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HRRS-Nummer: HRRS 2020 Nr. 819

Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner

Zitiervorschlag: BGH, 4 StR 140/20, Beschluss v. 19.05.2020, HRRS 2020 Nr. 819


BGH 4 StR 140/20 - Beschluss vom 19. Mai 2020 (LG Oldenburg)

Mord (Habgier: Definition, Unterkunft, Verpflegung und Krankenversorgung in einer Justizvollzugsanstalt als materieller Vorteil, mittelbarer Vermögensvorteil).

§ 211 Abs. 2 Var. 3 StGB

Leitsätze des Bearbeiters

1. Habgier bedeutet ein Streben nach materiellen Gütern oder Vorteilen, das in seiner Hemmungslosigkeit und Rücksichtslosigkeit das erträgliche Maß weit übersteigt und das in der Regel durch eine ungehemmte triebhafte Eigensucht bestimmt ist. Voraussetzung hierfür ist, dass sich das Vermögen des Täters ? objektiv oder zumindest nach seiner Vorstellung ? durch den Tod des Opfers unmittelbar vermehrt oder dass durch die Tat jedenfalls eine sonst nicht vorhandene Aussicht auf eine Vermögensvermehrung entsteht.

2. Diese Voraussetzungen sind erfüllt, wenn der der vermögenslose und nicht krankenversicherte Angeklagte eine schwere Straftat begehen will, um langfristig Unterkunft, Verpflegung und Krankenversorgung in einer Justizvollzugsanstalt zu erhalten.

3. Für die Annahme einer Tötung aus Habgier ist unerheblich, dass der erstrebte Vermögensvorteil nicht unmittelbar aus dem Vermögen des Opfers stammen sollte. Ebenso steht einem Mordversuch aus Habgier nicht entgegen, dass der Angeklagte eine staatliche Versorgung auch auf legale Weise durch Beantragung von Sozialleistungen hätte erreichen können. Einen funktionalen Zusammenhang zwischen Tötung und Vermögensvermehrung in dem Sinne, dass der Angriff auf das Leben aus Sicht des Täters unerlässliches Mittel zur Zielerreichung ist, setzt das Mordmerkmal nicht voraus; entscheidend ist vielmehr die Motivation des Täters.

Entscheidungstenor

1. Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Oldenburg vom 17. Dezember 2019 wird als unbegründet verworfen, da die Nachprüfung des Urteils auf Grund der Revisionsrechtfertigung keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben hat (§ 349 Abs. 2 StPO).

2. Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Rechtsmittels und die dem Nebenkläger im Revisionsverfahren entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.

Gründe

Der Schuldspruch wegen versuchten Mordes weist, auch soweit das Landgericht das Mordmerkmal der Habgier bejaht hat, keinen Rechtsfehler auf.

1. Nach den Feststellungen wollte der vermögenslose und nicht krankenversicherte Angeklagte eine schwere Straftat begehen, um langfristig Unterkunft, Verpflegung und Krankenversorgung in einer Justizvollzugsanstalt zu erhalten. In dieser Absicht fuhr er mit seinem Fahrzeug mit mindestens 80 km/h gezielt von hinten auf den auf einem Fahrradweg radelnden Nebenkläger auf. Der Angeklagte wollte diesen erheblich verletzen. Zudem hielt er den Eintritt des Todes des Nebenklägers ernsthaft für möglich und nahm ihn billigend in Kauf. Der Nebenkläger wurde von seinem Fahrrad geschleudert und erlitt durch den Aufprall und den Sturz schwere Verletzungen.

2. Das Landgericht hat das Mordmerkmal der Habgier zutreffend bejaht.

a) Habgier bedeutet ein Streben nach materiellen Gütern oder Vorteilen, das in seiner Hemmungslosigkeit und Rücksichtslosigkeit das erträgliche Maß weit übersteigt und das in der Regel durch eine ungehemmte triebhafte Eigensucht bestimmt ist (vgl. BGH, Urteile vom 22. Oktober 1957 ? 1 StR 435/57, BGHSt 10, 399; vom 2. September 1980 ? 1 StR 434/80, BGHSt 29, 317 ff.; und vom 22. Januar 1981 ? 4 StR 480/80, NJW 1981, 932). Voraussetzung hierfür ist, dass sich das Vermögen des Täters ? objektiv oder zumindest nach seiner Vorstellung ? durch den Tod des Opfers unmittelbar vermehrt oder dass durch die Tat jedenfalls eine sonst nicht vorhandene Aussicht auf eine Vermögensvermehrung entsteht (vgl. BGH, Beschluss vom 18. Februar 1993 ? 1 StR 49/93, BGHR § 211 Abs. 2 Habgier 4).

b) Diese Voraussetzungen sind nach den rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen erfüllt.

Nach dem Vorstellungsbild des Angeklagten war die Tatbegehung allein auf eine langfristige Versorgung durch eine staatliche Einrichtung und damit auf eine Verbesserung seiner Vermögenslage im Sinne eines rücksichtslosen Gewinnstrebens ausgerichtet. Der Annahme der Habgier stehen die mit der erstrebten Inhaftierung verbundenen persönlichen Einschränkungen des Angeklagten nicht entgegen, weil diese in seiner Vorstellung nur eine untergeordnete Rolle spielten und der angestrebte Vermögensvorteil für den Angeklagten das maßgebliche Tatmotiv war.

Für die Annahme einer Tötung aus Habgier ist ferner unerheblich, dass der erstrebte Vermögensvorteil nicht unmittelbar aus dem Vermögen des Opfers stammen sollte (vgl. BGH, Beschluss vom 4. Februar 2004 ? 5 StR 281/03). Ebenso steht einem Mordversuch aus Habgier nicht entgegen, dass der Angeklagte eine staatliche Versorgung auch auf legale Weise durch Beantragung von Sozialleistungen hätte erreichen können. Einen funktionalen Zusammenhang zwischen Tötung und Vermögensvermehrung in dem Sinne, dass der Angriff auf das Leben aus Sicht des Täters unerlässliches Mittel zur Zielerreichung ist, setzt das Mordmerkmal nicht voraus; entscheidend ist vielmehr die Motivation des Täters (vgl. BGH, Beschluss vom 9. Januar 2004 ? 2 StR 391/03, NStZ 2004, 441; MünchKommStGB/Schneider, 3. Aufl., § 211 Rn. 62; Safferling in Matt/ Renzikowski, StGB, 2. Aufl., § 211 Rn. 15).

HRRS-Nummer: HRRS 2020 Nr. 819

Externe Fundstellen: NStZ 2020, 733

Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner