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HRRS-Nummer: HRRS 2008 Nr. 728

Bearbeiter: Ulf Buermeyer

Zitiervorschlag: BGH, StB 10/08, Beschluss v. 07.08.2008, HRRS 2008 Nr. 728


BGH StB 10/08 - Beschluss vom 7. August 2008 (Ermittlungsrichter des BGH)

Selbstbelastungsfreiheit; Auskunftsverweigerungsrecht; Ordnungsgeld; Ordnungshaft; Erzwingungshaft; RAF; Offensive 77.

Art. 20 Abs. 3 GG; § 55 StPO; § 161a StPO; § 70 StPO; § 96 StPO

Leitsätze des Bearbeiters

1. Ein Zeuge kann die Beantwortung an ihn gerichteter Fragen verweigern (§ 55 StPO), wenn konkrete Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass zwischen den Taten, zu denen er befragt werden soll und deretwegen ihm aufgrund Aburteilung oder Einstellung keine Verfolgung (mehr) droht, und anderen Straftaten, deretwegen er noch verfolgt werden könnte, ein so enger Zusammenhang besteht, dass die Beantwortung von Fragen zu den abgeurteilten bzw. eingestellten Taten die Gefahr der Verfolgung wegen dieser anderen Taten mit sich bringen kann.

2. Der Senat lässt offen, ob Fälle denkbar sind, in denen es der Anordnung von Beugehaft unter dem Aspekt widersprüchlichen staatlichen Verhaltens nach Verhältnismäßigkeitsgrundsätzen entgegenstehen kann, dass auf der einen Seite eine Zeugenaussage nach § 70 Abs. 2 StPO erzwungen werden soll, während auf der anderen Seite durch Sperrerklärung nach § 96 StPO der ermittelnden Staatsanwaltschaft tatrelevante Erkenntnisse des Verfassungsschutzes oder anderer Behörden vorenthalten werden.

Entscheidungstenor

Auf die Beschwerden der Zeugen K., M. und F. werden die Beschlüsse des Ermittlungsrichters des Bundesgerichtshofs vom 28. Dezember 2007 (1 BGs 547/07, 1 BGs 548/07 und 1 BGs 550/07) aufgehoben.

Die Anträge des Generalbundesanwalts auf Verhängung von Ordnungsgeld, ersatzweise Ordnungshaft, sowie auf Anordnung von Beugehaft werden zurückgewiesen.

Die Staatskasse hat die Kosten der Rechtsmittel und die den Beschwerdeführern dadurch entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.

Gründe

I.

1. a) Der Generalbundesanwalt führt seit dem 23. April 2007 gegen den Beschuldigten W. ein Ermittlungsverfahren wegen Verdachts des Mordes. Gegenstand dieses Verfahrens ist der am 7. April 1977 von Mitgliedern der RAF verübte Anschlag auf Generalbundesanwalt Buback und seine beiden Begleiter. Wegen mittäterschaftlicher Beteiligung an diesem Anschlag sind bislang die Beschwerdeführer durch Urteile des Oberlandesgerichts Stuttgart vom 31. Juli 1980 (F.) und vom 2. April 1985 (K. und M.) rechtskräftig verurteilt. Ein gegen S. gerichtetes Ermittlungsverfahren hat der Generalbundesanwalt nach § 154 Abs. 1 StPO eingestellt.

Den Tatverdacht gegen den Beschuldigten W. stützt der Generalbundesanwalt auf eine im Rahmen einer staatsanwaltschaftlichen Vernehmung bestätigte Einschätzung des ehemaligen RAF-Mitglieds B., W. sei der Soziusfahrer auf dem Tatmotorrad gewesen und habe die tödlichen Schüsse auf Generalbundesanwalt Buback und seine Begleiter abgegeben. Des weiteren beruft sich der Generalbundesanwalt auf ein Schreiben des Präsidenten des Bundesamtes für Verfassungsschutz vom 15. Juni 2007, wonach einer „älteren unbestätigten Einzelinformation“ zu Folge der Beschuldigte W. als Schütze auf dem Soziussitz des Motorrads, S. als dessen Fahrer und K. als Fahrer des Fluchtfahrzeugs unmittelbar an der Ausführung der Tat beteiligt gewesen seien. Zudem wird ein kriminaltechnisches Gutachten vom 28. November 2007 herangezogen, aus dem sich ergibt, dass der Beschuldigte W. Mitverursacher einer im Fluchtfahrzeug gesicherten Sekretantragung (einer so genannten Mischspur) gewesen sein kann.

