜG (§§ 3, 29 Abs. 1 Nr. 1 GÜG aF) unter Strafe steht.

§ 3 GÜG : Es ist verboten, einen Grundstoff, der zur unerlaubten Herstellung von Betäu-
bungsmitteln verwendet werden soll, zu besitzen, herzustellen, mit ihm Handel zu treiben, ….
§ 19 (1) GÜG : Mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer

1. entgegen § 3 einen Grundstoff besitzt, herstellt, mit ihm Handel treibt, ihn, ohne Handel zu treiben, einführt, ausführt, durch den oder im Geltungsbereich dieses Gesetzes befördert, veräußert, abgibt oder in sonstiger Weise einem anderen die Möglichkeit eröffnet, die tatsächliche Verfügung über ihn zu erlangen, erwirbt oder sich in sonstiger Weise verschafft, ...

Dabei handelt es sich – genau betrachtet – um eine sog. Blankettstrafnorm[1], weil sich die Strafbarkeit des Handeltreibens letztlich nicht in Gänze unmittelbar aus dem nationalen Recht ergibt, sondern die zentrale Frage, welche "Grundstoffe" von dem strafbewehrten Verbot des § 3 GÜG erfasst werden, erst durch einen Verweis des § 1 GÜG auf Art. 2 lit. a iVm Anhang I der Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rats vom 11. Februar 2004 (VO (EG) Nr. 273/2004) beantwortet wird.

§ 1 GÜG : Im Sinne dieses Gesetzes ist

1. Grundstoff: ein erfasster Stoff im Sinne des Artikels 2 Buchstabe a in Verbindung mit Anhang I der Verordnung (EG) Nr. 273/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Februar 2004 betreffend Drogenausgangsstoffe (ABl. EU Nr. L 47 S. 1) in ihrer jeweils geltenden Fassung …;

Der deutsche Strafgesetzgeber hat es so letztlich dem europäischen Gesetzgeber überlassen, die Stoffe zu bestimmen, auf die sich das deutsche strafrechtliche Verbot bezieht.

Diese Verweisungstechnik erfreut sich gerade in europarechtlich harmonisierten Rechtsgebieten einer großen Beliebtheit, weil sie teilweise die einzige Möglichkeit darstellt, ein europarechtliches Ge- oder Verbot mit Strafe zu bewehren. Die Schaffung eines supranationalen Straftatbestands des Unionsrechts scheidet auch nach Inkrafttreten des Lissabonner Vertrags aus, weil die Union – von bereichsspezifischen Ausnahmen abgesehen – auch weiterhin nicht strafrechtssetzend tätig werden darf.[2] Gleichzeitig ist die Schaffung eines rein nationalen Straftatbestands nicht möglich, weil hierzu die in der unionsrechtlichen Verordnung enthaltenen und damit unmittelbar wirkenden Voraussetzungen der Strafbarkeit im nationalen Recht wiederholt werden müssten. Dies ist aber nach der ständigen Rechtsprechung des EuGH ausgeschlossen, weil dadurch die unmittelbare Wirkung der Verordnung und somit ihre einheitliche Geltung und einheitliche Auslegung (letztendlich determiniert durch den EuGH) verschleiert würden.[3] Unmittelbar wirkende Regelungen in Verordnungen lassen sich daher nach geltendem Recht regelmäßig nur mittels einer nationalen Blankettstrafnorm unter Strafe stellen, die auf jene verweist und sie somit – insoweit – zu einem Teil der nationalen Rechtsnorm macht.[4]

