HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Juni 2006
7. Jahrgang
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Schrifttum

Thomas Kuhn/Jörg Weigell: Steuerstrafrecht (Strafverteidigerpraxis, Bd. 8), C.H. Beck, München, 2005, XX, 210 Seiten, kart., ISBN 3-406-53497-X, EUR 28,00.

I. Das Steuerstrafrecht hat sich schon seit geraumer Zeit als eigenständige Sondermaterie neben dem übrigen (Wirtschafts-)Strafrecht herausgebildet. Die Schwierigkeiten liegen dabei nicht so sehr im zentralen Tatbestand des § 370 AO selbst begründet (wenngleich auch dieser - zum Teil möglicherweise gerade deshalb, weil sich alles um ihn dreht - Gegenstand feinsinniger und vielfältiger Interpretationen ist), sondern zum einen in den materiell-steuerrechtlichen (Vor-)Fragen sowie in den Besonderheiten des Verfahrens, in dem neben der StPO auch die AO zu beachten ist und in dem neben der Staatsanwaltschaft auch die Steuerbehörden (insb. die Steuerverahndung sowie die Bußgeld- und Strafsachenstelle[BuStra]) tätig werden.

II. Für die Experten, die sich auf diesem Gebiet tummeln, gibt es umfangreiche Kompendien, in denen Spezialfragen zuverlässig und detailliert behandelt werden.

Der Einstieg in die Materie wird durch diese Werke freilich nur bedingt erleichtert; insoweit kommt dem hier anzuzeigenden Band von Kuhn und Weigell in der Reihe Strafverteidigerpraxis eine nicht zu unterschätzende Bedeutung zu. Neben einer Darstellung der Rechtslage sparen beide Verfasser auch nicht mit praktischen Hinweisen und lassen den Leser so an ihrer Erfahrung teilhaben.

1. Inhaltlich werden das materielle Steuerstrafrecht im engeren Sinn (d.h. die Straftatbestände der AO einschließlich der Steuerordnungswidrigkeiten), der Gang des Steuerstrafverfahrens sowie das spezielle steuerstrafrechtliche Institut der Selbstanzeige dargestellt.

a) Die Darstellung des materiellen Steuerstrafrechts wirft eingangs die Frage auf, ob "§ 370 AO als Blanketttatbestand den Anforderungen des Bestimmtheitsgebotes genügt" (vgl. Rn. 1), welche von Weigell zwar tendenziell verneint wird, allerdings für die praktische Arbeit selbstverständlich unterstellt werden muss (möglicherweise jedoch - ergänzend bemerkt  - bei der Frage nach den Auswirkungen von Irrtümern für die Verteidigung fruchtbar gemacht werden kann). Im Anschluss werden die Abgabepflichten hinsichtlich der Steuererklärung (einschließlich etwa der Problemfelder der Berichtigung von Steuererklärungen oder des Streites um das Erfordernis eines Hinweises auf eigene von der Steuerverwaltung abweichende Rechtsauffassungen in der Steuererklärung) nachgezeichnet, an die § 370 AO maßgeblich anknüpft.

Es folgt ein ausführlicherer Teil über die Voraussetzungen der Steuerstraftatbestände der §§ 369-376 AO, wobei - der praktischen Bedeutung entsprechend - der klare Schwerpunkt auf § 370 AO liegt. Im Zusammenhang mit den Rechtsfolgen der Steuerhinterziehung (welche ebenso neben den Tatbestandsmerkmalen angesprochen werden wie Fragen des Vorsatzes bzw. von Irrtümern, der Täterschaft und Teilnahme oder des Versuchs) wird auch die heftig umstrittene Vorschrift des § 370 a AO (gewerbs- oder bandenmäßige Steuerhinterziehung in großem Ausmaß) behandelt. Diese wird als bislang noch konturlos (vgl. Rn. 117) kritisiert wird, ohne freilich die Intensität der Kritik, die an dieser Vorschrift in der Literatur geäußert wird (und die möglicherweise auch ein gewisses Verteidigungspotential bietet) so deutlich zu machen, wie es vielleicht möglich wäre. Die sonstigen Steuerstraftaten (Bannbruch, Steuerhehlerei, schwerer Schmuggel und Fälschung von Steuerzeichen werden nur knapp, die Steuerordnungswidrigkeiten der §§ 377 ff. AO nur wenig ausführlicher dargestellt.