b) Am 27. April 2007 hat der Generalbundesanwalt gegen den Beschuldigten W. ein weiteres Ermittlungsverfahren wegen Verdachts des versuchten Mordes eingeleitet. Hintergrund dieses Verfahrens ist der ebenfalls der RAF zuzurechnende versuchte Anschlag auf die Bundesanwaltschaft am 25. August 1977. Wegen mittäterschaftlicher Beteiligung an dieser Tat sind bislang die Beschwerdeführer K. und M. durch Urteil des Oberlandesgerichts Stuttgart vom 2. April 1985 sowie das ehemalige RAF-Mitglied B., rechtskräftig verurteilt. Ein gegen den Beschwerdeführer F. geführtes Strafverfahren ist am 25. August 1977 gerichtlich gemäß § 154 Abs. 2 StPO eingestellt worden.

Zur Begründung des Tatverdachts gegen den Beschuldigten W. beruft sich der Generalbundesanwalt auch insoweit auf eine Aussage B. anlässlich seiner Vernehmung durch die Bundesanwaltschaft am 26. April 2007, wonach der Beschuldigte W. an der Tat beteiligt und am Tatort anwesend gewesen sein soll.

2. Die Beschwerdeführer sind im Juli und August 2007 in den beiden gegen W. geführten Ermittlungsverfahren staatsanwaltschaftlich (§ 161a Abs. 1 StPO) als Zeugen vernommen und befragt worden

- zur Planung, Vorbereitung und Durchführung der Anschläge vom 7. April 1977 und 25. August 1977,

- insbesondere zu einer Beteiligung des Beschuldigten W. und des ehemaligen RAF-Mitglieds Be. am Anschlag auf Generalbundesanwalt Buback und seine Begleiter,

- sowie zu dem Inhalt eines im Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ (Ausgabe 20/2007) veröffentlichten Gesprächs mit F., in welchem dieser u. a. seine unmittelbare Tatbeteiligung an diesem Anschlag in Abrede gestellt hatte.

F. hat bei seiner Vernehmung lediglich bestätigt, dass die in dem „Spiegel“-Gespräch wiedergegebenen Äußerungen von ihm stammten. Im Übrigen haben die Beschwerdeführer die Beantwortung aller Fragen unter Berufung auf ein umfassendes Auskunftsverweigerungsrecht nach § 55 StPO abgelehnt.

Darauf hat der Ermittlungsrichter des Bundesgerichtshofs auf Antrag des Generalbundesanwalts gemäß §§ 161a, 70 Abs. 1 und 2 StPO durch die angefochtenen Beschlüsse gegen die Zeugen jeweils ein Ordnungsgeld in Höhe von 100 €, ersatzweise Ordnungshaft von fünf Tagen festgesetzt und Erzwingungshaft längstens bis zur Dauer von sechs Monaten angeordnet, die Vollziehung der Beschlüsse jedoch bis zur Entscheidung über die eingelegten Rechtsmittel ausgesetzt. Gegen die Zwangsanordnungen wenden sich die Zeugen mit ihren Beschwerden, denen der Ermittlungsrichter nicht abgeholfen hat.

II.

Die hinsichtlich der Erzwingungshaft gemäß § 304 Abs. 5 StPO zulässigen Rechtsmittel (BGHSt 36, 192) haben Erfolg. Die Anträge des Generalbundesanwalts auf Anordnung von Beugehaft sind zurückzuweisen. Dies führt hier zur gleichzeitigen Ablehnung der Anträge auf Anordnung von Ordnungsgeld, ersatzweise Ordnungshaft.