II. 1. Diese Vorgehensweise ist mit Blick auf das in Art. 103 Abs. 2 GG verankerte Bestimmtheitsgebot aber nicht unproblematisch. Nach der Rechtsprechung des BVerfG enthält der Bestimmtheitsgrundsatz über die Verpflichtung des formellen Gesetzgebers, die Voraussetzungen einer Bestrafung selbst festzulegen, hinaus auch eine freiheitsgewährleistende Komponente: Danach soll der Bürger vorhersehen können, worauf sich ein Verbot bezieht und wie weit es reicht; er soll sein Verhalten darauf einrichten können, um strafbares Handeln zu vermeiden.[5] Nun mögen sowohl die Blankettstrafnorm wie auch die mittels Verweisung einbezogene unionsrechtliche Norm[6] für sich diesen Bestimmtheitsanforderungen genügen. Durch die Verweisungstechnik an sich kann jedoch eine zusätzliche Unsicherheit mit Blick auf den wahren Inhalt der Blankettstrafnorm entstehen, wenn nicht hinreichend deutlich wird, worauf sich die Verweisung bezieht.[7] Es muss daher auch der aus Blankettstrafnorm und Verweisungsobjekt zusammengesetzte "Gesamtwertungsakt" den Bestimmtheitsanforderungen gerecht werden.[8] Dabei ist zwischen sog. statischen und dynamischen Verweisungen zu unterscheiden.

  • - Die statische Verweisung bezieht sich auf ein Verweisungsobjekt – hier auf einen Rechtsakt des Unionsrechts – in einer konkreten Fassung. Der nationale Gesetzgeber muss im Falle von Änderungen des Verweisungsobjekts in jedem Fall auch die nationale Blankettstrafnorm ändern und an das neue – modifizierte – Verweisungsobjekt anpassen.
  • - Wegen dieser umständlichen Vorgehensweise verwendet der deutsche Strafgesetzgeber oft von Haus aus Verweise auf die jeweils gültige Fass-
  • ung (dynamische Verweisung).[9] Damit spart sich der Gesetzgeber die gegebenenfalls nötige Aktualisierung der Blankettstrafnorm und überlasst es dem Normunterworfenen, die jeweils aktuelle Fassung, die in das nationale Blankettstrafgesetz inkorporiert ist, selbst zu ermitteln.[10]

2. Ob eine statische oder eine dynamische Verweisung vorliegt, ist durch Auslegung zu ermitteln.[11] Bei § 29 Abs. 1 Nr. 1 GÜG aF handelte es sich zunächst um eine dynamische Verweisung, weil die in § 1 Nr. 1 GÜG enthaltene Definition des "Grundstoffs" durch die jeweils geltende Fassung der bezeichneten Verordnung bestimmt wurde. Mit der Rechtsänderung im März 2008 hat der Gesetzgeber den neuen § 19 Abs. 5 GÜG eingefügt, um für die strafrechtliche Beurteilung der Verordnung die dynamischen Verweisungen durch statische zu ersetzen und damit die Rechtsfindung zu erleichtern.[12] § 19 Abs. 5 GÜG lautet:

(5) Soweit auf die Verordnung (EG) Nr. 273/2004 oder die Verordnung (EG) Nr. 111/2005 Bezug genommen wird, ist jeweils die am 18. August 2005 geltende Fassung maßgeblich.

a) Obwohl das Ansinnen des Gesetzgebers, die Rechtsfindung für den Bürger zu erleichtern, zu begrüßen ist, wird der Inhalt der Strafvorschrift des § 19 Abs. 1 Nr. 1 GÜG durch § 19 Abs. 5 GÜG nicht klarer. Insoweit trägt § 19 Abs. 5 GÜG – im Gegenteil – zur Verkomplizierung bei. Er ist nur vermeintlich klar gefasst, weil in § 19 Abs. 1 Nr. 1 GÜG überhaupt keine europarechtlichen Verweisungen enthalten sind. § 19 Abs. 1 Nr. 1 GÜG verweist nur auf die strafrechtliche Primärnorm des § 3 GÜG, die wiederum auch keinen Hinweis auf die Verordnung 273/2004/EG enthält. Erst durch Hinzuziehen der allgemeinen Begriffsbestimmungen, die in § 1 GÜG enthalten sind, werden verschiedene Begriffe dieses Verbots – so beispielsweise "Grundstoff" in Nr. 1 – unter Bezugnahme auf diese Verordnung in ihrer jeweils geltenden Fassung definiert.[13]

b) Es ist deshalb durch Auslegung zu ermitteln, ob § 19 Abs. 5 GÜG auch hinsichtlich § 19 Abs. 1 Nr. 1 GÜG (bzw. der dadurch einbezogenen weiteren Normen des GÜG) statische Verweisungen anordnet. Der Wortlaut des § 19 GÜG deutet darauf nicht hin. Gegen ein solches Verständnis spricht nämlich die Unterscheidung zwischen einem nationalen Verbot und weiteren europarechtlichen Verboten, die § 19 Abs. 1 GÜG selbst zu Grunde liegt. Der gesamte § 19 Abs. 1 GÜG lautet:

