hrr-strafrecht.de - Rechtsprechungsübersicht


HRRS-Nummer: HRRS 2018 Nr. 433

Bearbeiter: Christian Becker

Zitiervorschlag: BGH, 3 StR 63/15, Beschluss v. 08.03.2018, HRRS 2018 Nr. 433


BGH 3 StR 63/15 - Beschluss vom 8. März 2018 (LG Osnabrück)

Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot bei überlanger Verfahrensdauer wegen Vorlageverfahrens (gesetzlich vorgesehener Verfahrensvorgang; Überschreitung des Angemessenen; durch Verhalten der Justizorgane verursachte Verzögerungen; Gesamtdauer des Verfahrens; Schwere des Tatvorwurfs; Umfang und die Schwierigkeit des Prozessstoffs; Ausmaß der mit dem Andauern des Verfahrens für den Betroffenen verbundenen Belastungen); Versagung der Strafmilderung bei selbst verschuldeter Trunkenheit.

§ 21 StGB; § 49 StGB; Art. 20 Abs. 3 GG; Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK; Art. 13 EMRK

Leitsätze des Bearbeiters

1. Nicht jede im Strafprozess vorkommende Verzögerung führt zu einer Verletzung des Beschleunigungsgebots (Art. 6 Abs. 1 S. 1 MRK). Dies gilt auch für besondere Verfahrensvorgänge, die das Gesetz vorsieht, wie das in § 132 GVG geregelte Verfahren. Die für die Anfrage, die Vorlage und die Entscheidung des Großen Senats für Strafsachen benötigten Zeiträume sind für sich genommen keine Gründe für eine Kompensation. Etwas Anderes gilt - wie hier - bei überlanger Verfahrensdauer, die das Maß des Angemessenen überschreitet.

2. Ob ein solcher Fall einer das Maß des Angemessenen überschreitenden Verfahrensdauer vorliegt, ist durch eine auf die Verhältnisse des konkreten Einzelfalles bezogene Gesamtwürdigung zu prüfen. Dabei sind vor allem die durch Verhalten der Justizorgane verursachten Verzögerungen, aber auch die Gesamtdauer des Verfahrens, die Schwere des Tatvorwurfs, der Umfang und die Schwierigkeit des Prozessstoffs sowie das Ausmaß der mit dem Andauern des Verfahrens für den Betroffenen verbundenen Belastungen zu berücksichtigen.

Entscheidungstenor

Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Osnabrück vom 8. August 2014 wird verworfen; jedoch gelten von der verhängten Freiheitsstrafe drei Monate als vollstreckt.

Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Rechtsmittels und die den Nebenklägern im Revisionsverfahren entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Totschlags zu einer Freiheitsstrafe von neun Jahren verurteilt. Hiergegen wendet er sich mit seiner Revision, mit der er die Verletzung materiellen Rechts rügt. Das Rechtsmittel hat lediglich wegen der nach Verkündung des angefochtenen Urteils eingetretenen Verfahrensverzögerung den aus der Beschlussformel ersichtlichen Teilerfolg; im Übrigen ist es unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.

1. Nach den vom Landgericht getroffenen Feststellungen tötete der Angeklagte am Abend des 14. Dezember 2013 in seiner Wohnunterkunft den Mitbewohner K. nach gemeinsamem Alkoholkonsum durch massive Gewalteinwirkung auf den Brust- und Bauchbereich sowie durch Schläge gegen den Kopf, die er unter anderem mit einem stumpfen Gegenstand ausführte. Bei Begehung der Tat war der weder alkoholkranke noch alkoholüberempfindliche Angeklagte bei erhalten gebliebener Unrechtseinsicht - nicht ausschließbar - auf Grund einer mittelgradigen Berauschung in seiner Steuerungsfähigkeit erheblich vermindert.

