HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

November 2011
12. Jahrgang
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Schrifttum

Jahn/Kudlich/Streng (Hrsg.): Strafrechtspraxis und Reform – Festschrift für Heinz Stöckel zum 70. Geburtstag, 545 Seiten, Duncker & Humblot, 98,00 €, Berlin 2010.

I. In der Person Heinz Stöckels treffen Praxis und Wissenschaft in jeweils herausragenden Stellungen zusammen: Der Jubilar war zunächst Amtsgerichtsdirektor in Neumarkt i. d. Opf., dann Leitender Oberstaatsanwalt bei der StA am LG Nürnberg-Fürth und ab 1996 Generalstaatsanwalt in Nürnberg. Nachdem er viele Jahre in Erlangen als Lehrbeauftragter gewirkt hatte, wurde ihm dort im selben Jahr der akademische Titel eines Honorarprofessors für Strafrecht und Kriminologie verliehen. 1997 wurde er Mitherausgeber des von Kleinknecht, Hermann Müller und Reitberger begründeten StPO-Loseblattkommentars. Die Festschrift enthält 27 Beiträge, die in 4 Themenbereiche gegliedert sind: (I.) Materielles Strafrecht, (II.) Strafprozessrecht, (III.) Kriminologie, Sanktionenrecht und Strafvollzug sowie (IV.) Juristische Zeitgeschichte und Völkerstrafrecht.

II. 1. Das wissenschaftliche Wirken des Jubilars begann mit seiner Dissertation "Gesetzesumgehung und Umgehungsgesetze im Strafrecht". Gleich mehrere Autoren greifen das Thema auf, zumal es sich gerade heute großer Aktualität erfreut – besonders im Wirtschaftsstrafrecht. Man kann sich das schnell an deutschen Städten klarmachen, die ihre Infrastruktur pro forma an Geschäftspartner in den USA verkaufen und sogleich von ihnen zurück leasen. Der alleinige Zweck solcher Transaktionen besteht darin, Steuern zu sparen. Der "Eröffnungsaufsatz" stammt aus der Feder von Gunther Arzt, und er hat einen ganz großartigen Beitrag zu Papier gebracht: "SIEMENS – Vom teuersten zum lukrativsten Kriminalfall der deutschen Geschichte" (15 ff.). Markenzeichen der SIEMENS-Korruption war bekanntlich das Eingehen auf erpresserische Forderungen: Nach dem in BGHSt 52, 323[1] geschilderten Sachverhalt hatte der angeklagte SIEMENS-Mitarbeiter durch seine Korruptionszahlung verhindert, dass der ausländische Erpresser (Mitarbeiter eines italienischen Konzerns) seine Drohung wahr machte, die Auftragserteilung an SIEMENS zu vereiteln. Die abgepressten Zahlungen fallen hier zwar unter keinen deutschen Korruptionstatbestand: § 299 StGB erfasst nicht die vom Vorteilsgeber bezweckte Abwehr einer pflichtwidrigen Benachteiligung; Auslandskorruption durch Zahlungen an ausländische Amtsträger – ein im konkreten Fall ebenfalls nicht vorliegendes Tatbestandsmerkmal – liegt nach deutschem Recht (§ 334 StGB i. V. m. Art. 2 § 1 IntBestG) nur vor, solange ein "unbilliger Vorteil" erstrebt wird. Die Abwehr unbilliger Benachteiligungen ist nicht gemeint. Gleichwohl sollen sich die Mitarbeiter von SIEMENS, die entsprechende Zahlungen veranlasst hatten, nach Ansicht des BGH strafbar gemacht haben, und zwar wegen Untreue (§ 266 StGB), weil die Zahlungen aus dafür angelegten Schwarzen Kassen erfolgte.[2] Arzt zeigt zunächst die Mängel der Untreue-Konstruktion des BGH auf (22)[3] und richtet sein Augenmerk sodann auf das unter dem Stichwort "Compliance" etablierte neue Modell der Verdachtsaufklärung (24): Verdächtige müssen auf einer Vorstufe betrieblicher Kriminalitätskontrolle ihre Taten so weit selbst aufklären, dass es für die Ermittlungsbehörde i. d. R. nur noch eine Formsache ist, das Resultat in eine Anklage und später in eine Verurteilung umzusetzen. Die insoweit bestehenden rechtlichen Bedenken sind vielfach beschrieben und brauchen hier nicht wiederholt zu werden.[4]

Arzt stellt ergänzend klar, dass Compliance bei korrupten Schwarzen Märkten nicht zu einem wunderbaren Erlöschen der Kriminalität führt, weil sich "Sauberkeit" selbstverständlich nicht einfach importieren lasse. Die einzigen Alternativen bestünden für betroffene Unternehmen daher im Grunde nur im (nicht immer zumutbaren) Rückzug vom Markt oder darin, Korruption formell so ablaufen zu lassen, dass sie nicht mehr in den Verantwortungsbereich der westlichen Unternehmen falle (34). Arzt ist beizupflichten, dass sich insoweit eine Menge machen ließe. In der Sache selbst wird so freilich nichts gewonnen. Jedenfalls sei eine "Zero-Tolerance"-Politik gegenüber westlichen Unternehmen nicht zuletzt deshalb ein untaugliches Mittel (39).

Bottke befasst sich ebenfalls mit dem allgegenwärtigen Thema "Compliance" und untersucht die "Normbefolgungsbereitschaft von und in Unternehmen" (43 ff.). Er meint, der Staat könne seine Verpflichtung zum Schutz der gleichen Freiheit aller, hier also: des Marktes, nur dadurch erfüllen, indem er nicht auf freiwillige Selbstverpflichtung der Unternehmen vertraue (54). Er hegt daher offenkundig Sympathie für die "Möglichkeit, Unternehmen zu bestrafen" (55). Bernd von Heintschel-Heinegg, neben dem Jubilar Herausgeber des KMR, und Manfred Dauster befassen sich mit der "Strafrechtliche(n) Durchsetzung von Exportkontrollen in Konflikt mit Europäischem Gemeinschaftsrecht" (57 ff.) und gelangen zu dem Ergebnis, dass § 5c Abs. 2 AWV und § 34 Abs. 1 AWG gemeinschaftsrechtswidrig seien (60,71). "Gesetzesumgehung und andere Fälle teleologischer Lückenschließung im Strafrecht" betitelt Hans Kudlich seinen erhellenden Aufsatz, indem er Überlegungen zur Ermittlung der sog. Wortlautgrenze anstellt (93 ff.). Sein Fazit, welches er zuvor an einem Fall zur Strafvorschrift des § 119 Abs. 1 Nr. 1 BetrVG exemplifiziert, lautet: Die Wortlautgrenze sei nicht durch Sprache vorgegeben, sondern werde erst durch Spracherarbeitung gewonnen, also durch Auslegung gezogen (116). Welch "Besonders hohe(n) Grenzen für den Strafgesetzgeber" aufgrund von Artikel 103 Abs. 2 GG, Unschuldsvermutung und Subsidiaritätsprinzip sowie des Rechtsgutkonzeptes des deutschen Strafrechts bestehen, beschreibt Kristian Kühl (116 ff.). Man wünscht sich, dass seine Überlegungen von Rechtspolitikern zur Kenntnis genommen werden. Franz Streng schließt den materiell-rechtlichen Themen gewidmeten Teil der Festschrift mit Anmerkungen zum Defensivnotstand bei terroristischen Angriffen und fragt: "Gerechtfertigte Aufopferung Unbeteiligter?" (135 ff.).