(1) Mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer …

1.entgegen § 3 einen Grundstoff besitzt, herstellt, mit ihm Handel treibt, ihn, ohne Handel zu treiben, einführt, ausführt, durch den oder im Geltungsbereich dieses Gesetzes befördert, veräußert, abgibt oder in sonstiger Weise einem anderen die Möglichkeit eröffnet, die tatsächliche Verfügung über ihn zu erlangen, erwirbt oder sich in sonstiger Weise verschafft,

2. entgegen Artikel 3 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 273/2004 einen in Kategorie 1 des Anhangs I dieser Verordnung bezeichneten Grundstoff ohne Erlaubnis besitzt oder in den Verkehr bringt,

3. entgegen Artikel 6 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 111/2005 einen in Kategorie 1 des Anhangs dieser Verordnung bezeichneten Grundstoff ohne Erlaubnis einführt, ausführt oder ein Vermittlungsgeschäft mit ihm betreibt,

4. entgegen Artikel 12 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 111/2005 einen in Kategorie 1, 2 oder 3 des Anhangs dieser Verordnung bezeichneten Grundstoff ohne Ausfuhrgenehmigung ausführt oder

5. entgegen Artikel 20 der Verordnung (EG) Nr. 111/2005 einen in Kategorie 1 des Anhangs dieser Verordnung bezeichneten Grundstoff ohne Einfuhrgenehmigung einführt.

Die einzelnen Nummern dieses Absatzes lassen sich danach inhaltlich voneinander abgrenzen: Während die Nrn. 2 bis 5 ausdrücklich Verstöße gegen die in den dort bezeichneten Verordnungen enthaltenen Erlaubnis- (Nr. 2 und 3) bzw. Genehmigungspflichten (Nrn. 4 und 5) sanktionieren, stellt Nr. 1 einen Verstoß gegen nationales Recht (§ 3 GÜG) unter Strafe.[14] Der Wortlaut des § 19 Abs. 5 GÜG legt es angesichts der in Abs. 1 getroffenen inhaltlichen Unterscheidung nahe, den Anwendungsbereich auf die Nrn. 2 bis 5 zu begrenzen. Auch die systematische Stellung des § 19 Abs. 5 GÜG spricht hierfür, weil eine entsprechende Klarstellung im Rahmen der Begriffsbestimmungen des § 1 GÜG fehlt. Wenn damit eine

allgemeine Regelung für sämtliche strafrechtliche Verweisungen auf Unionsrecht innerhalb des GÜG hätte getroffen werden sollen, so ist für den Rechtsanwender nicht ersichtlich, warum die Regelung des § 19 Abs. 5 GÜG nicht etwa als § 19a eingefügt wurde. Der vom Gesetzgeber verfolgte Zweck, für die Strafvorschriften dynamische Verweisungen durch die Einführung des § 19 Abs. 5 GÜG zu vermeiden und durch statische zu ersetzen, spricht zwar für eine Ausdehnung des Anwendungsbereichs des § 19 Abs. 5 GÜG auch auf § 19 Abs. 1 Nr. 1 GÜG. Dieser Zweck allein ist jedoch nicht geeignet, die durch unpräzise Gesetzesformulierung entstandene Auslegungsbedürftigkeit eindeutig in eine andere Richtung zu lenken. Schließlich ist auch der historische Wille des Gesetzgebers nicht so eindeutig artikuliert, dass von § 19 Abs. 5 GÜG auch zwingend § 19 Abs. 1 Nr. 1 erfasst sein müsste. In der Gesetzesbegründung heißt es zwar, dass durch Absatz 5 dynamische ("gleitende") Verweisungen vermieden würden. Diese Formulierung bringt selbst aber keine weitere Erkenntnis, weil sie sich nur auf die Strafvorschriften bezieht, "soweit sie auf die EG-Verordnungen Bezug nehmen".[15] Damit können aber eben so gut nur die Nrn. 2 bis 5 des Absatzes 1 gemeint sein. Aus diesen Gründen ist § 19 Abs. 5 GÜG dahingehend auszulegen, dass nur die im systematischen Zusammenhang stehenden Verweisungen auf Verordnungen in § 19 Abs. 1 Nrn. 2 bis 5 GÜG statisch sein sollen.