2. Die auf Grund der Sachrüge veranlasste umfassende Überprüfung des Urteils hat keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben. Einzugehen ist nur auf die Strafrahmenwahl:

a) Das Landgericht hat die Strafe dem Strafrahmen des § 212 Abs. 1 StGB entnommen. Für einen benannten minder schweren Fall des Totschlags (§ 213 Alternative 1 StGB) hat es keinen Anhaltspunkt gefunden. Einen sonstigen minder schweren Fall (§ 213 Alternative 2 StGB) hat es sowohl unter Berücksichtigung allein der allgemeinen Strafzumessungsgesichtspunkte als auch unter Hinzuziehung des - wegen der Alkoholisierung des Angeklagten zur Tatzeit angenommenen - vertypten Milderungsgrundes des § 21 StGB verneint und auch von einer Strafrahmenmilderung nach §§ 21, 49 Abs. 1 StGB abgesehen. Das Landgericht ist davon ausgegangen, dass im Fall einer alkoholbedingten erheblichen Verminderung der Schuldfähigkeit eine Strafrahmenverschiebung nach § 213 Alternative 2 bzw. §§ 21, 49 Abs. 1 StGB unterbleiben könne, wenn der übermäßige Alkoholkonsum verschuldet ist. Wegen der - mangels Alkoholkrankheit oder -überempfindlichkeit - vorwerfbaren Trunkenheit hat es eine Milderung des Strafrahmens abgelehnt.

Bei der Ablehnung der Strafrahmenmilderung hat das Schwurgericht tatrichterliches Ermessen ausgeübt; es hat nicht die Ansicht vertreten, das selbstverantwortliche Sich-Berauschen des Täters vor der Tat führe von Rechts wegen regelmäßig zur Versagung der Strafrahmenmilderung. Dafür spricht zum einen der Umstand, dass die Urteilsausführungen auf den Beschluss des Senats vom 2. August 2012 (3 StR 216/12, NStZ 2012, 687, 688) verweisen, dem sich erstgenannter Rechtssatz nicht entnehmen lässt. Sie nehmen gerade nicht auf das Urteil des Senats vom 27. März 2003 (3 StR 435/02, BGHR StGB § 21 Strafrahmenverschiebung 31) Bezug, in dem er die Ansicht vertreten hat, dass eine Strafrahmenverschiebung nach §§ 21, 49 Abs. 1 StGB in der Regel ausscheide, wenn die verminderte Schuldfähigkeit des Täters auf selbstverantwortlicher Alkoholisierung beruhe. Zum anderen hat das Landgericht ausdrücklich seinen rechtlichen Ansatz dergestalt umschrieben, dass bei verschuldeter Trunkenheit die Versagung der Strafrahmenverschiebung - nur - „in Betracht kommt“ (UA S. 48).

b) Das Absehen von einer Strafrahmenmilderung erweist sich als rechtsfehlerfrei.

aa) Der Senat hat - nach Anfrage bei den übrigen Strafsenaten (§ 132 Abs. 3 Satz 1 GVG) - die Frage, ob das Tatgericht sein Ermessen bei der Entscheidung über die Strafrahmenverschiebung nach den §§ 21, 49 Abs. 1 StGB grundsätzlich nicht rechtsfehlerhaft ausübt, wenn es im Rahmen einer Gesamtwürdigung der schuldrelevanten Umstände die Versagung der Strafmilderung allein auf den Umstand stützt, dass die erhebliche Verminderung der Schuldfähigkeit des Täters auf von diesem verschuldeter Trunkenheit beruht, gemäß § 132 Abs. 2 und 4 GVG dem Großen Senat für Strafsachen des Bundesgerichtshofs zur Entscheidung vorgelegt (s. im Einzelnen den in dieser Sache ergangenen Vorlagebeschluss vom 20. Dezember 2016, NStZ-RR 2017, 135). Der Große Senat hat mit Beschluss vom 24. Juli 2017 (GSSt 3/17) unter Neufassung der Vorlegungsfrage wie folgt entschieden:

„Im Rahmen der bei der tatgerichtlichen Ermessensentscheidung über die Strafrahmenverschiebung nach den §§ 21, 49 Abs. 1 StGB gebotenen Gesamtwürdigung aller schuldrelevanten Umstände kann eine selbstverschuldete Trunkenheit die Versagung der Strafrahmenmilderung tragen, auch wenn eine vorhersehbar signifikante Erhöhung des Risikos der Begehung von Straftaten aufgrund der persönlichen und situativen Verhältnisse des Einzelfalls nicht festgestellt ist.“

bb) Nach diesem Maßstab durfte das Landgericht, obwohl die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 21 StGB vorlagen, in Ausübung seines Ermessens wegen der Vorwerfbarkeit der Alkoholisierung eine Strafrahmenmilderung nach § 49 Abs. 1 StGB ablehnen. Anders als der Beschwerdeführer meint, hing die Rechtmäßigkeit der Entscheidung nicht von Feststellungen zur Vorhersehbarkeit der Tat im Zeitpunkt des Sich-Berauschens ab; dazu, ob der Angeklagte erkennbar zu Gewalttaten in alkoholisiertem Zustand neigte, brauchten sich die Urteilsgründe nicht zu verhalten.