2. Der strafprozessuale Abschnitt beginnt mit einer Forderung Böttchers, bis vor kurzem Bundesvorsitzender der Opferschutzorganisation "Weißer Ring".[5] Böttcher verlangt (mehr) "Rücksichtnahme auf Opferinteressen bei der Verfahrenseinstellung nach § 153a StPO" (161 ff.). In diesem Zusammenhang fordert er zwar keine generelle Zustimmungsklausel, wohl aber bei zur Nebenklage berechtigten Verletzten (177). Außerdem sei es "notwendig", die Einbeziehung der Opferbelange in die von Staatsanwaltschaft und Gericht vorzunehmende Abwägung ausdrücklich vorzuschreiben. Böttcher schlägt vor, in dem Wortlaut des § 153a StPO aufzunehmen, dass nicht nur die Schuld des Täters, sondern auch die berechtigten Opferinteressen der Einstellung nicht entgegenstehen dürfen. Auch solle eine solche Regelung nicht auf die zur Nebenklage berechtigten Opfer beschränkt sein (178).

Geradezu revolutionär ist eine Forderung, die Volker Erb in seinem Aufsatz "Grund und Grenzen der Unzulässigkeit einer regelmäßigen Einholung von Glaubwürdigkeitsgutachten im Strafverfahren" (181 ff.) erhebt. Zwar erweise sich die Zurückhaltung der Praxis bei der Einholung von Glaubwürdigkeitsgutachten in den meisten Konstellationen im Ergebnis als zutreffend – allerdings mit einer bedeutsamen Ausnahme: Nicht legitimierbar, so Erb, sei die ablehnende Praxis im Falle des Belastungszeugen, dem das Gericht ohne Bestätigung seiner Angaben durch unabhängige weitere Beweismittel gegen die bestreitende Einlassung des Beschuldigten Glauben schenken will, d. h. bei einer nach Lage der Dinge zu erwartenden Verurteilung in einer sog. "Aussage-gegen-Aussage"-Situation. Hier sei die regelmäßige Hinzuziehung eines aussagepsychologischen Sachverständigen zwecks optimaler Erfassung aller Gesichtspunkte ein "rechtsstaatliches Gebot" (194)! Wenn schon niemand zuverlässig davor gefeit sei, einer aus einem unerkannten Motiv geschickt produzierten Lüge aufzusitzen, schulde der Rechtsstaat dem möglicherweise zu Unrecht Beschuldigten wenigstens die optimale Ausschöpfung aller Möglichkeiten, die das Gericht im Einzelfall davon abhalten könnten, in eine trügerische Sicherheit zu verfallen. Wie wahr, möchte man hinzufügen: Man kann sich nicht des Gefühls erwehren, dass – bei allem Respekt – vor manchen Kammern gerade in Sexualstrafverfahren der Grundsatz "In dubio contra reum" herrscht[6] und von einer "besonders vorsichtigen Beweiswürdigung", wie sie die Revisionsrechtsprechung fordert, in Wahrheit nicht die Rede sein kann: Nicht selten scheint es, als ob Tatgerichte nicht in rationaler, sondern eher in emotional geleiteter Weise der Aussage eines Belastungszeugen Glauben schenkten. Man muss zudem erleben, dass die tatrichterlichen Feststellungen leider kein getreues Abbild der Beweisaufnahme liefern. Das wird seit Jahren moniert, vor allem aus Verteidigerkreisen: Bossi[7], Dahs[8], Geipel[9], König[10], Neuhaus[11], Pauly[12], Schlothauer[13],

Widmaier[14], Wilhelm[15] und Ziegert[16] . Aber auch von Staatsanwalts- und Richterseite bzw. Hochschullehrern wird Derartiges berichtet: Hanack[17], Hebenstreit[18], Herdegen[19], Jagusch[20] und Wahl[21] . Ralf Eschelbach, heute Richter am 2. Strafsenat des BGH, hatte dieses bedrückende Problem bereits 2008 in seinem Aufsatz "Feststellungen" in der FS-Widmaier beim Namen genannt.[22] Das Thema "richterliche Fehlleistungen" scheint ihn wegen seiner Brisanz und Aktualität umzutreiben; zum Glück, möchte man sogleich nach der Lektüre seines Aufsatzes ausrufen:

Etwas harmlos und schlicht "Wiederaufnahmefragen" überschreibt er seinen fulminanten Beitrag (199 ff.), der die bedrückendsten Erscheinungen der praktischen Strafjustiz in geradezu schonungsloser Offenheit beschreibt und anprangert. Richterliche Leistungsverweigerung, so liest man aufgrund eigener forensischer Erfahrungen wissend, aber dennoch erstaunt, gehöre zur neuen Rechtstatsachenlage. Angesprochen wird etwa der Ermittlungsrichter, der die Rechtsschutzfunktion des Richtervorbehalts nicht erfüllt und beispielsweise vorformulierte Beschlussentwürfe der Staatsanwaltschaft oder der Steuerfahndung unbesehen unterzeichnet (201) oder der Vorsitzende, der sich ohne vorherige Aktenlektüre in die Hauptverhandlung begibt (201).[23] Man liest Sätze wie: "Durch unzureichende Bildung von Hypothesen, die paradoxerweise zwar von aussagepsychologischen Sachverständigen gefordert werden, aber nicht von den letztver-antwortlichen Tatrichtern, bleibt die fatale Tendenz der Verdachtshypothese zur Selbstbestätigung ohne das verfassungs- und prozessrechtlich erforderliche Gegengewicht" (202 f.); oder: "Indem die Tatrichter sich meist auch schon vor der Hauptverhandlung auf ein Beweisergebnis festlegen[24] ... entfällt die Legitimation für den Urteilsspruch durch ein neutrales Verhalten. Die Rechtskontrollinstanzen nehmen dies mit Gleichmut hin." Endlich, so möchte man ausrufen, bekennt auch ein Richter, dass der Rechtssatz "in dubio pro reo" dem Angeklagten nicht hilft. Eschelbach schreibt: "Angeklagten wird generell nicht geglaubt und alle Aspekte, welche die eigene, durch Anklageschrift und Eröffnungsbeschluss überhöhte Verdachtshypothese bestätigen, werden überbewertet. Privilegierte Zeugen, wie Ermittlungsbeamte oder Geschädigte, werden hinsichtlich der Glaubhaftigkeit ihrer Angaben generell überschätzt. Auch sonst werden alle Umstände, welche die Verdachtshypothese bestätigen, meist bereitwillig akzeptiert und alle Aspekte, die dem entgegenstehen, selektiert sowie ignoriert und mit beliebigen Argumenten dementiert" (209). Daher ruft er eindringlich die Berufungsersatzfunktion der Wiederaufnahme in Erinnerung und plädiert für eine Vitalisierung des faktisch toten Wiederaufnahmerechts. Dem bleibt nichts hinzuzufügen angesichts einer Revisionsrechtssprechung, "die effektiven Rechtsschutz jedenfalls nicht gewährleistet" (212), denn, was den Revisionsgerichten angesichts der Rechtslage[25] selbstredend nicht vorzuwerfen ist, "Revisionsrichter gehen in Strafsachen von der Vermutung der Vollständigkeit der Urteilsgründe aus. Diese Vermutung mag normativ richtig sein, sie ist jedoch tatsächlich fast immer unzutreffend. Zudem bleibt sie in Folge des Verbots der Rekonstruktion der Hauptverhandlung und der Annahme der Unzulässigkeit einer Rüge der Aktenwidrigkeit des Urteils im Revisionsverfahren unwiderlegbar"; dies, so Eschelbach, sollte mit der Rechtsschutzgewährleistung aus Art. 19 Abs. 4 GG unvereinbar sein (212).

