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HRRS-Nummer: HRRS 2004 Nr. 140

Bearbeiter: Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 5 StR 262/03, Beschluss v. 16.12.2003, HRRS 2004 Nr. 140


BGH 5 StR 262/03 - Beschluss vom 16. Dezember 2003 (LG Potsdam)

Beweiswürdigung (hohe Anforderungen bei der Situation Aussage gegen Aussage; Würdigung der Entstehungsgeschichte der Aussage kindlicher bzw. jugendlicher Zeugen in Missbrauchsfällen).

§ 176 StGB; § 261 StPO

Leitsatz des Bearbeiters

Will das Gericht einer Person Glauben schenken, wenn Aussage gegen Aussage steht, muss das Tatgericht bei der Beweiswürdigung hohen Anforderungen gerecht werden. Bei der Aussage kindlicher bzw. jugendlicher Zeugen in Missbrauchsfällen kommt der Entstehungsgeschichte der Beschuldigung besondere Bedeutung zu (vgl. BGH StV 1994, 227; 1995, 6, 7; 1998, 250).

Entscheidungstenor

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Potsdam vom 15. Januar 2003 nach § 349 Abs. 4 StPO aufgehoben.

2. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen schweren sexuellen Mißbrauchs eines Kindes in Tateinheit mit sexuellem Mißbrauch einer Schutzbefohlenen in drei Fällen und wegen sexuellen Mißbrauchs einer Schutzbefohlenen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten verurteilt. Die Revision des Angeklagten führt mit der Sachrüge zur Aufhebung des Urteils. Auf die Verfahrensrügen kommt es deshalb nicht an.

Die Beweiswürdigung hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand. Allerdings beschränkt sich, da die Beweiswürdigung Sache des Tatrichters ist, die revisionsgerichtliche Nachprüfung darauf, ob dem Tatrichter Rechtsfehler unterlaufen sind. Ein sachlich-rechtlicher Fehler liegt aber u.a. dann vor, wenn die Beweise nicht erschöpfend gewürdigt werden (st. Rspr., vgl. nur BGHSt 29, 18, 20; Engelhardt in KK 5. Aufl. § 261 Rdn. 49 m. w. N.) und der Tatrichter in einem Fall, in dem die Entscheidung allein davon abhängt, welcher Person das Gericht Glauben schenkt, nicht erkennen läßt, daß er alle Umstände, die die Entscheidung zu beeinflussen geeignet sind, erkannt und in seine Überlegungen einbezogen hat (vgl. BGHSt 44, 153, 159; 256, 257; BGHR StPO § 261 Beweiswürdigung 23; BGH NStZ 2000, 496, 497).

Diesen hohen Anforderungen wird die Beweiswürdigung des Landgerichts hinsichtlich der Aussage der Stieftochter des Angeklagten, der die Tatbegehung bestreitet, nicht gerecht. Bei der Aussage kindlicher bzw. jugendlicher Zeugen in Mißbrauchsfällen kommt der Entstehungsgeschichte der Beschuldigung besondere Bedeutung zu (vgl. BGH StV 1994, 227; 1995, 6, 7; 1998, 250). Mit ihr hat sich das Landgericht nicht im gebotenen Maße auseinandergesetzt.

Nach den im Urteil getroffenen Feststellungen wurde die Geschädigte "möglicherweise durch die Pubertät oder aber durch den ... sexuellen Mißbrauch ihres Stiefvaters" gegenüber der Familie "trotzig und aufmüpfig, wollte nicht mehr zu Hause bleiben, so daß es zwischen ihr und den übrigen Familienmitgliedern ständig Spannungen und Reibereien" (UA S. 4) gab. Am Tag vor der Anzeigeerstattung hielt sich die Geschädigte "ohne Wissen der Eltern in der Wohnung ihrer Freundin ... auf. Sie übernachtete auch dort. Weil sie zuvor einen Ladendiebstahl begangen hatte und es deshalb zu Hause Streß gab, traute sie sich nicht zu ihren Eltern nach Hause" (UA S. 7).