b) Zu Recht den weitaus größten Teil des Buches nehmen die Ausführungen zum Gang des Steuerstrafverfahrens ein (vgl. Rn. 218 ff.). Hierzu weist Kuhn bei der Darstellung der Verfahrensbeteiligten zutreffend darauf hin, dass der Rechtsanwalt als Verteidiger in Steuerstrafsachen sich selbst "bezüglich seiner fachlichen Eignung kritisch prüfen" sollte (vgl. Rn. 228), bevor er das Mandat annimmt. Die Ausfüllung des § 370 AO durch das materielle Steuerrechts sowie die Besonderheiten des Verfahrens und die mangelnde Vertrautheit mit den beteiligten Behörden lassen den "steuerrechtlich nicht besonders geschulten Verteidiger schnell an seine Grenzen" stoßen (vgl. Rn. 229), so dass der Hinweis sinnvoll ist, entsprechende Mandate "mit einem Angehörigen der steuerberatenden Berufe oder mit einem fiskal tätigen Rechtsanwaltskollegen (…) gemeinsam" zu bearbeiten (vgl. Rn. 231).

Bei der Darstellung der Verfahrensbeteiligten werden auch Einordnung und Aufgabe der Steuerfahndung (Rn. 232 ff.) sowie der Bußgeld- und Strafsachenstelle (BuStra bzw. Strafsachen- und Bußgeldstelle, StraBu, vgl. Rn. 245 ff.) dargestellt.

Es folgend Schilderungen des ersten Zugriffs der Steuerbehörden beim Mandanten (vgl. Rn. 265 ff.), Hinweise für die Verteidigung im Ermittlungsverfahren (einschließlich des Rechtsschutzes gegen Zwangsmaßnahmen, vgl. Rn. 365 ff.), auf dessen prägende Bedeutung für das gesamte Verfahren zu Recht hingewiesen wird. Nach kurzen Darlegungen zu den Möglichkeiten einer Verfahrenserledigung nach durchgeführtem Ermittlungsverfahren (d.h. insbesondere zu Einstellungsmöglichkeiten nach § 170 II StPO, §§ 153 ff. StPO oder aber zum Erlass eines Strafbefehls vgl. Rn. 446 ff.) sowie einem Blick auf das Zwischenverfahren wird die - vom allgemeinen Strafrecht teilweise abweichend gestaltete - Hauptverhandlung in Steuerstrafrechtssachen dargestellt (vgl. Rn. 474 ff.). In diesem Rahmen erfolgen auch über das Steuerstrafverfahren teilweise hinausgehende, allgemeingültige Hinweise etwa zur Hinwirkung auf "verfahrensleitende Absprachen" (vgl. Rn. 481 f., welche Kuhn begrifflich von dem die Vorgaben der Rechtsprechung zur Absprache nicht berücksichtigenden Deal unterscheidet), zur Möglichkeit eines "opening statements" (vgl. Rn. 488) sowie knapp, aber prägnant zur möglichen Gestaltung eines Abschlussplädoyers (vgl. Rn  503 ff.).

Den Abschluss dieses Teils bilden ein kurzer - für den Strafjuristen wenig Neues bietender - Teil über die Rechtsmittel (vgl. Rn. 515 ff.) sowie eine ausführlichere Darstellung der (steuerrechtlich bedingten) Besonderheiten der Amts- und Rechtshilfe bzw. Auslandsermittlungen (vgl. Rn. 532 ff.), welche - nicht zuletzt durch Hinweise auf den Spezialisten sonst kaum bekannte Rechtsnormen - wichtige Hilfestellungen enthält.