Ebenso wenig ist etwas dagegen zu erinnern, dass das Landgericht angesichts der Vorwerfbarkeit der Alkoholisierung einen sonstigen minder schweren Fall im Sinne von § 213 Alternative 2 StGB verneint hat. Es hat rechtsfehlerfrei den für die Strafrahmenverschiebung nach § 49 Abs. 1 StGB geltenden Maßstab auf den unbenannten minder schweren Fall übertragen. Die Entscheidung hierüber nimmt das Tatgericht ebenfalls auf der Grundlage einer Gesamtwürdigung der Umstände vor, die nur eingeschränkter revisionsgerichtlicher Kontrolle unterliegt (vgl. BGH, Urteil vom 16. April 2015 - 3 StR 638/14, NStZ-RR 2015, 240 mwN). Soweit es für die Prüfung den vertypten Milderungsgrund des § 21 StGB heranzieht, steht dessen Gewichtung in seinem pflichtgemäßen Ermessen.

cc) Die Darstellung der Strafrahmenwahl in den Urteilsgründen hält revisionsgerichtlicher Überprüfung stand. Das Landgericht hat im Rahmen seines Rechtsfolgenermessens neben der verschuldeten Trunkenheit ersichtlich die - unmittelbar zuvor dargelegten (s. UA S. 47 f.) - übrigen bestimmenden schuldrelevanten Strafzumessungsgesichtspunkte in Bedacht genommen und der selbstverantworteten Alkoholisierung bei der gebotenen Gesamtwürdigung ausschlaggebende Bedeutung beigemessen. Der Senat vermag daher dem Beschwerdeführer nicht darin zu folgen, dass das Landgericht keine Einzelfallabwägung, sondern eine pauschale Bewertung von Fällen verminderter Schuldfähigkeit infolge vorwerfbarer Trunkenheit vorgenommen habe. Ermessensfehler lässt die Entscheidung nicht erkennen.

3. Die - mittlerweile eingetretene - zu einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung führende Verletzung des Beschleunigungsgebots gebietet eine Kompensation nach dem Vollstreckungsmodell (vgl. BGH, Beschluss vom 17. Januar 2008 - GSSt 1/07, BGHSt 52, 124, 135 ff.), die der Senat auf drei Monate der verhängten Freiheitsstrafe bemisst. Eine Urteilsaufhebung und Zurückverweisung der Sache an das Landgericht scheidet aus, weil weder das landgerichtliche Verfahren noch dessen Urteil an einem Rechtsfehler leidet (vgl. BGH, Urteil vom 25. Oktober 2017 - 2 StR 495/12, juris Rn. 33).

a) Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK fordert eine Erledigung des Strafverfahrens in angemessener Zeit. Wird das hieraus folgende Beschleunigungsgebot in rechtsstaatswidriger Weise verletzt, ist eine Kompensation angezeigt.

Nicht jede im Strafprozess vorkommende Verzögerung führt zu einer derartigen Verletzung des Beschleunigungsgebots. Dies gilt auch für besondere Verfahrensvorgänge, die das Gesetz vorsieht, wie das in § 132 GVG geregelte Verfahren (vgl. BGH, Beschluss vom 15. März 2011 - 1 StR 429/09, StV 2011, 407 f.). Die für die Anfrage, die Vorlage und die Entscheidung des Großen Senats für Strafsachen benötigten Zeiträume sind für sich genommen keine Gründe für eine Kompensation.

