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HRRS-Nummer: HRRS 2013 Nr. 1007

Bearbeiter: Christian Becker

Zitiervorschlag: BGH, 3 StR 222/13, Beschluss v. 20.08.2013, HRRS 2013 Nr. 1007


BGH 3 StR 222/13 - Beschluss vom 20. August 2013 (LG Krefeld)

Sexueller Missbrauch von Jugendlichen (fehlende Fähigkeit zur sexuellen Selbstbestimmung beim Jugendlichen; Feststellung im Einzelfall; keine Beschränkung auf einvernehmlich vorgenommene sexuelle Handlungen).

§ 182 Abs. 3 Nr. 1 StGB

Leitsatz des Bearbeiters

Nach der Auffassung des Senats ist § 182 Abs. 3 Nr. 1 StGB nicht auf solche Fälle zu beschränken, in denen die sexuellen Handlungen einvernehmlich vorgenommen werden (entgegen BGH HRRS 2007 Nr. 489 und BGH HRRS 2010 Nr. 739). Gegenteiliges ergibt sich nach Ansicht des Senats weder aus dem Merkmal des "Ausnutzens" noch aus dem Sinn und Zweck der Norm.

Entscheidungstenor

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Krefeld vom 14. März 2013 mit den Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen in 33 Fällen, jeweils in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Jugendlichen, zur Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und neun Monaten verurteilt und eine Kompensationsentscheidung getroffen. Dagegen wendet sich der Beschwerdeführer mit seiner auf die allgemein erhobene Rüge der Verletzung sachlichen Rechts gestützten Revision. Das Rechtsmittel hat Erfolg.

1. Die Verurteilung wegen sexuellen Missbrauchs von Jugendlichen gemäß § 182 Abs. 3 Nr. 1 StGB hält revisionsrechtlicher Überprüfung nicht stand. Nach dieser Vorschrift machen sich Personen über einundzwanzig Jahre strafbar, die eine Person unter sechzehn Jahren dadurch missbrauchen, dass sie sexuelle Handlungen an ihr vornehmen oder von ihr an sich vornehmen lassen, und dabei die fehlende Fähigkeit des Opfers zur sexuellen Selbstbestimmung ausnutzen. Zu letzterer Tatbestandsvoraussetzung hat die Strafkammer festgestellt, die Stieftochter des Angeklagten habe sich aufgrund ihrer Unerfahrenheit nicht gegen seine Handlungen zur Wehr setzen können; sie sei gegenüber ihrem Stiefvater, der für sie auch Erziehungsperson gewesen sei, letztlich zu willensschwach gewesen, um diesem deutlicher die Grenzen aufzuzeigen. Diese Feststellungen hat das Landgericht auch seiner rechtlichen Würdigung zugrunde gelegt und sie dort wiederholt. Sie werden indes durch die Beweiswürdigung nicht belegt. Diese erweist sich mithin in durchgreifender Weise als lückenhaft.

Nach ganz herrschender Auffassung in Rechtsprechung und Schrifttum ist die fehlende Fähigkeit zur sexuellen Selbstbestimmung in jedem konkreten Einzelfall festzustellen (BGH, Beschlüsse vom 23. Januar 1996 - 1 StR 481/95, BGHSt 42, 27, 29; vom 17. Oktober 2006 - 4 StR 341/06, BGHR StGB § 182 Abs. 2 Nr. 1 Missbrauch 1 und vom 23. Januar 2008 - 2 StR 555/07, StV 2008, 238, 239; MünchKomm-StGB/Renzikowski, 2. Aufl., § 182 Rn. 56; LK/Hörnle, StGB, 12. Aufl., § 182 Rn. 60, jew. mwN; aA SSW-StGB/Wolters, 1. Aufl., § 182 Rn. 20); dementsprechend ist die Beweisaufnahme jedenfalls auf solche Umstände zu erstrecken, die dem Tatgericht die Beurteilung erlauben, ob bei dem Opfer die Fähigkeit zur sexuellen Selbstbestimmung nicht vorhanden war (vgl. MünchKomm-StGB/Renzikowski, aaO; LK/Hörnle, aaO, § 182 Rn. 62; SSW/Wolters, aaO, § 182 Rn. 22). Daran fehlt es hier: Das Landgericht hat seine Feststellungen zum Tatgeschehen allein auf die - rechtsfehlerfrei als glaubhaft gewürdigte - Einlassung des Angeklagten gestützt, die sich nach ihrem in den Urteilsgründen wiedergegebenen Inhalt indes zu solchen Umständen nicht verhält. Die Nebenklägerin hat es - dem Wunsch des Angeklagten entsprechend - nicht förmlich vernommen; diese hat sich in der Hauptverhandlung lediglich mit einer "Erklärung" an den Angeklagten gewandt, der sich aber ebenfalls keine tragfähigen Hinweise auf ihre Fähigkeit zur sexuellen Selbstbestimmung zur Tatzeit entnehmen lassen.