c) Der dritte größere (ca. 25 S. lange) Teil des Buches ist der strafbefreienden Selbstanzeige nach § 371 AO gewidmet, die ein in dieser Form im Allgemeinen Strafrecht nicht bekanntes Institut darstellt und daher gerade für denjenigen, der sich dem Steuerstrafrecht aus dieser Richtung annähert, einer näheren Erläuterung bedarf. Der Anwendungsbereich der Selbstanzeige wird von Weigell im Anschluss an Hellmann gegen die wohl h.M. auch für solche Taten angenommen, in denen die Voraussetzungen des § 370 a AO vorliegen (vgl. Rn. 579 f.). Neben den "allgemeinen Tatbestandsvoraussetzungen" der strafbefreienden Selbstanzeige (erforderlicher Inhalt, Verfasser und Adressaten, Umfang der Nachzahlungsverpflichtung sowie "Sperren der Selbstanzeige") werden

auch verschiedene Sonderprobleme behandelt, so etwa das Vorgehen bei einer eigenen (möglichen) Beteiligung des Beraters an der Steuerstraftat (vgl. Rn. 597 f.) oder bei der Einmann-GmbH (vgl. Rn. 607). Auch die mit der Beteiligung an einer Steuerstraftat verbundenen Probleme der Steuerhaftung werden angesprochen.

2. Der Einführungscharakter und der heterogene Adressatenkreis des Werkes führen - wie von den Verfassern selbst erkannt und im Vorwort eingestanden - dazu, dass manche Erläuterungen von einzelnen Lesern wohl als sehr allgemein und "zu wenig voraussetzungsvoll" empfunden werden dürften: Dies gilt für die einleitende Erklärung des Steuerrechts als "Über- und Unterordnungsverhältnis" (vgl. Rn. 2) ebenso wie - speziell für den Strafrechtler  - für die allgemeinen Erläuterungen zum Vorsatzbegriff (vgl. Rn. 73, bei denen es im Übrigen wohl nur der Herausgebereigenschaft der Gesamtreihe geschuldet sein dürfte, dass als allgemeine strafrechtliche Referenzliteratur ausgerechnet das vor knapp 20 Jahren letztmals erschienene Lehrbuch zum Strafrecht AT von Bockelmann/Volk genannt wird), für die einleitende Darstellung der Schuldausschließungs- bzw. Entschuldigungsgründe (vgl. Rn. 84) sowie für die Einleitung zum strafrechtlichen Rechtsmittelsystem (vgl. Rn. 515).

3. Ausgesprochen positiv zu beurteilen (und Konzeption sowie Zweck der Reihe Strafverteidigerpraxis nach meinem Verständnis in hohem Maße entsprechend) ist dagegen, in welcher Menge und auf welche Weise die Verfasser die Darstellung um Praxishinweise ergänzen. Diese betreffen entweder spezielle Fragen oder aber Hinweise zum tatsächlichen Verhalten, Gestaltungsmöglichkeiten oder ganz einfach "Checklisten". Exemplarisch genannt seien etwa der Hinweis auf die Möglichkeiten, welche eine Steuerschätzung im Steuerstrafverfahren der Verteidigung eröffnet (Rn. 44), das Aufzeigen der Verteidigungsmöglichkeiten im Zusammenhang mit der Abgrenzung von untauglichem Versuch und Wahndelikt speziell im Steuerstrafrecht (vgl. Rn. 109), die ausgesprochen instruktiven Strafmaßtabellen (vgl. Rn. 125 ff.), der Hinweis auf die Nebenfolgen bei einer Verurteilung des Mandanten wegen einer Steuerstraftat (vgl. Rn. 182 ff.), der Entwurf eines Merkblatts zum Verhalten des Beschuldigten beim Erscheinen der Steuerfahndung im Strafverfahren (vgl. Rn. 321, als Zusammenfassung der instruktiven vorangehenden Ausführungen), der Hinweis auf Ziel- und Strategiebestimmungen bei der Verteidigung (vgl. Rn. 386 f.), der Ratschlag zur (möglicherweise in 2. Instanz zu einer Bewährungsstrafe führenden) Schadenswiedergutmachung im Zeitraum zwischen dem erstinstanzlichen Urteil und der Berufungshauptverhandlung (vgl. Rn. 520) sowie der "Praxishinweis" zur Gestaltung der Selbstanzeige (vgl. Rn. 583).

III. Insgesamt handelt es sich um eine verständlich geschriebene und - soweit der Rezensent dies zu beurteilen vermag - inhaltlich zuverlässige Einführung in die Materie, die sich vor allem an solche Leser richtet, die entweder aus dem Allgemeinen Strafrecht oder aus dem Steuerrecht herrührend vom jeweils anderen Teil dieser Querschnittsmaterie erst geringe Vorkenntnisse haben. Besonders wertvoll für den mit dem Steuer(verfahrens)Recht und den beteiligten Behörden weniger vertrauten Leser sind die zahlreichen Praxishinweise, die neben einer knappen und übersichtlichen Darstellung der Materie nach meinem Verständnis das sind, was die Leser in einem Buch aus dieser Reihe besonders erwarten.