c) Für eine analoge Anwendung des § 19 Abs. 5 GÜG besteht kein Raum. In Analogie zu § 19 Abs. 5 GÜG würde danach auch für die in § 1 GÜG enthaltenen Verweisungen die Fassung vom 18.08.2005 gelten. Dies verstößt nicht zwingend gegen das in Art. 103 Abs. 2 GG enthaltene Verbot strafbegründender oder strafschärfender Analogie[16], weil der Rückgriff auf eine bestimmte Fassung auch für den Täter günstig sein kann. Allerdings wirft die Diskussion um eine Analogie ein bezeichnendes Licht auf die Bestimmtheit der strafrechtlichen Gesamtregelung.

d) § 19 Abs. 5 GÜG bezieht sich damit nicht auf § 19 Abs. 1 Nr. 1 GÜG, der damit – auch nach der gesetzlichen Neufassung – eine dynamische Verweisung enthält.

III. Bei der Beurteilung der Verfassungskonformität solcher Verweisungsklauseln hinsichtlich des Bestimmtheitsgebots ist zwischen statischen und dynamischen Verweisungen zu unterscheiden.

1. Eine statische Verweisung ist – mit dem BGH – zu Recht als mit dem Bestimmtheitsgebot vereinbar anzusehen. Bei statischen Verweisungen innerhalb des nationalen Rechts geht auch die überwiegende Auffassung von einer Vereinbarkeit mit dem Bestimmtheitsgebot aus.[17] Für statische Verweisungen auf unionsrechtliche Vorschriften kann letztlich nichts grundlegend anderes gelten. Zwar liegt ein gewisser Unterschied darin, dass bei einer Verweisung auf EU-Rechtsakte zwischen zwei autonomen Rechtsordnungen verwiesen wird (dazu s. noch unten). Gleichwohl ist es Unionsbürgern nicht unzumutbar, dass sie sich in gleicher Weise Kenntnis von europäischen Rechtsvorschriften wie von nationalen verschaffen. Die Rechtsfindung durch den Unionsbürger wird deshalb dann nicht wesentlich erschwert, wenn das einbezogene Verweisungsobjekt und die maßgebliche Fassung – etwa durch Angabe der Fundstelle im Amtsblatt – durch die Blankettstrafnorm bestimmt werden.

2. a) Dynamische Verweisungen auf Rechtsnormen des Unionsrechts sind dagegen grundsätzlich als unzulässig zu betrachten. Schon bei dynamischen Verweisungen innerhalb der nationalen Rechtsordnung ist ein sehr strenger Maßstab an die Bestimmtheit anzulegen,[18] weil sich die jeweils maßgebliche Fassung aus dem Wortlaut der Blankettstrafnorm nicht entnehmen lässt und die Verwendung dynamischer Verweisungen deshalb dem Normunterworfenen die Ermittlung des Verweisungsobjekts aufbürdet. Eine Angabe der genauen Fundstelle ist bei dynamischen Verweisungen naturgemäß nicht möglich.

Entgegen der Auffassung des BVerfG[19] sind bei dynamischen Verweisungen auf das Unionsrecht nicht dieselben, sondern gegenüber rein innerstaatlichen dynamischen Verweisungen erhöhte Anforderungen zu stellen. Die weitaus komplexere europäische Rechtsordnung birgt mit ihrer Vielzahl von Änderungsvorschriften und teilweise nicht zugänglichen konsolidierten Fassungen noch viel größere Rechtsfindungsschwierigkeiten. Gerade wenn dann noch die inkorporierten europäischen Normen weitere Verweisungen auf andere Rechtsakte enthalten, ist die Grenze der noch zumutbaren Rechtsfindung durch den verständigen Bürger überschritten und eine dynamische Verweisung verfassungswidrig.[20]

