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HRRS-Nummer: HRRS 2011 Nr. 37

Bearbeiter: Ulf Buermeyer

Zitiervorschlag: BGH, 5 StR 396/10, Beschluss v. 10.11.2010, HRRS 2011 Nr. 37


BGH 5 StR 396/10 - Beschluss vom 10. November 2010 (OLG Celle)

Sicherungsverwahrung (einstweilige Entscheidung über die Fortdauer der Unterbringung; Vorbereitung der Entlassung für den Fall der Unzulässigkeit); Vorlageverfahren; Divergenzvorlage; Ruhen des Verfahrens; Rückgabe der Akten an das vorlegende Gericht.

§ 132 GVG; § 66 StGB; § 67d StGB; § 67e StGB; § 121 GVG; Art. 5 EMRK; Art. 7 EMRK; § 463 Abs. 3 StPO

Leitsätze des Bearbeiters

1. Während des laufenden Vorlageverfahrens gem. § 132 GVG zu den Auswirkungen der Rechtsprechung des EGMR auf das Recht der Sicherungsverwahrung haben alle Oberlandesgerichte unabhängig vom Ausgang des genannten Verfahrens zu überprüfen, ob die Freiheitsentziehung gegen einen Verurteilten zu beenden oder die Vollstreckung zur Bewährung auszusetzen ist.

2. Die Prüfung der Oberlandesgerichte hat wegen der ausschließlichen Zuständigkeit des 5. Strafsenats des Bundesgerichtshofs (§ 121 Abs. 2 Nr. 3 GVG) einstweilen den Maßstäben zu folgen, die dieser Senat seinem Vorlagebeschluss zugrunde gelegt hat.

3. Bereits während eines laufenden Divergenzvorlageverfahrens gem. § 121 GVG ist eine neue Sachentscheidung nach § 67e Abs. 1 Satz 1 StGB aus Anlass des Urteils des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte geboten. Dieser Entscheidung ist ein aktuelles Sachverständigengutachten zugrunde zu legen (§ 463 Abs. 3 Satz 4 StPO), das sich an den Kriterien des 5. Strafsenats zur Verhältnismäßigkeit und zum Gefahrenbegriff zu orientieren hat.

4. Auf etwa während eines Divergenzvorlageverfahrens gem. § 121 GVG - einschließlich des Verfahrens nach § 132 GVG - auftretende neue Entwicklungen, die für die Beurteilung der Gefährlichkeit des Verurteilten bedeutsam sein können, muss unverzüglich mit einer neuen Sachprüfung der Unerlässlichkeit weiterer Freiheitsentziehung reagiert werden.

5. Es ist denkbar, dass die Prüfung im Verfahren nach § 132 GVG entgegen dem Votum des 5. Strafsenats zum Ergebnis genereller Unzulässigkeit weiterer Maßregelvollstreckung gelangt, was die sofortige Entlassung aller betroffenen Untergebrachten nach sich zöge. Daher ist eine vorsorgliche Vorbereitung sofort umsetzbarer, im Entlassungsfall angezeigter - insbesondere fürsorglicher - Maßnahmen zwingend geboten, die einer sozialen Gefährdung entlassener Verurteilter und einer damit einhergehenden Gefährdung der Allgemeinheit entgegenzuwirken vermögen.

Entscheidungstenor

Das Verfahren ruht bis zur Erledigung des mit Anfragebeschluss des Senats vom 9. November 2010 - 5 StR 394, 440, 474/10 - eingeleiteten Verfahrens nach § 132 GVG.

Bis dahin werden die Akten an das Oberlandesgericht Celle zur Fortführung der nach § 67e Abs. 1 Satz 1, § 67d Abs. 3 Satz 1, Abs. 2 StGB gebotenen Überprüfungen zurückgegeben.

Gründe

Gegen den Verurteilten wird die Maßregel der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung aus dem Urteil des Landgerichts Lüneburg vom 2. Mai 1990 vollstreckt, in dem gegen ihn wegen schweren Raubes eine Freiheitsstrafe von sieben Jahren verhängt worden war. Zehn Jahre der Unterbringung waren - nach zwischenzeitlich anderweitig verhängter und verbüßter Strafhaft wegen in der Haft begangenen Betäubungsmittelhandels - am 4. Juni 2010 vollzogen.

Nach Rechtskraft des Urteils des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 17. Dezember 2009 (EuGRZ 2010, 25), das die rückwirkende Anwendung des § 67d Abs. 3 Satz 1 StGB in der Fassung des Gesetzes zur Bekämpfung von Sexualdelikten und anderen gefährlichen Straftaten vom 26. Januar 1998 ohne Beachtung der nach § 67d Abs. 1 Satz 1 StGB a.F. bei Tatzeit geltenden Höchstfrist von zehn Jahren für die Dauer der ersten Unterbringung in der Sicherungsverwahrung als Verstoß gegen die Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten wertet, hat das Landgericht Lüneburg am 28. Mai 2010 die Fortdauer der Maßregelvollstreckung über zehn Jahre hinaus angeordnet. Das Oberlandesgericht Celle möchte die hiergegen gerichtete sofortige Beschwerde des Verurteilten verwerfen. Im Blick auf entgegenstehende Rechtsprechung anderer Oberlandesgerichte, die im Anschluss an das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte für die Maßregel der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung eine abweichende Regelung von der grundsätzlich geltenden Rückwirkung im Sinne des § 2 Abs. 6 StGB angenommen haben, hat es die Sache dem Bundesgerichtshof gemäß § 121 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 Nr. 3 GVG vorgelegt.