Weitgehend ausgeblendet bleibt freilich das den Tatbestand des § 370 AO konkretisierende materielle Steuerrecht. Für denjenigen, der aus der steuerberatenden Praxis "zum Steuerstrafrecht kommt", ist dies gewiss kein Defizit; der Strafrechtler dagegen würde sich gerade hier gewisse Hinweise erhoffen. Man kann die diesen Bereich aussparende Konzeption sicher damit erklären, dass letztlich jede Auswahl willkürlich wäre, eine umfassende Darstellung aber den Rahmen erheblich sprengen würde. Gleichwohl wäre m.E. bei einer Neuauflage zu erwägen, ob nicht besonders typische Erscheinungsformen aus verschiedenen Bereichen des Strafrechts (als exemplarisches Stichwort etwa die "Umsatzsteuerkarusselle") aufgenommen werden könnten und dabei die zugrunde liegende steuerrechtliche Problematik jedenfalls so angedeutet wird, dass der Leser einen Eindruck davon erhält, auf welche tatsächlichen Umstände er beim Herausarbeiten des Sachverhalts besonders achten und welche gesetzlichen Grundlagen er im besonderen Maße heranziehen muss.

Prof. Dr. Hans Kudlich , Universität Erlangen-Nürnberg

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Lutz Meyer-Goßner: Strafprozessordnung. Mit GVG und Nebengesetzen; 48. Aufl., Becksche Kurzkommentare; C.H.Beck, München 2005, 2095 S., € 69[Neuauflage im Erscheinen].

Gewiss, derjenige, der eine weitere Auflage des Meyer-Goßner anzuzeigen hat, trägt im Wesentlichen Eulen nach Athen. Auch diese, nunmehr 48. Auflage hat die Erfolgsgeschichte dieses Kurzkommentars fortgeschrieben. In gewohnter Qualität wurden diverse Entwicklungen eingearbeitet, die bei dieser Auflage vor allem in zahlreichen Gesetzesänderungen bestanden. Eine Leistung, für die Meyer-Goßner ganz allein verantwortlich zeichnet und die schon deswegen kaum hoch genug eingeschätzt werden kann. Sie hat es verdient, auch durch fortlaufende Blicke auf die Neuauflagen und damit auch durch Rezensionen immer wieder herausgestellt zu werden. Zu den Neuerungen, die Meyer-Goßner einzuarbeiten hatte, gehörten neben vielen neuen Entscheidungen u.a. die Neuregelungen des JuMoG. So wird zum Beispiel die derzeit besonders problematisierte und in der Tat problematische revisionsrichterliche Strafzumessung gemäß § 354 I a StPO näher dargestellt und vom überaus erfahrenen Justiz- und Revisionspraktiker Meyer-Goßner zum Teil ablehnend beurteilt (vgl. § 354 Rn. 28). Hinsichtlich der abgeschafften Regelvereidigung sieht Mey-

er-Goßner eine Begründung der Entscheidung über die Vereidigung unter keinen Umständen als erforderlich an (vgl. § 60 Rn. 6). Auch wenn Meyer-Goßner die Rechtsprechung insbesondere des BGH aktualisiert, stellt er diese nicht "nur" dar, sondern er kritisiert sie bisweilen auch: So tritt er etwa der weiterführenden jüngeren Rechtsprechung des 5. Strafsenats des BGH zu § 357 StPO (leider) entgegen, der die Revisionserstreckung nach dieser Norm bei möglichen Belastungen nicht mehr länger über den Kopf des Betroffenen hinweg vollziehen will (vgl. § 357 Rn. 1, 16; siehe BGH HRRS 2004 Nr. 1004). Die Rechtsprechungsentwicklung zu den Verfahrensabsprachen auf der einen und dem unzulässigen Deal auf der anderen Seite wird von Meyer-Goßner, der anerkanntermaßen einer der Streiter für eine rechtsstaatliche Absprachenpraxis ist, intensiv begleitet (vgl. nur Einl. Rn. 119 ff.). Die Verfahrensregelungen zur vorbehaltenen und zur nachträglichen Sicherungsverwahrung (§ 275a StPO) kommentiert Meyer-Goßner mit dem gleichen Impetus, der auch die heutige Rechtsprechung des BGH zur nachträglichen Sicherungsverwahrung auszeichnet: Die besondere Ernsthaftigkeit und der Ausnahmecharakter der nachträglichen Sicherungsverwahrung werden als leitende Auslegungsgesichtspunkte herangezogen.