1. Den Beschwerdeführern steht hinsichtlich aller an sie gerichteten Fragen zu den Anschlägen vom 7. April 1977 und 25. August 1977 wegen der konkreten Gefahr einer weiteren Strafverfolgung ein umfassendes Auskunftsverweigerungsrecht nach § 55 StPO zu. Dem steht nicht entgegen, dass die Beschwerdeführer wegen der Taten, zu denen sie vernommen werden sollen, nicht mehr erneut verfolgt werden können, weil sie deswegen entweder bereits rechtskräftig verurteilt wurden (vgl. BGH NJW 1999, 1413) oder - was unter den hier gegebenen Umständen einem Verfahrenshindernis gleichkommt - das gegen sie gerichtete Strafverfahren gemäß § 154 Abs. 2 StPO gerichtlich eingestellt wurde und Gründe, die ausnahmsweise die Wiederaufnahme des Verfahrens rechtfertigen könnten, nicht ersichtlich sind (vgl. BGHSt 10, 88, 93 f.). Denn es liegen konkrete Anhaltspunkte dafür vor, dass zwischen den abgeurteilten bzw. eingestellten Taten und anderen Straftaten, deretwegen die Zeugen noch verfolgt werden könnten, ein so enger Zusammenhang besteht, dass die Beantwortung von Fragen zu den abgeurteilten bzw. eingestellten Taten die Gefahr der Verfolgung wegen dieser anderen Taten mit sich bringen kann (BVerfG NJW 2002, 1411 ff.; BGH NJW 1999, 1413; NStZ 2006, 178 und 509; NStZ-RR 2006, 239).

Die konkrete Gefahr einer derartigen mittelbaren Selbstbelastung besteht für alle Beschwerdeführer im Hinblick auf eine Beteiligung an noch verfolgbaren Taten, die einer zusammenhängenden Anschlagsserie der RAF im Jahr 1977 zuzurechnen sind.

a) Nach den Feststellungen des Oberlandesgerichts Stuttgart im Urteil vom 2. April 1985 waren die Straftaten, die den Gegenstand der Ermittlungsverfahren gegen W. bilden, Teil einer Anschlagsserie der RAF im Jahr 1977, in deren tatübergreifende Planung und Ausführung alle damaligen Mitglieder der Vereinigung, zu denen auch die Beschwerdeführer zählten, eingebunden waren. Mit der Anschlagsserie verfolgten die damaligen Mitglieder der RAF vor allem das Ziel, die Befreiung inhaftierter Gesinnungsgenossen zu erreichen. Das Oberlandesgericht hat auf UA S. 41, 42 zu dieser so genannten Offensive 77 u. a. Folgendes festgestellt:

„Die 'Offensive 77' stellte sich nicht als eine lose Serie einzelner Anschläge dar, sondern war als Aktioneneinheit geplant. Die 'RAF' versprach sich gerade von der konzentrierten, dicht aufeinander folgenden Angriffsreihe nicht nur ein Höchstmaß an Durchschlagskraft, sondern auch eine potenzierte Wirkung auf die Öffentlichkeit und die zur Entscheidung über die Freilassung der Häftlinge berufenen Stellen. Das Prinzip der Aktioneneinheit erforderte eine enge Koordination und weitgehende Gleichzeitigkeit der Planungen und vorbereitenden Tätigkeiten … Daraus wiederum resultierte die Notwendigkeit, dass sich die 'RAF' für die einzelnen Anschläge nicht in spezielle Kommandos und Gruppen aufspaltete, sondern jedes Mitglied in die g e s a m t e Planung und Ausführung eingeweiht und eingebunden war … Die 'Offensive 77' erforderte … eine derartige Fülle sorgfältig aufeinander abzustimmender Vorbereitungs- und Tathandlungen, dass es auch aus diesem Grunde der Einweihung und Beteiligung eines jeden Mitglieds hinsichtlich des Gesamtvorhabens bedurfte.“