Beim Senat sind bislang 15 gleichartige Vorlegungsverfahren anhängig. Mit zur Veröffentlichung in BGHSt bestimmtem Anfragebeschluss vom 9. November 2010 - 5 StR 394, 440 und 474/10 - hat der Senat, der eine rückwirkende Anwendbarkeit des § 67d Abs. 3 Satz 1 StGB n.F. grundsätzlich bejaht, wegen von seiner Auffassung zur Auslegung des § 2 Abs. 6 StGB divergierender Rechtsprechung des 4. Strafsenats des Bundesgerichtshofs zur identischen Rechtsfrage bei Auslegung des § 66b StGB und wegen grundsätzlicher Bedeutung dieser Rechtsfrage das Verfahren nach § 132 GVG eingeleitet. Dabei hat der Senat § 67d Abs. 3 Satz 1 StGB n.F. allerdings weiter einschränkend dahin ausgelegt, dass in Altfällen die erstmalige Unterbringung in der Sicherungsverwahrung nach zehnjährigem Vollzug für erledigt zu erklären ist, sofern nicht eine hochgradige Gefahr schwerster Gewalt- oder Sexualverbrechen aus konkreten Umständen in der Person oder dem Verhalten des Untergebrachten abzuleiten ist (Leitsatz 2 des genannten Beschlusses). Bei diesem Maßstab kommt nur in Ausnahmefällen auch eine Aussetzung der weiteren Vollstreckung der Unterbringung zur Bewährung in Betracht (§ 67d Abs. 2 StGB).

Bis zur Erledigung des Verfahrens nach § 132 GVG hat der Senat in den drei Verfahren, die Gegenstand der Anfrage sind, die Akten den vorlegenden Oberlandesgerichten zurückgegeben. Die Parallelverfahren, die wegen möglicher identischer Entscheidungserheblichkeit des Anfragegegenstandes bis zur Erledigung des Verfahrens nach § 132 GVG zu ruhen haben, sind in gleicher Weise zu behandeln.

1. Das Verfahren nach § 132 GVG - und damit das anzuordnende Ruhen der Parallelsachen - wird voraussichtlich mehrere Monate andauern. Während dieser Zeit wird die Unterbringung gegen die Verurteilten weiterhin vollstreckt, der Eingriff in das Freiheitsgrundrecht, dessen Zulässigkeit in den Vorlegungsverfahren in Zweifel steht, mithin stetig weiter vertieft. Dies erfordert, dass die Oberlandesgerichte bereits vor Klärung der Vorlegungsfrage aktuell unabhängig von ihr zu überprüfen haben, ob die Freiheitsentziehung gegen den Verurteilten zu beenden oder die Vollstreckung zur Bewährung auszusetzen ist. Die Prüfung hat den vorstehend bezeichneten, für die Oberlandesgerichte wegen der ausschließlichen Zuständigkeit des Senats nach § 121 Abs. 2 Nr. 3 GVG verbindlichen Maßstäben zu folgen.

Geboten ist eine neue Sachentscheidung nach § 67e Abs. 1 Satz 1 StGB aus Anlass des Urteils des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Ihr ist ein aktuelles Sachverständigengutachten zugrunde zu legen (§ 463 Abs. 3 Satz 4 StPO), das sich an den engeren Kriterien zu Verhältnismäßigkeit und Gefahrenbegriff zu orientieren hat.

2. Im vorliegenden Fall bestehen Bedenken, ob die erhöhten Anforderungen an eine konkrete Gefahr schwerster Gewalttaten im Sinne der Maßstäbe des Senats und damit an eine weitere Fortdauer der Maßregelvollstreckung erfüllt sind.

3. Für den Fall, dass die aktuelle Sachprüfung auch unter Zugrundelegung der Grundsätze konkreter höchster Gefährlichkeit des Verurteilten für die Allgemeinheit eine weitere Vollstreckung der Maßregel unerlässlich erscheinen lässt, weist der Senat auf Folgendes hin: 9 a) Auf etwa während des Vorlegungsverfahrens einschließlich des Verfahrens nach § 132 GVG auftretende neue Entwicklungen, die für die Beurteilung der Gefährlichkeit des Verurteilten bedeutsam sein können, muss unverzüglich mit einer neuen Sachprüfung der Unerlässlichkeit weiterer Freiheitsentziehung reagiert werden.

b) Es ist denkbar, dass die Prüfung im Verfahren nach § 132 GVG entgegen dem Votum des erkennenden Senats zum Ergebnis genereller Unzulässigkeit weiterer Maßregelvollstreckung gelangt. Dies zöge die sofortige Entlassung aller betroffenen Untergebrachten nach sich. Im Hinblick darauf ist eine vorsorgliche Vorbereitung sofort umsetzbarer, im Entlassungsfall angezeigter - insbesondere fürsorglicher - Maßnahmen zwingend geboten, die einer sozialen Gefährdung entlassener Verurteilter und einer damit einhergehenden Gefährdung der Allgemeinheit entgegenzuwirken vermögen. Durch eine unvorbereitete Eilentlassung würde diesen Gefahren Vorschub geleistet. Auf geeignete Maßnahmen hinzuwirken, ist auch Aufgabe der im Erledigungsverfahren tätigen Vollstreckungsgerichte sowie der vorlegenden Oberlandesgerichte.

HRRS-Nummer: HRRS 2011 Nr. 37

Bearbeiter: Ulf Buermeyer