Zwei nähere Bemerkungen gerade zur 48. Auflage verdient aus Sicht des Rezensenten die Kommentierung der "MRK". Die erste betrifft die Kommentierung als Ganzes. Die gestiegene Bedeutung der EMRK für das deutsche Strafverfahren sollte mittlerweile Allgemeingut sein, wenngleich die Probleme in anderen europäischen Staaten tatsächlich oft tief- und raumgreifender sind. Meyer-Goßner ordnet diesbezüglich nicht wenige neue Entscheidungen und Entwicklungen in die wachsenden Kommentierungen zur MRK und auch in die Kommentierungen zu den Vorschriften der StPO ein. Dabei vertritt er zum Beispiel zur bedeutsamen Czekalla-Entscheidung des EGMR (vgl. demnächst zu ihr auch Demko HRRS 2006, Heft 7 m .w.N.) eine für den bisherigen Praxisstand fast revolutionäre Schlussfolgerung (Wiedereinsetzung in den vorigen Stand von Amts wegen nach offensichtlichem, einfachem Formfehler des Verteidigers), der sich der Rezensent anzuschließen vermag (vgl. § 338 Nr. 41). Die Kommentierungen zur EMRK sind aber z.T. - vgl. etwa Art. 8 EMRK - doch recht knapp gehalten. So hätte etwa bei Art. 8 EMRK der von BGHSt 42, 139, 154 noch in Abrede gestellte Grundrechtsschutz gegen das nur einseitig bewilligte staatliche Mithören/Aufzeichnen von Telephongesprächen (vgl. so dann auch § 100a Rn. 1) im Kommentar Aufnahme finden können, den der EGMR schon früh in der Sache bejaht hat (vgl. A. v. Frankreich, Serie A, Nr. 277-B, §§ 33 ff.; M.M. v. Niederlande, StV 2004, 1 ff.) und der auch vom BVerfG explizit anerkannt worden ist (vgl. BVerfGE 107, 28, 37). Ebenso finden sich in den Kommentierungen hin und wieder vergleichsweise ältere Literaturzitate, die etwa zur Auslegungsmethodik kaum noch den fortgeschrittenen Entwicklungsstand zum Konventionsrecht wieder geben und die z.T. noch von der Irrelevanz der EMRK für das deutsche Strafprozessrecht

ausgegangen sind (vgl. Art. 1 MRK Rn. 1 und Einl. Rn. 19; vgl. auch im Licht der Schutzpflichten nach der EMRK den Art. 1 MRK Rn. 4). So wirken die Kommentierungen, in denen neu eingearbeitete Entscheidungen neben eher älteren Grundaussagen und Zitaten stehen, mitunter etwas inhomogen. Gerade deshalb, weil der Meyer-Goßner mit Fug und Recht als der deutsche Praktikerkommentar für das Prozessrecht gelten darf, könnte hier eine Durchmusterung der Kommentierung von Gewinn sein, zumal eine ausgebaute Kommentierung im Meyer-Goßner viel zur Verwirklichung der Konventionsmenschenrechte im deutschen Strafverfahren beitragen könnte. Sie würde der EMRK um einiges mehr den "Hauch von Exotik" nehmen, der sie wegen ihrer oftmaligen Einstufung als längst erfüllter Mindeststandard noch umgibt und damit die großen Verdienste des Kommentars noch vermehren.