Nur wenige Seiten später folgt ein weiteres wissenschaftliches Highlight. Matthias Jahn nimmt den bekannten Fall des ehemaligen Postchefs Klaus Zumwinkel und den ihm vorausgehenden Ankauf eines Datenträgers mit Informationen über Steuerdelikte tausender deutscher Kunden der liechtensteinischen LGT-Treuhand (sog. Causa Kieber) zum Anlass, "Grundfragen und aktuelle Probleme der Beweisverwertung im Straf- und Steuerstrafverfahren" zu untersuchen.[26] Jahn fordert zunächst die Rückbesinnung auf die Bindung des Richters an Gesetz und Verfassung und so die überfällige Revision der Abwägungslehre. Konkret: Die Beweiserhebungsbefugnisse seien in der Strafprozessordnung abschließend geregelt; eine Beweiserhebung jenseits des Gesetzes sei wegen des Vorbehalts des Gesetzes unzulässig. Insoweit bestünden prinzipiell Beweiserhebungsverbote (270). Jahn weist darauf hin, wie sehr die herkömmliche Beweisverbotsdogmatik unter Gesetzlosigkeit leidet, indem etwa aus dem imposanten Fundus der Abwägungstopoi einzelne Kriterien ein- und andere ausgeblendet werden, ohne dass sich dafür eine eingehende Begründung fände oder auch nur naheläge. Jahn kritisiert zu recht: "Die Unübersichtlichkeit des Abwägungsmaterials, die fehlende Determinierung des Abwägungsprozesses und die besondere revisions- und verfassungsgerichtliche Zurückhaltung bei der Ergebniskontrolle eröffnen den Tatgerichten eine vom Gesetz nicht vorgesehene Einschätzungsprärogative mit Blick auf den für den Einzelfall als "(gold-) richtig" empfundenen Verfahrensausgang" (270). Es ist dringend zu wünschen, dass sich die

höchstrichterliche Rechtsprechung besinnt und diesen Gedanken die Bedeutung beimisst, der ihnen zukommt. Jahn steht damit bekanntlich nicht allein. Jürgen Wolter, um nur einen zu nennen, hat sich soeben in der Festschrift für Claus Roxin ebenfalls wider das systemlose Abwägungs-Strafprozessrecht ausgesprochen und das Problem dabei in einen über die Beweisverbote hinaus gehenden Zusammenhang gestellt.[27] Jahn hatte sich dem Problem der Beweisverwertungsverbote schon in seinem Gutachten zum 67. DJT 2008 aus der Perspektive des rechtsstaatlichen Grundsatzes vom Vorbehalt des Gesetzes genähert. Der im DJT-Gutachten für eine in der Praxis bedeutsame Fallkonstellationen entwickelten Kasuistik fügt Jahn in seinem Beitrag nun einen weiteren Baustein hinzu: Die Hingabe staatlicher Finanzmittel ohne ausreichende parlamentsgesetzliche Ermächtigung sei nicht durch §§ 161, 163 StPO gedeckt gewesen (272 f.). Dies mache einen Verstoß gegen Art. 19 Abs. 2 GG plausibel, denn, wie Jahn zutreffend ausführt, "indiziell für eine Verletzung der Wesensgehaltsgarantie ist stets, welche Einbuße an sozialer Ordnung für die Allgemeinheit einträte, würde man die Verwertung im konkreten Fall zulassen" (274). Danach sei von einem Verwertungsverbot auszugehen. Im zweiten Teil seines Aufsatzes wendet er sich dem Thema der rechtswidrigen Beweismittelerlangung durch Private zu; ein Problem, das im Zuge der Globalisierung mit großer Wahrscheinlichkeit vermehrt auf die bundesdeutsche Justiz zukommen wird. Jahn unterzieht das vorherrschende Zurechnungsmodell, das lediglich bei "extremen" oder "eklatanten" Verstößen gegen die Menschenwürde zu einer Nicht-Verwertbarkeit der privat erlangten Beweismittel gelangt, einer kritischen Würdigung und macht sich mit eingehender Begründung für eine neue Orientierung stark (278 ff.). Auch seine Forderung nach einer Abkehr von Extremlösungen in der Fernwirkungsfrage ist überzeugend (283 f.).

In weiteren Beiträgen fragt Ernst Metzger nach dem "Öffentlichen Interesse an der Strafverfolgung" (287 ff.), untersucht Hans Christoph Schaefer "Das Berufsbild des Staatsanwalts" (307 ff.) und befasst sich Jan Ch. Schuhr mit "Sachentscheidungen des Revisionsgerichts" (323 ff.). Wenn auch ein erheblicher Teil der Entscheidungen im Ergebnis zu begrüßen sei, dürfe man nicht übersehen, dass "die Sachentscheidungspraxis in weiten Teilen im Widerspruch zum Gesetz steht" (345). Schuhr macht deshalb einen Vorschlag zur Neufassung des § 354 StPO.

3. Die Aufsätze im dritten Teil der Festschrift sind den Bereichen Kriminologie, Sanktionen, Recht und Strafvollzug gewidmet. Dieter Dölling gelangt in seiner empirischen Untersuchung zur "Legalbewährung nach Täter-Opfer-Ausgleich im Erwachsenenstrafrecht" (349 ff.) zu dem Ergebnis, dass sich der TOA günstig auf die Legalprognose auswirke; eine Erkenntnis, die man sicher auch in der Hauptverhandlung fruchtbar machen kann. Gabriele Kett-Straub hält die "Einwilligung in die Strafrestaussetzung nach §§ 57, 57a StGB" für einen Fremdkörper im Strafensystem (377). Sie schlägt daher vor, auf sie in Zukunft zu verzichten (396). Zwar ist Kett-Straub beizupflichten, wenn sie als Argument für ihre Sichtweise anführt, es bestehe die Gefahr der unsachgerechten Einflussnahme: so könne die Nicht-Erteilung auf Anraten der Institution erfolgt sein, etwa dann, wenn dem Gefangenen im informellen Gespräch signalisiert wurde, dass ein Votum nicht zu seinen Gunsten ausfallen werde (388 f.). Sie übersieht aber, dass der Gefangene durchaus das Interesse haben kann, seine Vollstreckungsakte nicht mit einer ungünstigen Entscheidung zu belasten. So kann er bei einem sich abzeichnenden ablehnenden Beschluss eine Einwilligung zurücknehmen. Gleiches gilt im Verfahren auf Feststellung der Mindestverbüßungsdauer bei lebenslanger Freiheitsstrafe. Beschließt die Strafvollstreckungskammer eine aus Sicht des Gefangenen zu lange Mindestverbüßungszeit, so kann er Rechtsmittel einlegen und gegenüber dem OLG die Rücknahme der Einwilligung erklären. Diese – wenn auch z.T. streitige – Verteidigungsoption sollte ihm belassen bleiben. Klaus Laubenthal stellt die deutsche Strafvollzugsgesetzgebung als das dar, was sie ist: Eine Abfolge gescheiterter Reformversuche (415 ff.). Andreas Quentin, inzwischen Richter am 4. Strafsenat des BGH, wirft die Frage auf: "Welche Strafmilderung schafft Aufklärungshilfe?" (463 ff.) und macht Vorschläge für eine – nach Ansicht des Rezensenten – dringend notwendige rationale Anwendung des § 31 Nr. 1 BtMG.