Nachdem die Eltern eine Vermißtenanzeige aufgegeben hatten, erfuhr der Angeklagte vom Aufenthalt seiner Stieftochter. In einem Telefonat mit der Mutter der Freundin war er "sehr aggressiv" und "bestand darauf, daß (seine Stieftochter) sofort nach Hause kommt. Diese geriet daraufhin in Panik. Sie hatte Angst geschlagen zu werden und wollte auf keinen Fall ins Elternhaus zurück" (UA S. 8). Daraufhin wurde der Geschädigten von der Mutter der Freundin, die von ihrer eigenen Tochter von Mißbrauchsandeutungen erfahren hatte, geraten, die "Gelegenheit zu nutzen und der Polizei von dem sexuellen Mißbrauch zu erzählen" (UA S. 8).

Die Strafkammer führt aus, nach dem erstatteten Glaubwürdigkeitsgutachten hätten sich "bei der Rekonstruktion der Aussagegeschichte und der Motivanalyse ... keine Hinweise auf bedeutsame Einschränkungen in der Aussagezuverlässigkeit" (UA S. 11) ergeben. Die Geschädigte sei erst unter einer besonderen Krisensituation bereit gewesen, eine Anzeige zu erstatten. Für "eine ausgeprägte Motivation zu einer absichtlichen unbegründeten Falschbezichtigung lägen keine Anhaltspunkte" vor.

Eine solch knappe, die rechtliche Überprüfung durch das Revisionsgericht praktisch ausschließende Zusammenfassung des Ergebnisses der Glaubwürdigkeitsbegutachtung reicht hier angesichts der Besonderheiten des Einzelfalles nicht aus. Will sich der Tatrichter der Beurteilung eines Sachverständigen anschließen, muß er entweder die eigenen Erwägungen oder aber die Anknüpfungstatsachen und die Ausführungen des Sachverständigen in einer Weise wiedergeben, die dem Revisionsgericht die rechtliche Nachprüfung ermöglicht (vgl. BGHR StGB § 176 Abs. 1 Beweiswürdigung 3; BGH, Urteil vom 15. Oktober 1997 - 2 StR 393/97). Das Landgericht hat nicht die Frage erörtert, ob die Anzeigeerstattung im Zusammenhang mit dem Wunsch der Geschädigten stand, nicht mehr zu Hause bleiben zu wollen, oder ob sie aus Angst vor Strafe nicht ins Elternhaus zurückkehren wollte. Die Strafkammer hat sich vielmehr damit begnügt, pauschal darauf hinzuweisen, zu welchem Ergebnis die Sachverständige gelangt sei. Vor diesem Hintergrund erscheint es zudem als erörterungsbedürftig, daß es nach Angaben der Geschädigten im Zeitraum von zwei Jahren 60 bis 70 Fälle gegeben haben soll, in denen der sexuelle Mißbrauch "immer ähnlich" bzw. "regelmäßig" in derselben Art und Weise ablief (UA S. 4, 5, 11) - sich die Intensität der Vorfälle offenbar also nicht steigerte -, und daß die Geschädigte nach Angaben der Sachverständigen nicht in der Lage war, sich eine Einzelhandlung in Erinnerung zu rufen, vorzustellen und wiederzugeben, sondern sofort in generalisierende Beschreibung verfiel (UA S. 10).

Die neu erkennende Strafkammer wird auch zu bedenken haben, daß eine Wiedergabe der Vernehmungen von Mutter, Bruder und Großeltern der Geschädigten, die sich in der Bemerkung erschöpft, diese hätten "sich von ihr abgewandt" und hielten "sie für eine Lügnerin" (UA S. 8), für sich genommen keinen wesentlichen Bedeutungsgehalt aufweist. Entscheidend ist, ob sich deren Beurteilung auf Tatsachen gründet und ob diese Tatsachen für die Beurteilung von Aussage und Person der Geschädigten herangezogen werden können. Insoweit liegt hier eine ausführlichere Darlegung der Aussagen von Personen aus der Familie der Geschädigten in den Urteilsgründen nahe.

HRRS-Nummer: HRRS 2004 Nr. 140

Bearbeiter: Karsten Gaede