2. Da es nach den getroffenen Feststellungen und der rechtlichen Würdigung des Landgerichts nicht fern liegt, dass in einer neuen Verhandlung festgestellt und belegt werden kann, dass der Nebenklägerin die Fähigkeit zur sexuellen Selbstbestimmung fehlte und der Angeklagte dies ausnutzte, kommt die vom Generalbundesanwalt beantragte Schuldspruchänderung dahingehend, die Verurteilung wegen Missbrauchs von Jugendlichen in Wegfall zu bringen, nicht in Betracht. Eine solche ist nach Auffassung des Senats insbesondere nicht deshalb veranlasst, weil sich die Nebenklägerin gegen die sexuellen Übergriffe des Angeklagten sträubte und ihn mehrfach bat, damit aufzuhören.

Zwar wird in der Literatur vereinzelt vertreten, nur einvernehmlich vorgenommene sexuelle Handlungen könnten den Tatbestand des § 182 Abs. 3 StGB erfüllen (Fischer, StGB, 60. Aufl., § 182 Rn. 11). Dementsprechend hat sich auch die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes - allerdings in nicht tragenden Erwägungen - geäußert (BGH, Beschlüsse vom 18. April 2007 - 2 StR 589/06 und vom 20. Juli 2010 - 4 StR 304/10). Dieser Auffassung, die sich aus dem Wortlaut der Vorschrift ergeben soll, vermag der Senat indes nicht zu folgen:

Die grammatikalische Auslegung des § 182 Abs. 3 StGB ergibt nicht, dass der Tatbestand auf einvernehmliche sexuelle Handlungen beschränkt sein sollte. Dies lässt sich insbesondere nicht dem Tatbestandsmerkmal des "Ausnutzens" entnehmen. Zwar folgt aus diesem Merkmal, dass die fehlende Selbstbestimmungsfähigkeit des Opfers wesentlich für das Zustandekommen der sexuellen Handlung gewesen sein muss (MünchKomm-StGB/Renzikowski, aaO, § 182 Rn. 60; LK/Hörnle, aaO, § 182 Rn. 68). Dies ist aber nicht nur der Fall, wenn der Jugendliche infolgedessen keinen entgegenstehenden Willen entwickeln kann. Die Voraussetzung des "Ausnutzens" ist vielmehr auch dann erfüllt, wenn das Opfer seinen infolge des jugendlichen Alters noch unterentwickelten und deshalb nur bedingt vorhanden entgegenstehenden Willen nicht verwirklichen, etwa aufgrund der Dominanz des Täters bzw. eines bestehenden "Machtgefälles" nicht durchsetzen kann (S/S/Perron/Eisele, StGB, 28. Aufl., § 182 Rn. 14; LK/Hörnle, aaO, § 182 Rn. 65; SSW-StGB/Wolters, aaO, § 182 Rn. 22); allein diese Auffassung entspricht im Übrigen derjenigen des Gesetzgebers (BTDrucks. 12/4584, S. 8).

Gegen dieses Ergebnis spricht auch nicht das Ergebnis einer teleologischen Auslegung. Begreift man den Schutzzweck der Vorschrift dahin, dass der aufgrund des noch nicht abgeschlossenen Reifeprozesses und der fehlenden sexuellen Autonomie (BTDrucks. 12/4584, S. 7, 11) insoweit noch nicht eigenverantwortliche Jugendliche vor Fremdbestimmung geschützt werden soll (SSW/Wolters, aaO, § 182 Rn. 2), stellt gerade das "Überspielen" bzw. die Missachtung des zwar gebildeten, aber infolge der Reifemängel nicht durchsetzbaren entgegenstehenden Willens des Opfers eine Fremdbestimmung dar. Auch in diesen Fällen erweist sich der Jugendliche - trotz der entsprechenden Willensbildung - nicht als "eigenverantwortlich", wenn und soweit die nicht abgeschlossene Entwicklung der sexuellen Selbstbestimmungsfähigkeit dazu führt, dass er diesen Willen nicht verwirklichen kann.

3. Die Aufhebung der Schuldsprüche wegen sexuellen Missbrauchs von Jugendlichen nötigt auch zur Aufhebung der von dem Rechtsfehler nicht betroffenen Verurteilung wegen sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen.

Um dem neuen Tatgericht eine Beurteilung auf widerspruchsfreier Tatsachengrundlage zu ermöglichen, hat der Senat auch die rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen aufgehoben. Für die neue Verhandlung weist der Senat darauf hin, dass sich Erkenntnisse über den Reifeprozess der Nebenklägerin, aufgrund derer die Feststellung ihrer fehlenden sexuellen Selbstbestimmungsfähigkeit möglich wäre, vorliegend auch aus Angaben des mit ihrer Erziehung betrauten Angeklagten ergeben könnten.

HRRS-Nummer: HRRS 2013 Nr. 1007

Externe Fundstellen: NStZ-RR 2014, 10; StV 2014, 415

Bearbeiter: Christian Becker