4. Themen aus der juristischen Zeitgeschichte und zum Völkerstrafrecht sind Gegenstand der Aufsätze im vierten und letzten Teil der Festschrift. Besonders hervorzuheben ist hier der nicht nur historisch interessierten Lesern zur Lektüre empfohlene Aufsatz zum berühmten Wilhelmstraßen-Prozess 1948/1949 aus der Feder von Klaus Kastner (499 ff.).

III. Die Festschrift enthält eine Fülle bemerkenswerter Aufsätze, deren Lektüre intellektuelles Vergnügen bereitet; und ohne andere schmälern zu wollen: Insbesondere die Beiträge von Arzt, Erb, Eschelbach und Jahn stechen aus Praktikersicht besonders hervor. Hoffentlich findet die Ehrengabe die Verbreitung, die sie verdient. Den Jubilar darf sie ganz sicher mit Freude und Stolz erfüllen.

Prof. Dr. Ralf Neuhaus, RA und Fachanwalt für Strafrecht, Dortmund/Bielefeld


[1] Die Entscheidung wird u. a. besprochen von Ransiek NJW 2009, 95 und Rönnau StV 2009, 246.

[2] Zur Rechtfertigung von Schmiergeld- und Bestechungszahlen jüngst: Dann Wistra 2011, 127: Korruption im Notstand.

[3] Ausführlich dazu Corsten HRRS 2011, 247: Erfüllt die Zahlung von Bestechungsgeldern den Tatbestand der Untreue?

[4] Vgl. etwa: Greeve, in: FS 25 Jahre Arge Strafrecht im DAV[2009], S. 512: Strafrechtliche Beratung und Compliance – Rechtsstaatlich bedenkliche Prävention und Kriminalitätsbekämpfung durch Private; Hart-Hönig, aaO, S. 535: Verteidigung von Unternehmen und Compliance im globalisierten Strafrecht – Rechtsstaatlich problematische Verschärfung von Haftungsrisiken; Wessing, aaO, S. 907: Der Einfluss von Compliance, Revision und firmeninternen Ermittlungen auf die Strafverteidigung; Neuhaus, in: Kempf/Lüderssen/Volk (Hrsg.), Die Finanzkrise, das Wirtschaftsstrafrecht und die Moral (2010), S. 385: Compliance-Systeme und Vorfeldermittlungen.

[5] Nachfolgerin wurde die ehemalige Justizministerin des Landes NRW Roswwitha Müller-Piepenkötter.

[6] Exemplarisch die Berichte von Gisela Friedrichsen, Im Zweifel gegen die Angeklagten (2008), Sabine Rückert, Unrecht im Namen des Volkes (2007) oder Meyer-Mews NJW 2000, 916.

[7] Bossi, Halbgötter in Schwarz (2005), S. 67.

[8] Dahs/Dahs, Die Revision im Strafprozess, 7. Aufl. (2008), Rn. 251.

[9] Geipel, Handbuch der Beweiswürdigung (2008), S. 505 ff.

[10] König, in: Ziegert (Hrsg.), Grundlagen der Verteidigung (1999), S. 155, 211.

[11] Neuhaus, in: Brüsow/Krekeler/Gatzweiler/Mehle, Strafverteidigung in der Praxis, 4. Aufl. (2007), § 13 Rn. 28.

[12] Pauly, in: FS R. Hamm (2009), S. 557, 557 f.

[13] Schlothauer StV 1992, 133, 138.

[14] Widmaier, in: Widmaier (Hrsg.), Münchener Anwaltshandbuch Strafverteidigung (2006), § 9 Rn. 108.

[15] Wilhelm ZStW 117 (2005), S. 143 ff.

[16] Ziegert, in: FS Volk (2009), S. 901, 903.

[17] Löwe/Rosenberg (25. Aufl.) – Hanack, vor § 333 Rn. 11.

[18] Hebenstreit HRRS 2008, 173, 178.

[19] Herdegen bei Schäfer StV 1995, 147, 147.

[20] Jagusch NJW 1971, 2009.

[21] Wahl, in: NJW-Sonderheft für Gerhard Schäfer (2002), S. 73, 74.

[22] Eschelbach, in: FS Widmaier (2008), S. 127 ff.

[23] Es gibt zum Beispiel, wie dem Rezensenten aus eigener forensischer Praxis bekannt ist, Schöffengerichte, von denen selbst Richterkollegen sarkastisch behaupten, sie seien mit drei Laienrichtern besetzt.

[24] Eschelbach meint sicher: "unbewusst".

[25] Vgl. etwa BGHSt 29, 18, 20. Das Rekonstruktionsverbot ist allerdings nicht unumstritten; vgl. etwa: Fezer, in: Ebert (Hrsg.), Aktuelle Probleme der Strafrechtspflege (1991); S. 89, 106 ff. Ganz unabhängig davon stellt sich aber die zu verneinende Frage, ob es auch noch extensiv ausgelegt werden muss.; so zutreffend: Sarstedt/Hamm, Die Revision in Strafsachen (6. Aufl. 1998), Rn. 254 ff, insbes. 262 f.

[26] Vgl. jüngst auch Kühne, in: FS Roxin (2011), S. 1269: "Die Verwertbarkeit von illegal erlangten Steuerdaten im Strafverfahren – Zugleich eine Stellungnahme zum Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 9. November 2011".

[27] Wolter, in: FS Roxin (2011), S. 1245: "Wider das systemlose Abwägungs-Strafprozessrecht – Über den Niedergang von Gesetzgebung und Rechtsprechung im Strafverfahrensrecht". Grundlegend und mit luzider Klarheit gegen den Einzelfall-Dezisionismus Jens Dallmeyer, Beweisführung im Strengbeweisverfahren, 2. Aufl. (2008) mit zust. Bespr. Neuhaus HRRS 2010, 485 sowie zur ersten Aufl. Sabine Gleß GA 2004, 252; Rainer Hamm NJW 2003, 194; Bernd von Heintschel-Heinegg JA 2003, 243 und Hans-Heiner Kühne StV 2003, 422. Die Liste der Kritiker ließe sich beträchtlich fortsetzen.

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Theile, Hans: Wirtschaftskriminalität und Strafverfahren; 401 Seiten, 94,00 €, Mohr Siebeck, Tübingen 2009.

I. "Wirtschaftskriminalität und Strafverfahren", die Habilitationsschrift von Hans Theile, ist aus einer empirischen Studie hervorgegangen, deren Zielsetzung darin bestand, Fragen der Wirtschaftskriminalität im Zusammenhang mit Privatisierungen in der ehemaligen DDR zu untersuchen. Eine solche "kriminologische (Fremd-) beobachtung des Strafrechts" (S. 291) kann für die Strafrechtsdogmatik fruchtbare Diskussionsansätze liefern, macht sie es – in den Worten des Verfassers – doch möglich, "die ‚blinden Flecke‘ des Strafrechtssystems[zu]identifizieren" (S. 107); freilich wird damit keine "privilegierte Beobachterposition" in Anspruch genommen, da der Fremdbeobachter seinerseits ebenfalls einen "blinden Fleck" aufweist (S. 108). Ist die Arbeit schon aus diesem Grunde im positivsten Sinne eine "Herausforderung" für die herkömmliche Dogmatik, so trifft dies umso mehr deshalb zu, weil Theile für seine Arbeit einen systemtheoretischen Ausgangspunkt wählt. Obwohl die Systemtheorie selbst in der ihre Relevanz für die Rechtsanwendung relativierenden Luhmann-Rezension von Thomas Fischer mit dem Prädikat "von einer schwer zu überbietenden Dichte und Gedankenfülle" ausgezeichnet wurde,[1] haben das hohe Abstraktionsniveau sowie die Eigentümlichkeit des Luhmannschen Begriffsapparates zugleich eine nicht selten abschreckende Wirkung auf den Leser.[2] Es wäre jedoch ein Fehler, würde man allein aufgrund des systemtheoretischen Bezugsrahmens eine intensive Auseinandersetzung mit Theiles Arbeit scheuen. Denn "Wirtschaftskriminalität und Strafverfahren" ist ein gedankenreicher Beitrag zu einer dringend notwendigen Diskussion über die Grundlagen des Wirtschaftsstrafrechts. Dies kann der Rezensent auch und womöglich gerade deshalb sagen, weil er in mancherlei Hinsicht eine entgegengesetzte Position vertritt, zu deren erneutem Überdenken ihn die Arbeit zwingt.