b) Der BGH hat zu dieser verfassungsrechtlichen Problematik dynamischer Verweisungen in seinem Beschluss nicht Stellung bezogen und die Frage offen gelassen, ob die bis zur Rechtsänderung in §§ 3, 29 Abs. 1 Nr. 1 GÜG enthaltene dynamische Verweisung den Bestimmtheitsanforderungen des Art. 103 Abs. 2 GG genügte, weil die in Bezug genommene Verordnung während des angeklagten Zeitraums des Handeltreibens keinerlei Änderungen unterworfen war. Die dynamische Verweisung des Blankettstrafgesetzes habe sich deshalb – bei rein faktischer Betrachtung – wie eine statische Verweisung ausgewirkt. Wenn der Angeklagte die einbezogene Verordnung vor Beginn des Handeltreibens zu Rate gezogen hätte, so hätte er damit die Strafbarkeit seines Handelns für den gesamten Zeitraum des Handeltreibens erfasst.

c) Durch seinen Hinweis auf die im konkreten Fall bestehende Kontinuität des Verweisungsobjekts entledigt sich der BGH dieses Problems allerdings nur vordergrün-

dig. Denn damit hält der BGH es implizit für zumutbar, dass sich der verständige Bürger mit Hilfe des dynamischen Verweises zumindest eine Fassung des Verweisungsobjekts beschafft und sein Verhalten danach einrichtet. Genau hier liegt aber u.E. der Fehler: Im Gegensatz zur statischen Verweisung kann der verständige Bürger nicht durch Angabe einer genauen Fundstelle derart geleitet werden, dass er sich das maßgebliche Verweisungsobjekt selbst beschafft. Und selbst wenn es ihm durch selbständige Recherche gelänge, den Anforderungen des BGH entsprechend von einer Fassung des Verweisungsobjekts Kenntnis zu nehmen, oder wenn er durch Angabe der Fundstelle zur ursprünglichen Fassung geleitet würde, bliebe er dennoch mit der Unsicherheit über deren Maßgeblichkeit belastet. Er müsste in weiteren Schritten ermitteln, ob diese Version nicht zwischenzeitlich geändert worden ist. Genau hier liegt aber das Problem mit dem Bestimmtheitsgebot: Dieses fordert, dass der verständige Bürger das ihm auferlegte Ge- oder Verbot auch tatsächlich voraussehen und nicht bloß vermuten kann.[21] Aus diesem Grund sind dynamische Verweisungen auf EU-Verordnungen grundsätzlich unzulässig. Allenfalls im Bereich des sog. "Expertenstrafrechts", in dessen Rahmen höhere Anforderungen an die Kenntnisse der betroffenen Experten gestellt werden können, wird man ausnahmsweise eine solche dynamische Verweisung als verfassungsgemäß einordnen können.[22] Hier liegt jedoch kein Fall des "Expertenstrafrechts" vor, weil sich § 19 Abs. 1 Nr. 1 GÜG an jedermann und eben nicht nur an eine bestimmte Expertengruppe richtet.

An dieser strukturell bedingten Unsicherheit ändert sich auch daran nichts, dass im konkreten Fall die Fundstelle der ursprünglichen Fassung in § 1 GÜG angegeben war und dass das Verweisungsobjekt zum Tatzeitpunkt noch in seiner ursprünglichen Fassung galt. Im vorliegenden Fall hätte er damit nur zufällig die richtige Fassung "getroffen".