Eine weitere Bemerkung steht eher nur im Zusammenhang mit der EMRK. Sie ist Ausdruck dafür, dass auch der beständige Kommentar Meyer-Goßners Wandlungen unterliegt. So ist zu Art. 3 EMRK eine markante Entwicklung festzuhalten: Meyer-Goßner schließt sich einem Jura-Aufsatz von Erb an, der in einer Art Hobbesschen Sprung aus dem Staat und in den Naturzustand eine Einschränkung des Folterverbots für die zwingend erforderliche Präventionsfolter vertritt (vgl. Art. 3 Rn. 1). Es wird also heute nicht nur über das Folterverbot diskutiert, was manche bereits für ein Sakrileg halten und mit einem Tabu beenden wollen. Es wird heute vielmehr auch im führenden deutschen Strafprozessrechtskommentar im Zuge des Daschner-Falles und nach den Terroranschlägen in New York eine Position vertreten, welche ausnahmsweise die gute Folter von der schlechten Folter unterscheiden können will. Man wird bei allem Respekt vor den Gründen, die Erb und Meyer-Goßner für sich in Anspruch nehmen, festhalten dürfen, dass diese Positionierung bemerkenswert ist. Man hätte sie noch vor fünf Jahren kaum erwarten können. Der Rezensent selbst vermag sich zwar der "Tabuargumentation" nicht anzuschließen. Er sieht sich aber ebenso und noch mehr außerstande, sich dem Trend anzuschließen, der in der Randnummer eins der Kommentierung zu Art. 3 EMRK nun zum Ausdruck kommt (vgl. Gaede, in: Camprubi[Hrsg.], Angst und Streben nach Sicherheit usw., 2004, S. 155 ff.; siehe auch völkerrechtlich Grabenwarter, EMRK, 2. Aufl.[2005], § 20 Rn. 36).

Es bleibt nachzutragen, dass nunmehr bereits die 49. Auflage des Kommentars bemerkenswert schnell aufgelegt worden ist. Dies ist einerseits erfreulich, da der führende Kommentar so wieder an Aktualität gewonnen hat. Andererseits kann man wohl hinterfragen, ob diese Neuauflage wirklich bereits erforderlich war. All zu viele praktisch bedeutsame Gesetzesänderungen sind nicht erfolgt, und der zerstrittene Große Strafsenat hat zu den Absprachen gerade nicht "durchgegriffen" (vgl. das Urteil mit den Besprechungen von Frank Meyer HRRS 2005, 235 ff.; Seher JZ 2005, 628 ff.). So wertvoll, ja unverzichtbar der Meyer-Goßner auch ist und bleibt, die klammen Justizverwaltungen und auch die weiteren

Strafrechtspraktiker werden eine bald einjährige Erscheinungsweise kaum mit einer jährlichen Bestellung des Kommentars beantworten können.

Karsten Gaede , Hamburg.

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Judith Wieczorek: Unrechtmäßige Kombattanten und humanitäres Völkerrecht (Veröffentlichungen des Walther-Schücking-Instituts für Internationales Recht an der Universität Kiel, Band 153), Verlag Duncker & Humblot, Berlin 2005, 397 S., 89,80,- €.

Für die Diagnose, dass das humanitäre Völkerrecht in einer Krise stecke, bedarf es keiner intimen Kenntnisse der bewaffneten Konflikte der letzten Jahre. Einerseits sind Anwendbarkeit, Geltung und Durchsetzung des humanitären Völkerrechts in den neuen Konfliktformationen mit dem Strukturwandel internationaler Beziehungen seit dem Ende des Ost-West-Konflikts und der Zunahme innerstaatlicher, d. h. nicht-internationaler bewaffneter Konflikte prinzipiell in Frage gestellt worden. Andererseits lässt sich seit dem 11. September und insbesondere an dem von der US-Regierung erklärten "Krieg gegen den Terror" der Unwillen der letzten verbliebenen Supermacht ablesen, sich im Kampf gegen den Internationalen Terrorismus an die Normen des humanitären Völkerrechts zu halten. In diesen Zusammenhängen ist von der US-Regierung, vor allem im Zusammenhang mit den Internierungen auf Guantanamo, der Begriff des "unrechtmäßige Kombattanten" (unlawful combatant) verwendet worden, um den Gefangenen den Status von Kriegsgefangenen zu verwehren.