II. Bereits in der Einleitung wird von "erheblichen Implementationsproblemen" des Strafrechts im Bereich der Wirtschaftskriminalität gesprochen (S. 1) und es wird die Hypothese aufgestellt, "dass sich hinter diesem Phänomen grundsätzliche Schwierigkeiten verbergen, die (Wirtschafts-)Gesellschaft mit dem Instrument des Strafrechts zu steuern" (S. 2). Im Folgenden stellt Theile dann den "steuerungstheoretischen Hintergrund der Problematik" (S. 5) dar, indem er eine "formal-rationale Strafrechtskonzeption" (S. 7 ff.) einem "material-rationalen" Verständnis (S. 10 ff.) gegenüberstellt. Bei ersterer sei dem Recht "allein die Aufgabe zugewiesen, den formalen Rahmen für die Entfaltung von Selbststeuerungsprozessen zu geben, ohne in diese Prozesse intervenierend einzugreifen" (S. 7). Diese Konzeption wird mit einem "klassisch-liberalen" Strafrecht gleichgesetzt, das der möglichst weitgehenden Gewährleistung individueller Freiheit diene (S. 8 ff.). Demgegenüber komme dem Strafrecht bei einer material-rationalen Konzeption eine originäre Gestaltungsaufgabe hinsichtlich anderer gesellschaftlicher Bereiche zu. Theile nennt das "moderne Wirtschaftsstrafrecht" (S. 11) als Ausprägung dieser Rechtskonzeption und zeigt verschiedene Auswirkungen dieser Entwicklung auf der Ebene der Normsetzung bzw. der Normanwendung auf, u.a. die Wandlung des Rechtsgutsbegriffs (S. 14 ff.), die Herausbildung neuartiger Zurechnungsstrukturen im Produktstrafrecht (S. 18) oder die verstärkte Hinwendung zu einem Einheitstäterbegriff (S. 19). Die Rolle des Strafverfahrens bestehe insoweit primär darin, "über die Durchsetzung des materiellen Strafrechts die in den materiellrechtlichen Straftatbeständen verkörperten Steuerungsziele umzusetzen, um auf diese Weise die Wirtschaft material zu gestalten" (S. 23). Andere Funktionen stellt Theile insoweit ausdrücklich nicht in Abrede; sie seien für die von ihm beabsichtigte Untersuchung lediglich nicht von Belang (S. 23 f.).

Theile weist selbst darauf hin, dass es sich bei der Gegenüberstellung von formal- bzw. material-rationaler Rechtskonzeption um "analytisch verwendbare Idealtypen" handelt (S. 5). Ohne Zweifel ist diese Unterscheidung stark vereinfachend und sie wäre in anderen Zusammenhängen vermutlich – in der Diktion von Theile – "unterkomplex". Im Einzelfall dürfte es kaum möglich sein zu unterscheiden, ob eine gesetzliche Norm noch in erster Linie dazu dient, einen "formalen Rahmen für die Entfaltung von Selbststeuerungsprozessen" zu schaffen oder ob sie bereits den Versuch darstellt, in derartige Selbststeuerungsprozesse ihrerseits steuernd einzugreifen. Aber dies ändert nichts daran, dass die Unterscheidung einen für die Untersuchung von Theile bedeutsamen Gegensatz analytisch präzise zuspitzt, nämlich die Frage, inwieweit das (Straf-)Recht für sich in Anspruch nehmen darf, gegenüber der Wirtschaft bzw. deren "Systemvernunft" mit einem eigenen normativen Gestaltungsanspruch aufzutreten.

Im 2. Kapitel stellt Theile begriffliche und theoretische Grundannahmen der Arbeit dar. In begrifflicher Hinsicht entscheidet er sich nach einer kritischen Würdigung des Meinungsstandes zum Begriff der Wirtschaftskriminalität (S. 27 ff.) dafür, darunter das sog. "Corporate Crime" zu verstehen, also Straftaten, die im wirtschaftlichen Interesse eines Unternehmens von Angehörigen des Unternehmens begangen werden (S. 42). Sodann wird die Notwendigkeit betont, die empirischen Erkenntnisse vor dem Hintergrund eines sozialwissenschaftlichen Bezugsrahmens zu analysieren (S. 43 ff.). Dabei wird der – in der Rechtswissenschaft vor allem aus dem Kontext der ökonomischen Analyse des Rechts bekannte – Rational Choice-Ansatz als für die Zwecke der Untersuchung ungeeignet verworfen. Er sei zum einen nicht in der Lage, die Bedeutung korporativer Akteure (der Unternehmen) im Zusammenhang mit Wirtschaftskriminalität angemessen zu erfassen (S. 48 ff.); zum anderen verspreche er für die Untersuchung von Mechanismen des Strafverfahrens – anders als möglicherweise bei materiellrechtlichen Fragestellungen – wenig Erkenntnisgewinn (S. 51 ff.). Stattdessen wählt Theile für seine Arbeit, wie bereits angedeutet, einen systemtheoretischen Bezugsrahmen, was angesichts der "ausgeprägten Begriffsdifferenzierungen der Systemtheorie" einen "höheren Grad an

Exaktheit in der Beschreibung und Analyse des Untersuchungsgegenstandes" verspreche (S. 56).

Zugleich erfolgt hiermit jedoch eine entscheidende Weichenstellung für die gesamte Arbeit. Denn die Grundannahme der Systemtheorie, i.e. die Ausdifferenzierung der Gesellschaft in unterschiedliche operativ geschlossene Subsysteme, führt von vornherein dazu, dass sich "die Steuerungsansprüche des material-rationalen Strafrechts[…]an der Abgeschlossenheit und einseitigen Interessenausrichtung der Wirtschaft und ihrer Unternehmen ‚abarbeiten‘" (S. 57).[3] Insofern erscheine "der Misserfolg strafrechtlicher Regulierungsbemühungen von vornherein weit weniger als ein im Sinne eines Implementationsdefizits zu beklagendes Scheitern im Einzel-, sondern im Gegenteil als zu erwartender Regelfall" (S. 59). Damit wird die in der Einleitung formulierte Hypothese quasi durch die Wahl des theoretischen Bezugsrahmens bereits weitgehend bestätigt. Dies ist umso problematischer, als man die Systemtheorie als solche – um erneut den ihr durchaus distanziert gegenüberstehenden Thomas Fischer zu zitieren – "ernsthaft weder ‚richtig‘ finden noch sie ‚widerlegen‘ kann".[4] Vor diesem Hintergrund ist es problematisch, jeden Steuerungs- und Gestaltungsanspruch des Rechts unter Berufung auf systemtheoretische Erwägungen voreilig aufzugeben bzw. zu relativieren, wenngleich die Vorstellung einer unmittelbar kausalen Steuerung i.e.S. in einer komplexen ("postmodernen") Gesellschaft ohne Zweifel naiv anmutet.