IV. Abgesehen von der Problematik der Verweisungstechnik sind Verweisungen auf Unionsrecht auch inhaltlich mit Blick auf das Bestimmtheitsgebot zweifelhaft. Denn im Unterschied zu Verweisungen innerhalb des nationalen Rechts ergeben sich Unsicherheiten über den Normgehalt eines Verweisungsobjekts aus der Vielzahl der verbindlichen Sprachfassungen.[23] Dabei handelt es sich um ein strukturelles Bestimmtheitsproblem, denn auch wenn die in Bezug genommene Verordnung durch die Verweisung Teil des nationalen Rechts wird, bleibt sie – inhaltlich – europäisches Recht. Dies hat zur Folge, dass für eine Auslegung des Norminhalts alle verbindlichen Sprachfassungen gleichberechtigt berücksichtigt werden müssen, um den zutreffenden Inhalt der Norm korrekt zu ermitteln.[24] Dies stellt für den Normunterworfenen wie auch für den Richter ein regelmäßig unzumutbares (wenn nicht sogar unmögliches) Unterfangen dar. In einem unlängst ergangenen Beschluss[25] hat das BVerfG in dieser Mehrsprachigkeit europäischer Rechtsakte allerdings kein generelles Problem gesehen, sondern auf eine Beurteilung im Einzelfall abgestellt. Eine Verletzung des Bestimmtheitsgebots sei danach abzulehnen, wenn nicht im Einzelfall dargelegt wird, warum sich aus der Verbindlichkeit mehrerer Sprachfassungen konkret Unsicherheiten ergeben haben.[26] Diese Auffassung des BVerfG steht im Widerspruch zum Amtsermittlungsgrundsatz im deutschen Strafprozessrecht, das eine Darlegungslast des Angeklagten nicht kennt, und zeugt von einem falschen Verständnis der unionsrechtlichen Auslegungsregeln: Die Unsicherheit über den Inhalt der Norm beruht gerade darauf, dass alle Sprachfassungen gleich verbindlich sind und dass eine umfassende Auslegung der unionsrechtlichen Norm nicht zumutbar ist. Es darf deshalb weder vorrangig von der deutschen Fassung ausgegangen, noch dürfen die übrigen Sprachfassungen nur ergänzend herangezogen werden. Bei einer Verweisung auf Normen des Unionsrechts kann der verständige Bürger letztlich nur erahnen, welches Verhalten wohl unter Strafe steht. Der Bestimmtheitsgrundsatz verlangt aber gerade, dass der Bürger strafbares Verhalten voraussehen können muss, ohne auf bloße Vermutungen angewiesen zu sein.[27] Strafrechtliche Verweisungen auf Normen des Unionsrechts leiden deshalb an einem systemimmanenten Bestimmtheitsmangel.

Im vorliegenden Fall wirkt sich dies allerdings tatsächlich nicht aus, weil die in Bezug genommene Verordnung lediglich verbotene Stoffe anhand ihrer wissenschaftlich eindeutigen Bezeichnung benennt. Der Anhang zur Verordnung ist insofern nicht auslegungsbedürftig.


[1] Zum Begriff des Blankettstrafgesetzes s. nur Schmidt/Aßmann in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, 62. Erg.Lieferung (2011), Art. 103 II GG, Rn. 199; Satzger, in: Satzger/Schmitt/Widmaier (2009), § 1 Rn. 53.

[2] Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht, 5. Aufl. (2011), § 8 Rn. 18 ff.

[3] EuGH, Rs. 34/73 (Variola), Slg. 1973, 981 (Rn. 9 ff); EuGH, Rs. 50/76 (Amsterdam Bulb), Slg. 1977, 137 (Leitsatz 2).

[4] Die Verordnung wird nur formal in den nationalen Straftatbestand einbezogen. Materiell-rechtlich bleibt sie Teil des Europarechts mit den entsprechenden Konsequenzen für ihre Auslegung, s. hierzu näher Satzger (Fn. 2), § 9 Rn. 61 ff.

[5] Ständige Rspr des BVerfG, s. nur BVerfGE 25, 285; 75, 340 f.

[6] Die Vielzahl der verbindlichen Sprachfassungen europäischer Rechtsakte hat auch Auswirkungen auf das Bestimmtheitsgebot, s. hierzu unten unter IV.

[7] BVerfGE 48, 48, 55; BVerfG wistra 2010, 396, 402 (Rn 55) = HRRS 2011 Nr. 120.

[8] Satzger, Die Europäisierung des Strafrechts (2001), S. 249; ders. (Fn. 2), § 9 Rn. 65; ders. (Fn. 1), § 1 Rn. 54; zust. Ambos, Internationales Strafrecht, 3. Aufl. (2011), § 11 Rn. 30.