Die rechtswissenschaftliche Dissertation widmet sich der Frage, welcher Status diesen sog. "unrechtmäßige Kombattanten" innerhalb des humanitären Völkerrechts zukommt und wie vor diesem Hintergrund die Internierungspraxis der USA im In- und Ausland zu bewerten ist. Den rechtlichen Bezugsrahmen der Untersuchungen bilden das Dritte Genfer Abkommen über die Behandlung Kriegsgefangener, das Vierte Genfer Abkommen über die Behandlung der Zivilbevölkerung in Kriegszeiten (beide 1949) sowie die beiden Zusatzprotokolle über den Schutz der Opfer in internationalen beziehungsweise nicht-internationalen bewaffneten Konflikten (beide 1977).

Wieczoreks Studie gliedert sich in zwei Teile. Im ersten Teil "Unrechtmäßige Kombattanten im bewaffneten Konflikt" (S. 27-161) stellt sie die Frage nach der Rechtsstellung des sog. "unrechtmäßigen Kombattanten", nach den Rechtsfolgen, die sich aus dieser Kategorisierung ergeben und nach den Rechten, die diesen zukommen. Nach Auffassung der Autorin begründet der Begriff des "unrechtmäßige Kombattanten", der sich nicht im kodifizierten humanitären Völkerrechts findet, gar keinen eigene rechtliche Kategorie: "Der Begriff des unrechtmäßige Kombattanten bedeutet nach der hier vertretenen Auffassung lediglich die Beschreibung eines bestimmten Sachverhaltes, nämlich der nichtberechtigten Teilnahme einer Person an den Feindseligkeiten.[…][D]ies hat aber keinen Einfluss auf den Status einer Person." (S. 123) Personen, die unberechtigter Weise an Kampfhandlungen teilnehmen und deshalb keinen Kombattantenstatus besitzen, behielten den Primärstatus eines Zivilisten, da die humanitärrechtliche Unterscheidung zwischen Kombattanten und Zivilisten vollständig sei.

Die Charakterisierung als "unrechtmäßiger Kombattant" konstituiere zwar keinen eigenen Rechtsstatus, bleibe juristisch aber keineswegs folgenlos. Die im Vierten Genfer Abkommen über die Behandlung der Zivilbevölkerung in Kriegszeiten garantierten Rechte könnten nämlich gemäß Art. 5 eingeschränkt werden, wobei die Einschränkung der Rechte jedoch nicht den Status einer Person als Zivilisten tangieren dürfe: "[Auch]bei der Verfolgung von Terroristen ist zu beachten, dass kein rechtsfreier Raum besteht." (S. 143) Als rechtliches Minimum, auf das "unrechtmäßige Kombattanten" gemäß Art. 75 des Ersten Zusatzprotokolls zum Schutz der Opfer in internationalen bewaffneten Konflikten sowie dem gemeinsamen Art. 3 der Genfer Abkommen stützen können, nennt sie das Recht auf ein faires Verfahren und die Einhaltung der Unschuldsvermutung sowie auf menschenwürdige Behandlung. Darunter sei ein nicht-derogierbarer Kernbestand von Menschenrechten zu verstehen, der das Recht auf Leben, das Verbot der Sklaverei, dass Folterverbot sowie Glaubens-, Gewissens-, und Religionsfreiheit umfasse. Dieses rechtliche Minimum gelte unabhängig von der Frage, ob ein internationaler bewaffneter Konflikt vorliege, der in aller Regel Bedingung für die Anwendung des humanitären Völkerrechts ist. Während der gemeinsame Art. 3 der Genfer Abkommen im Verein mit den Bestimmungen des Zweiten Zusatzprotokolls auch in nicht-internationalen bewaffneten Konflikten gelte, hätten die Bestimmungen des Artikels 75 des Ersten Zusatzprotokolls sowie grundlegende menschenrechtliche Bestimmungen völkergewohnheitsrechtliche Geltung. Die USA seien folglich zu ihrer Einhaltung verpflichtet, auch wenn sie die zwei Zusatzprotokolle nicht ratifiziert haben.