Im weiteren Verlauf des 2. Kapitels erfolgt eine instruktive Darstellung systemtheoretischer Grundlagen und Begriffe (S. 59 ff.), die zudem mit Blick auf den spezifischen Untersuchungsgegenstand ergänzt werden (S. 77 ff.). Zusammenfassend wird die Aufgabe des Strafverfahrens – das von Theile als eigenständiges (Sub-)System begriffen wird (S. 85 ff.) – dahingehend umschrieben, dieses habe "eine Entscheidung über die Frage der Nichtsanktionierung oder Sanktionierung des vermuteten materiellrechtlichen Normverstoßes herbeizuführen und durch diese Leistung eine Lösung des durch den strafprozessualen Anfangsverdachts ausgelösten Konflikts zwischen dem Beschuldigten und dem strafenden Staat zu ermöglichen" (S. 105). Die "Stabilisierung normativer Erwartungen" – nach Luhmann die einzige Funktion des Rechts, während Verhaltenssteuerung und Konfliktlösung allenfalls als dessen Leistungen zu begreifen seien[5] – hänge insoweit vor allem davon ab, "ob die innerhalb des jeweiligen Strafverfahrens betriebene Reduktion von Komplexität gerecht im Sinne einer adäquaten Komplexitätsreduktion" sei (S. 106). Das 2. Kapitel wird durch eine Darstellung der methodischen Konzeption sowie der untersuchten Strafverfahren abgerundet (S. 106 ff.).

Im 3. Kapitel werden die empirischen Befunde – es handelt sich vor allem um Aufzeichnungen aus Interviews mit Verfahrensbeteiligten – dargestellt und gewürdigt. Im Zusammenhang mit materiellrechtlichen Fragen beschreibt Theile eingangs eine drohende "‚Selbstsabotage‘ des Strafrechtssystems durch ‚strafrechtliche Stagflation‘ im Sinne eines Nebeneinanders von Inflation des Steuerungsanspruchs und Stagnation tradierter rechtlicher Kategorien" (S. 131). Diese Entwicklung folge daraus, dass der von der material-rationalen Rechtskonzeption postulierte Steuerungsanspruch dahingehend instrumentalisiert werde, anstatt bestehende Erwartungen zu stabilisieren neuartige Erwartungen erst zu konstituieren, indem "Konflikte aus dem Boden gestampft werden" (S. 131). Hierzu werde vor allem der Untreuetatbestand genutzt, der sich "nahezu beliebig in den Dienst der Konstituierung normativer Erwartungen stellen lasse" (S. 160). So zeigt Theile dann anhand der Interviews erhebliche Diskrepanzen bei der Beurteilung der objektiven Tatbestandsmäßigkeit einschlägiger Verhaltensweisen zwischen Beschuldigten/Verteidigern und insbesondere der Staatsanwaltschaft, für die er in erster Linie den Konflikt unterschiedlicher Systemrationalitäten verantwortlich macht (S. 129 ff.). Besondere Probleme bei der Umsetzung des materiellrechtlichen Programms entstünden zum einen dort, wo das Strafrecht auf wirtschaftlich geprägte außerstrafrechtliche Materien – z. B. das Bilanz- oder Steuerrecht – Bezug nehme (S. 134 f.); zum anderen sei die strafrechtliche Beurteilung riskanter unternehmerischer Prognoseentscheidungen mit Blick auf die divergierenden Systemrationalitäten in erhöhtem Maße problematisch (S. 138 ff.). Auch in subjektiver Hinsicht habe sich schließlich vor allem § 266 StGB als problematisch erwiesen, da dieser für die im Wirtschaftssystem verankerten psychischen Systeme aufgrund seiner Unbestimmtheit kaum im Sinne von Vorsatz bzw. Unrechtsbewusstsein erfasst werden könne (S. 146 ff.).

An dieser Stelle wäre es aus Sicht des Rezensenten sinnvoll gewesen stärker zu hinterfragen, ob es nicht auch oder gar primär konkrete Interessen der jeweiligen Beteiligten sind, die jedenfalls unbewusst ihre Wahrnehmungen und Einschätzungen mitprägen. Stellt man dies in Rechnung, kann die Tatsache, dass es zwischen Beschuldigten und ihren Verteidigern einerseits sowie Staatsanwälten andererseits zu gegensätzlichen Beurteilungen bzgl. der Strafbarkeit verfahrensgegenständlicher Verhaltensweisen kommt, kaum überraschen. Auch die Probleme bei der strafrechtlichen Einbeziehung des vorgelagerten Wirtschaftsrechts sowie beim Umgang mit Prognoseentscheidungen (Stichwort: hindsight bias) sind im Grundsatz bekannt, wenngleich sicher nicht abschließend gelöst. Ob es zur Erklärung dieser Phänomene wirklich eines systemtheoretischen Bezugsrahmens bedarf, bzw. ob die von Theile dargestellten Erkenntnisse zu materiellrechtlichen Fragen vor diesem Hintergrund geeignet sind, fundamentale Dysfunktionalitäten zwischen strafrechtlichem Steuerungsanspruch und Wirtschaft zu bestätigen, erscheint aus Sicht des Rezensenten fraglich.

Ertragreicher – und für die Arbeit schon kraft ihres Titels von zentralerer Bedeutung – sind demgegenüber die Erkenntnisse zu prozessualen Fragen. Hier arbeitet Theile dezidiert anhand der empirischen Untersuchungen heraus, dass das material-rationale Strafrecht sich auf ver-

fahrensrechtlicher Ebene längst von einem umfassenden Legalitätsprinzip gelöst hat und stattdessen auf der Basis eines Selektionsparadigmas arbeitet (S. 162 ff.). Er betont dabei immer wieder ein Spannungsverhältnis zwischen Leistung (Konfliktlösung) und Funktion (Normstabilisierung) des Strafrechts, wenn sich die Konfliktlösungsmechanismen nicht hinreichend an den einschlägigen strafprozessualen Kriterien orientieren (S. 166 ff.). Die einzelnen – teils formellen, teils informellen – prozessrechtlichen Selektionskriterien werden dann von Theile unter Auswertung der empirischen Erkenntnisse untersucht, wobei neben dem Opportunitätsprinzip (S. 196 ff.) und den verfahrenserledigenden Absprachen (S. 213 ff.), die jeweils strukturell bereits auf Selektion angelegt sind, auch Selektionsmöglichkeiten auf der Grundlage des Legalitätsprinzips selbst dargestellt werden (S. 181 ff.). Insbesondere hinsichtlich der verfahrenserledigenden Absprachen stellt Theile fest, dass es sich um einen "sich in das material-rationale Strafrecht einfügenden konsensualen Selektionsmechanismus handelt, der eine besondere Affinität zu Wirtschaftsstrafverfahren aufweist und gerade in Konstellationen von Unternehmenskriminalität als probates Erledigungsinstrument erscheint" (S. 233).