Etwas anderes gilt bei überlanger Verfahrensdauer, die das Maß des Angemessenen überschreitet. Ob ein solcher Fall vorliegt, ist durch eine auf die Verhältnisse des konkreten Einzelfalles bezogene Gesamtwürdigung zu prüfen. Dabei sind vor allem die durch Verhalten der Justizorgane verursachten Verzögerungen, aber auch die Gesamtdauer des Verfahrens, die Schwere des Tatvorwurfs, der Umfang und die Schwierigkeit des Prozessstoffs sowie das Ausmaß der mit dem Andauern des Verfahrens für den Betroffenen verbundenen Belastungen zu berücksichtigen (vgl. BGH, Urteil vom 25. Oktober 2017 - 2 StR 495/12, juris Rn. 35; Beschluss vom 17. Januar 2008 - GSSt 1/07, BGHSt 52, 124, 147).

b) Hieran gemessen war das nunmehr mehr als drei Jahre währende Revisionsverfahren überlang.

Das angefochtene Urteil ist am 8. August 2014 ergangen. Zu diesem Zeitpunkt befand sich der Angeklagte bereits nahezu acht Monate in Untersuchungshaft, die bis zum heutigen Tag vollzogen wird. Am 24. Februar 2015 sind die Akten mit dem Verwerfungsantrag des Generalbundesanwalts beim Bundesgerichtshof eingegangen. Am 28. Februar 2015 hat der Beschwerdeführer die Begründung der Sachrüge nachgereicht. Nachdem der Senat die Sache zweimal vorberaten hatte, ist am 15. Oktober 2015 der Anfragebeschluss ergangen, der am 10. November 2015 an die anderen Strafsenate abgesandt worden ist. Deren Antworten sind am 15. März 2016 (5. Strafsenat), 28. Juni 2016 (1. Strafsenat), 22. August 2016 (4. Strafsenat) sowie 20. Januar 2017 (2. Strafsenat) eingegangen. Noch bevor sämtliche Antworten vorlagen, hat der Senat am 20. Dezember 2016 den Vorlagebeschluss erlassen; er ist dem Großen Senat für Strafsachen am 22. Februar 2017 übermittelt worden. Dieser hat über die Vorlage am 24. Juli 2017 beraten und beschlossen; anschließend sind die Gründe abgesetzt worden. Der Beschluss ist beim Senat am 1. März 2018 eingegangen.

Die Prüfung der geschilderten Abläufe ergibt, dass - trotz der für die Richter aller Strafsenate und des Großen Senats erforderlichen zeitintensiven Befassung mit der hier entscheidungserheblichen Rechtsfrage - die Zeiträume zwischen der Absendung der Anfrage an die anderen Strafsenate und der Übermittlung der Vorlage an den Großen Senat (mit fast 15 Monaten) sowie zwischen dieser Übermittlung und dem Eingang dessen Beschlusses (mit knapp 13 Monaten) unangemessen groß waren. Darüber hinaus ist bei der Prüfung insbesondere auch die Gesamtdauer des Revisionsverfahrens von mehr als drei Jahren in den Blick zu nehmen, die es unter den gegebenen Umständen im Ganzen als (um ein Jahr) zu lang erscheinen lässt.

c) Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist der Umfang der zur Kompensation erforderlichen Vollstreckungsanrechnung nicht mit dem Ausmaß der Verfahrensverzögerung gleichzusetzen, sondern sie hat nach den Umständen des Einzelfalls grundsätzlich einen eher geringen Bruchteil der Strafe zu betragen (vgl. BGH, Beschlüsse vom 17. Januar 2008 - GSSt 1/07, BGHSt 52, 124, 147; vom 7. Juni 2011 - 4 StR 643/10, BGHR MRK Art. 6 Abs. 1 Satz 1 Verfahrensverzögerung 41; vom 12. Februar 2015 - 4 StR 391/14, wistra 2015, 241, 242). Um jede Benachteiligung auszuschließen, erklärt der Senat unter Berücksichtigung aller Umstände, insbesondere auch der gegen den Angeklagten vollzogenen Untersuchungshaft, drei Monate der verhängten Freiheitsstrafe als vollstreckt.

4. Angesichts des geringen Erfolges der Revision ist es nicht unbillig, den Angeklagten mit den gesamten Kosten seines Rechtsmittels zu belasten (§ 473 Abs. 4 StPO).

HRRS-Nummer: HRRS 2018 Nr. 433

Externe Fundstellen: NStZ-RR 2018, 199

Bearbeiter: Christian Becker