Im zweiten Teil "Unrechtmäßige Kombattanten im Krieg gegen den Terror" (S. 162-351) misst sie das Verhalten der US-Regierung an den im ersten Teil rekonstruierten normativen Maßstäben. Ihrer Auffassung nach sind die von der US-Regierung aus dem Begriff "Krieg gegen den Terror" gezogenen rechtlichen Konsequenzen, nämlich Inhaftierungen ohne Verfahren und ohne Zugang zu einem Anwalt vorzunehmen, nicht zu rechtfertigen: "Das ius in bello ist vom ius ad bellum zu unterscheiden, es ist daher auch unerheblich, welche Rechtfertigung einer Regierung, z. B. mit der Rhetorik vom 'war on terror’, vorzubringen versucht." (S. 175) Die unter dem Oberbegriff "Krieg gegen den Terrorismus" zusammengefassten militärischen Maßnahmen ließen sich in drei rechtlich unterschiedlich zu bewertende Situationen einteilen: der Intervention in einen bestehenden Konflikt, der Verfolgung von Personen und

Personengruppen ohne Bestehen eines Konflikts sowie die Verfolgung von Personen und Personengruppen auf hoheitsfreiem Gebiet. Insofern sei für die Operationen im Rahmen des "Kriegs gegen den Terrorismus" eine Unklarheit über das anwendbare Recht charakteristisch, was jedoch keinesfalls gleichbedeutend sei mit der zuweilen von den USA bemühten Figur des "rechtsfreien Raums". Unklarheiten sollten vielmehr durch eine Übertragung der Bestimmung auf eine unabhängige Institution beseitigt und das Militär durch einen Verhaltenskodex geschult werden, der über die jeweils anwendbare Rechtsmaterien und vor allem über nicht zu übertretende rechtliche Mindeststandards informieren solle. Den in der Literatur gelegentlich geäußerten Alternativvorschlag zur Schaffung eines Dritten Zusatzprotokolls, das die Bestimmungen des humanitären Völkerrechts für den "Krieg gegen den Terrorismus" spezifizieren würde, lehnt die Autorin mit dem Hinweis auf das Fehlen einer einheitlichen Terrorismus-Definition (S. 221) und die normative Geschlossenheit des bestehenden humanitären Völkerrechts ab: "Das Problem besteht nicht im Anwendungsbereich des humanitären Völkerrechts, sondern in den Fällen, in denen die Schwelle zu seiner Anwendung noch nicht erreicht ist oder diesbezüglich Unklarheiten bestehen." (S. 222)

Der Verdienste der Studie besteht darin, die von den USA unter Benutzung des Begriffs "unrechtmäßige Kombattanten" versuchte Umgehung der Normen des Kriegsrechts vor dem Hintergrund des humanitären Völkerrechts als klar rechtswidrig auszuweisen. Die von der Autorin vertretene normative Position wird deutlich herausgearbeitet und im Spektrum der in der Literatur vertretenen Meinungen verortet. Die Argumentation, die die Rechtsentwicklung, insbesondere auch die einschlägige Rechtsprechung des Supreme Courts der Vereinigten Staaten bis Oktober 2004 berücksichtigt, ist im Ganzen stringent und nachvollziehbar, wegen der Einteilung in einen abstrakt-rechtlichen und einen politisch-aktuellen Teil allerdings an einigen Stellen redundant. Ein interner Textverweis auf die vorangegangene Argumentation hätte vor allem im zweiten Teil eine Doppelung verhindern können. Inhaltlich ist als Desiderat anzumerken, dass die Autorin rein normativ argumentiert und der rechtspolitischen Frage, ob Terrorismusbekämpfung innerhalb des Regelwerkes des humanitären Völkerrechts überhaupt sinnvoll möglich ist, ausweicht. Diese Frage zu stellen und ernst zu nehmen, bedeutet ja nicht zwangsläufig, den in ihr anklingenden Anspruch nicht mit guten Gründen zurückweisen zu können. Ebenfalls interessant wäre es gewesen, die Frage zu stellen, ob nicht die Wiederbelebung der Figur des "gerechten Kriegs" seitens der USA für die Missachtung der Normen des humanitären Völkerrechts verantwortlich ist, weil - wie Michael Walzer gezeigt hat - im gerechten Kriegen das ius ad bellum im Konfliktfall das ius in bello übertrumpft. Der humanitärrechtliche Sündenfall läge dann nicht dem Begriff des "unrechtmäßige Kombattanten", sondern diese Kategorisierung ergäbe sich Argumentation logisch aus dem Selbstverständnis der USA, einen "just war" zu führen.

Wiss. Mit. Florian Weber, M.A., Berlin.

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