Ein weiterer Gegensatz zwischen dem formalen prozessrechtlichen Programm und den gleichsam praeter legem entwickelten informellen Programmen zur Konfliktbewältigung wird von Theile zum Abschluss des 3. Kapitels anhand zweier scheinbar gegenläufiger Aspekte dargestellt: der spezifischen Funktion strafprozessualer Zwangsmaßnahmen im Wirtschaftsstrafverfahren sowie der Herausbildung eines dialogisierenden Verfahrensstils (S. 234 ff.). Zunächst werden die Auswirkungen einer material-rationalen Strafrechtskonzeption auf den Einsatz strafprozessualer Maßnahmen mit Eingriffscharakter – als Ausprägung eines traditionell autoritativ operierenden Strafrechts – gezeigt. So führe die "tatbestandliche Verkürzung" materiellrechtlicher Tatbestände (insbesondere im "modernen Wirtschaftsstrafrecht") zu einer Herabsenkung der Eingriffsschwelle für Durchsuchungen, die wiederum im Zusammenhang der unternehmensbezogenen Straftaten eine zusätzliche sanktionierende Wirkung gegenüber den Unternehmen entfalten (S. 236 ff.). Zugleich wird ein "Leerlaufen" richterlicher Kontrollbefugnisse sowie eine dem gesetzlichen Regel-Ausnahme-Verhältnis widersprechende Verlagerung der Anordnungsbefugnis auf die Staatsanwaltschaft diagnostiziert (S. 238 ff.). Dieselbe Entkopplung von gesetzlichen Vorgaben und Verfahrensrealität wird sodann im Zusammenhang mit der Anordnung von Untersuchungshaft aufgezeigt, wo Theile insbesondere das Phänomen der apokryphen Haftgründe (S. 246 ff.). darstellt. Der im Anschluss daran ausführlich hinsichtlich seiner Entstehungsbedingungen sowie seiner unterschiedlichen Ausprägungen geschilderte, für Wirtschaftsstrafverfahren charakteristische "dialogisierende Verfahrensstil" (S. 254 ff.), steht Theile zufolge nur im scheinbaren Gegensatz zum Einsatz strafprozessualer Zwangsmaßnahmen (S. 280 ff.). Denn diese können von Seiten der Staatsanwaltschaft vielmehr eingesetzt werden, um – euphemistisch formuliert – die Bereitschaft zu einer gesprächsorientierten Vorgehensweise zu fördern und so letztlich auf die Verfahrenserledigung im Wege der Absprache hinzuwirken.

Die Quintessenz der empirischen Erkenntnisse lautet in einer prägnanten Zusammenfassung: "Insgesamt deutet sich an, dass weder das Programm des materiellen noch des prozessualen Strafrechts einen maßgeblichen Referenzpunkt für die Verfahrenspraxis bildet" (S. 286). Um das darin begründete, von Theile in vielerlei Facetten herausgearbeitete "Spannungsverhältnis zwischen Leistung und Funktion des Strafrechts" aufzulösen, werden im 4. Kapitel kriminalpolitische Konsequenzen diskutiert. So wird die Möglichkeit einer Verstärkung personeller und institutioneller Ressourcen der strafrechtlichen Kontrollinstanzen als ungeeignet zurückgewiesen, da hierdurch die grundsätzlichen Implementationsprobleme nicht beseitigt werden könnten (S. 293 ff.). Auf der Ebene des materiellen Strafrechts sei eine "Rückkehr zur formal-rationalen Strafrechtskonzeption[…] keine realistische Option" (S. 298). Auch die Einführung einer Unternehmensstrafbarkeit wird von Theile nicht als adäquate Problemlösungsmöglichkeit betrachtet (S. 298 ff.). Im Folgenden konzentrieren sich seine Erörterungen dann auf mögliche Reformen auf der Ebene des Prozessrechts. Hier wird zunächst das auf die Arbeiten von Teubner und Willke zurückgehende Konzept des reflexiven Rechts als Ausgangspunkt gewählt, demzufolge das Recht eine "Empathie" für die Bedingungen seiner Umwelt entwickeln müsse, da es seine Funktion nur erfüllen könne, wenn es für diese Umwelt wiederum selbst eine "brauchbare Umwelt" darstelle (S. 310). Angesichts der angenommenen Unmöglichkeit einer kausalen Steuerung müsse diese "Selbsterkenntnis" des Rechts die Konsequenz haben, dass sich das Recht jedenfalls in Teilbereichen entschließt, "zu regeln, dass es nichts regelt", um so "seine Funktion auf Kosten seiner Leistung" zu sichern (S. 311).

Nach Theile folgt aus alledem zunächst die Forderung an den Gesetzgeber, die zunächst informell entstandenen neuartigen Verfahrenselemente "gesetzgeberisch nachzuvollziehen" (vgl. S. 316), was zwischenzeitlich zumindest partiell bekanntlich geschehen ist. Der neuartige, vom Gesetzgeber auszugestaltende Verfahrenstypus müsse an den "Paradigmen von Selektion und Konsens" orientiert sein, wobei die jeweiligen Selektionsentscheidungen bzw. Konsensfindungen durch den prozeduralen Gerechtigkeitsparameter der Fairness legitimiert werden sollen (S. 317 ff.). Dabei sei das maßgebliche Fairness- bzw. Gerechtigkeitskriterium im Hinblick auf das Ob einer strafprozessualen Regulierung die Unparteilichkeit der Entscheidung (S. 321 ff.), während das Wie strafprozessualer Regulierung vor allem durch gleichberechtigte und effektive Partizipation aller Beteiligten geprägt sein müsse (323 ff.). Das "reflexive strafprozessuale Programm" eines solchen Verfahrenstypus – der bis auf Weiteres parallel zum "klassischen" Strafprozess für bestimmte Verfahrensarten in Betracht gezogen werden solle (S. 329) – liest sich dann beinahe wie eine "brave new world" des Strafprozessrechts: Zurückdrängung des Legalitätsprinzips (S. 330: "verzichtbar"), jedenfalls partielle Annäherung an den Parteiprozess (S. 331) mit Blickrichtung auf eine "auf der Grundlage strafprozessualer Kommunikation diskursiv erzeugte konsentierte Wahrheit" (S. 332), Vorverlagerung des Verfahrensschwerpunktes in das nichtöffentliche Ermittlungsverfahren mit der Möglichkeit eines Beweistransfers (S. 334 ff.), freilich bei gleichzeitiger Stärkung der richterlichen Funktion im

Ermittlungsverfahren, sowie schließlich die Aufnahme "formloser, aber institutionalisierter Rechtsgespräche in die Strafprozessordnung" (S. 337). Theile selbst führt aus: "Dies alles mag gemessen am Ideal des der Strafprozessordnung ursprünglich zugrunde liegenden Prozessmodells unbefriedigend erscheinen, ermöglicht aber vermutlich eher die Reduktion wirtschaftlicher Komplexität, die im Gegensatz zur derzeitigen Verfahrenswirklichkeit dann auch den Vorgaben des formellen prozessualen Programms genügen würde." Müsste man hier ergänzen: nachdem das formelle prozessuale Programm zuvor an die derzeitige Verfahrensrealität angepasst wurde?