[9] Zu den verschiedenen Verweisungstypen s. Satzger, in: Sieber/Satzger/Brüner/von Heintschel-Heinegg, Europäisches Strafrecht (2011), § 9 Rn. 24 ff.

[10] Satzger (Fn. 2), § 9 Rn. 68.

[11] Vgl. OLG Köln NJW 1988, 657, 658; Krey EWR 1981, 152; Satzger, Europäisierung (Fn. 8), S. 216 sowie ders. (Fn. 9), § 9 Rn. 22.

[12] So die Begründung des Regierungsentwurfs, vgl. BT-Drs. 16/7414, S. 21.

[13] Die Tathandlungen "einführen" und "ausführen", die in Nr. 1 angeführt werden, enthalten allerdings – anders als die entsprechenden Tathandlungen in Nr. 3-5 – keine Bezugnahme auf die europarechtliche Definitionen von "Einfuhr" und "Ausfuhr", wie sie sich in der Verordnung (EG) Nr. 111/2005 finden.

[14] Diese Unterscheidung war dem Gesetzgeber bewusst, vgl. BT-Drs. 16/7414, S. 21. Der Vollständigkeit halber sei darauf hingewiesen, dass § 19 Abs. 1 Nr. 1 GÜG selbst auch einen europarechtlichen Hintergrund hat. Er dient der Umsetzung von Artikel 3 Abs. 1 Buchstabe a, iv sowie Buchstabe c, ii und iv de Suchtstoffübereinkommens von 1988 sowie Artikel 2 Abs. 1 Buchstabe d des Rahmenbeschlusses 2004/757/JI des Rates vom 25. Oktober 2004 zur Festlegung von Mindestvorschriften über die Tatbestandsmerkmale strafbarer Handlungen und die Strafen im Bereich des illegalen Drogenhandels (s. hierzu auch BT-Drs. 16/7414, S. 13).

[15] BT-Drs. 16/7414, S. 21.

[16] Hierzu Schmidt-Aßmann (Fn. 1), Art. 103 II GG, Rn. 225 ff.

[17] BVerfGE 26, 338, 367; Böse, Strafen und Sanktionen (1996), S. 438; Krey EWR 1981, 143.

[18] S. hierzu Satzger, Europäisierung des Strafrechts (Fn. 8), S. 253 ff.; MK-Schmitz, Band 1, 1. Aufl. (2003), § 1 StGB Rn. 51.

[19] BVerfGE 29, 198, 209 f. (Rn. 27).

[20] Vgl. Ambos (Fn. 8), § 11 Rn. 30; im Ergebnis so auch OLG Koblenz NStZ 1989, 1988 f.; ähnlich mit Blick auf das AWG BVerfG NJW 2004, 2218; zum Zollstrafrecht Bender wistra 2006, 41; s. auch Dannecker Jura 2006, 101; zurückhaltender Böse (Fn. 17), S. 439; Moll, Europäisches Strafrecht durch nationale Blankettstrafgesetzgebung? (1998), S. 154; aA Streinz WiVerw 1993, 33.

[21] Vgl. BVerfGE 75, 329, 341 – st. Rspr.

[22] Satzger, Europäisierung (Fn. 8), S. 263; ders. (Fn. 9), § 9 Rn. 33; zust. Ambos (Fn. 8), § 11 Rn 28.

[23] BVerfGE 29, 198, 209 f. geht deshalb zu Unrecht davon aus, dass an die Verweisungen auf unionsrechtliche Vorschriften dieselben Anforderungen zu stellen seien wie bei rein nationalen Verweisungen.

[24] EuGH, Rs C-64/95 "Konservenfabrik Lubella Friedrich Bueker GmbH & Co KG ./. Hauptzollamt Cottbus", Slg. 1996, I-5105 (Rn. 17). Satzger (Fn. 9), § 9 Rn. 23 sowie ders. (Fn. 2), § 9 Rn. 68.

[25] BVerfG wistra 2010, 396 ff.

[26] BVerfG wistra 2010, 396, 404 (Rn. 66).

[27] Ständige Rspr des BVerfG, vgl. nur BVerfGE 75, 329, 341.