III. Dass sich die strafverfahrensrechtliche Wirklichkeit insbesondere in Wirtschaftsstrafsachen längst von strafprozessualen Grundsätzen entfernt hat, dürfte kaum einen geneigten Betrachter überraschen. Die von Theile als Reaktion auf diese "Implementationsprobleme" vorgeschlagene "Anpassung" des Verfahrensrechts – pejorativ könnte man von einer "Unterwerfung" sprechen – an diese tatsächliche Entwicklung dürfte vielfach auf heftigen Widerspruch stoßen, nimmt man nur das Meinungsbild zum Deal als Maßstab. Es ist indes keineswegs so, dass die Gefahren, die mit einem solchen Verfahrenstypus einhergingen, bei Theile nicht angesprochen würden (siehe etwa S. 317). Es bleibt allein der Eindruck, dass die kriminalpolitischen Vorschläge durch die frühe Festlegung auf die Systemtheorie weitgehend vorgezeichnet scheinen. Denn wenn eine kausale Steuerung der Wirtschaft durch das Strafrecht per se als unmöglich gilt, dann ist es nur noch ein kleiner Schritt hin zu dem Gedanken, dass sich das Strafrecht bei seinen "selbstreflexiven Regulierungsbemühungen" an der wirtschaftseigenen "Systemvernunft" orientieren, sich ihr – wiederum pejorativ formuliert – unterordnen muss. Das Rechtssystem muss (und kann) aber nur nach rechtlichen Maßstäben, also nach seiner eigenen Systemvernunft darüber entscheiden, welche normativen Erwartungen innerhalb des Wirtschaftssystems kontrafaktisch stabilisiert werden und welche nicht.[6] Mag diese Notwendigkeit der normativen Geschlossenheit von Luhmann auch in erster Linie mit Blick auf die "Abschottung" des Rechts gegenüber moralisch begründeten Erwartungen formuliert worden sein,[7] so muss sie doch gegenüber etwaigen Erwartungen in der "wirtschaftlichen Umwelt" des Rechtssystems ebenso behauptet werden. Es müssen demnach – um es pathetischer zu formulieren – stets die in unserer Verfassung verankerten Grundentscheidungen sein, die als Maßstab dafür fungieren, welche Normen innerhalb des Wirtschaftssystems materiellrechtlich geschützt werden bzw. nach welchen Maßgaben prozessual mit vermuteten Normverstößen umgegangen wird.

Richtigerweise stellt Theile insoweit jedoch heraus, dass sich Wissenschaft und Praxis immer wieder des gesellschaftlichen Umfeldes des Recht bzw. der Rechtsanwendung versehen müssen, da jede Rechtsnorm zumindest mit einem Minimum an Geltungschance ausgestattet sein muss. So gesehen ist ein reflexives, sich selbst kritisch beobachtendes und hinterfragendes Recht gerade eine Bedingung dafür, dass ein Geltungs- bzw. Gestaltungsanspruch überhaupt erhoben werden kann. Somit ist "Wirtschaftskriminalität und Strafverfahren" ein wertvoller Beitrag zu einer Diskussion über eben diese Bedingungen der Durchsetzung eines normativen Gestaltungsanspruches des Strafrechts speziell im Bereich des modernen Wirtschaftslebens – eine Diskussion, deren Bedeutung angesichts der gegenwärtigen Entwicklungen speziell in der Finanzwirtschaft kaum überschätzt werden kann. Insofern sei abschließend ein alternatives Erklärungsmodell bzgl. der – empirisch unbestreitbaren – "Implementationsprobleme" des Strafrechts gegenüber der Wirtschaft angedeutet: Womöglich lassen sich diese zumindest auch dadurch erklären, dass das Rechtssystem stets "Anstöße" aus seiner Umwelt benötigt, um eigene Mechanismen zur Reduktion von Umweltkomplexität zu entwickeln.[8] Das Recht muss also mit den neuartigen Ausdifferenzierungen des Wirtschaftssystems konfrontiert werden. Man könnte sagen, es muss "gezwungen" werden, über die aus diesen Entwicklungen resultierenden sozialen Konflikte[9] unter dem Blickwinkel seines eigenen Codes zu entscheiden. Somit könnte die Praxis des häufigen "Ausdealens" in Wirtschaftsstrafsachen nicht lediglich eine Reaktion auf Implementationsprobleme sein, sondern vielmehr zu deren Verstärkung beitragen. So verstanden würde jeder Deal dem Recht die Möglichkeit nehmen, sich selbst in Ansehung der fortschreitenden Ausdifferenzierung seiner (wirtschaftlichen) Umwelt weiterzuentwickeln – erkennbar ein circulus vitiosus. Folgt man diesem hier freilich lediglich abduktiv entwickelten Gedanken, so wären die von Theile konstatierten und empirisch belegten Defizite bei der Aufarbeitung von Wirtschaftskriminalität kein Argument für "mehr Deals", sondern für das Gegenteil. Ist somit das letzte Wort in der von Theiles Werk signifikant beförderten kriminalpolitischen Diskussion sicher noch nicht gesprochen, so zeigt die Arbeit eines doch ganz deutlich: Ein normativ wirkmächtiges Wirtschaftsstrafrecht ist ohne eine soziologisch fundierte Auseinandersetzung mit den Beziehungen zwischen Recht, Wirtschaft und Gesellschaft nicht zu haben.

Wiss. Ass. Dr. Christian Becker, Hamburg


[1] GA 2001, 562, 563.

[2] Auch R. Dreier spricht in seiner instruktiven Darstellung des Luhmannschen Rechtsbegriffs (ARSP 88[2002], 305 ff.) von "erheblichen Rezeptionsbarrieren" aufgrund der "theoretischen Befrachtung" vor allem des Spätwerks (S. 322).

[3] Wer demgegenüber eine Verknüpfung von Recht und Moral für begrifflich und normativ notwendig hält (zur ausführlichen Begründung dieser dort sog. "Verbindungsthese" Alexy, Begriff und Geltung des Rechts, 4. Aufl.[2005], passim), der könnte – aus Sicht eines Systemtheoretikers womöglich geradezu ketzerisch – der Meinung sein, die Wirtschaft müsse sich umgekehrt an den auch ethisch-moralisch fundierten Rechtsnormen "abarbeiten" (und wenn sie dies nicht tut, mit den Konsequenzen leben).

[4] GA 2001, 562, 563.

[5] Luhmann, Das Recht der Gesellschaft (1993), S. 131 ff. und 152 ff.

[6] Vgl. auch Luhmann (Fn. 5), S. 455: "Es[Anm. d. Verf.: die strukturelle Kopplung von Wirtschaft und Recht]ändert nichts daran, dass die Wirtschaft unter durch das Recht erschwerten Bedingungen Profite bzw. rentablen Kapitaleinsatz sucht und das Rechtssystem unter durch Wirtschaft erschwerten Bedingungen Gerechtigkeit oder doch hinreichend konsistente Fallentscheidungen". Eine Verpflichtung des Rechts zur besonderen Rücksichtnahme auf die Systemvernunft der Wirtschaft lässt sich dem nicht ohne Weiteres entnehmen.

[7] Luhmann (Fn. 5), S. 77 ff.; zur Betonung der normativen Geschlossenheit im Rahmen von strukturellen Kopplungen a.a.O., S. 445: "nie führen strukturelle Kopplungen Umweltnormen in das Rechtssystem ein".

[8] Siehe Luhmann (Fn. 5 ), S. 490 und 567 f.

[9] Für das Strafrecht geht es in erster Linie um das Maß der zur Vermeidung besonders sozialschädlicher Folgen unabdingbaren Einschränkung der (im vorliegenden Kontext: wirtschaftlichen) Handlungsfreiheit des Einzelnen. Dass die Frage danach mit Blick auf das Wirtschaftssystem jedenfalls gestellt werden muss, dürfte angesichts der jüngsten Entwicklungen in der Finanzwirtschaft deutlich sein, wobei hieraus freilich nicht unmittelbar darauf geschlossen werden kann, dass eine stärkere Beschränkung individueller Handlungsfreiheiten speziell durch strafbewehrte Verhaltensnormen ("mehr Strafrecht") eine adäquate Reaktion ist.