Ihren Auftakt nahm die „Offensive 77“ mit dem Anschlag auf Generalbundesanwalt Buback und seine Begleiter am 7. April 1977, gefolgt von der versuchten Entführung und Ermordung des Bankiers Ponto am 30. Juli 1977, dem versuchten Anschlag auf die Bundesanwaltschaft am 25. August 1977 und der Entführung des Arbeitgeberpräsidenten Dr. Schleyer und Ermordung seiner Begleiter am 5. September 1977. Es liegt nahe, dass auch der Raubüberfall auf das Waffengeschäft Fi. am 1. Juli 1977, bei welchem ausweislich des Urteils des Oberlandesgerichts Stuttgart vom 31. Juli 1980 der Beschwerdeführer F. und das weitere RAF-Mitglied St. den Inhaber des Geschäfts zu töten versuchten und 19 Faustfeuerwaffen erbeuteten, als Beschaffungstat in unmittelbarem Zusammenhang mit der auf einer Gesamtplanung beruhenden Anschlagsserie stand.

b) Es bestehen konkrete Anhaltspunkte dafür, dass die Beschwerdeführer als Täter oder zumindest als Teilnehmer an Straftaten der „Offensive 77“ beteiligt waren, deretwegen sie noch nicht rechtskräftig verurteilt sind und an deren Verfolgung die Bundesanwaltschaft auch nicht wegen eines anderen Verfahrenshindernisses gehindert wäre.

aa) So wurde gegen F. bislang kein Ermittlungsverfahren wegen einer Beteiligung am Mordanschlag auf Jürgen Ponto geführt. Das Urteil des Oberlandesgerichts Stuttgart vom 2. April 1985 (UA S. 57, 58) enthält jedoch konkrete Hinweise, dass F. in die Vorbereitung des Anschlags auf Jürgen Ponto eingebunden war. Der Beschwerdeführer soll gemeinsam mit St. unter falschem Namen im Weltwirtschaftsarchiv in Hamburg personenbezogene Unterlagen des späteren Tatopfers eingesehen und fotokopiert haben, um sich auf diese Weise umfassende Kenntnis von dessen Lebensumständen, Aufgaben und Positionen zu verschaffen und dessen Eignung als Geisel im Rahmen der geplanten Erpressungs- und Freipressungsaktion zu ermitteln.

bb) Gegen K. und M. wurde wegen des Überfalls auf den Waffenhändler Fi. am 1. Juli 1977 bislang nicht ermittelt. Eine Beteiligung dieser Beschwerdeführer - die im Übrigen wegen aller weiteren der „Offensive 77“ zuzurechnenden Taten rechtskräftig verurteilt wurden - auch an dieser Tat erscheint nach den Feststellungen des Urteils des Oberlandesgerichts Stuttgart vom 2. April 1985 indes nicht von vorneherein ausgeschlossen. Die Beschwerdeführer hatten danach maßgeblichen Anteil an der sorgfältigen und langfristigen Planung aller der „Offensive 77“ zuzurechnenden Taten. M. führte zudem bei ihrer Festnahme am 11. November 1982 eine Waffe bei sich, die bei dem Raubüberfall auf den Waffenhändler Fi. erbeutet worden war. Schließlich konnte ein am Tatort anwesender und in den Tatplan eingeweihter dritter Täter, nahe liegend ein weiteres RAF-Mitglied, bislang nicht ermittelt werden.

2. Vor diesem Hintergrund besteht die konkrete Gefahr, dass sich die Beschwerdeführer mit der Beantwortung jeder der an sie gerichteten Fragen zu den Anschlägen vom 7. April 1977 und vom 25. August 1977 im Hinblick auf eine Einbindung in die „Offensive 77“ selbst belasten und weiterführende Erkenntnisse zur Planung und Ausführung der im Jahr 1977 begangenen Anschlagsserie offenbaren müssten. In Anbetracht des vom Oberlandesgericht Stuttgart festgestellten engen Zusammenhangs der im Jahr 1977 von RAF-Mitgliedern begangenen Tatserie kann deshalb nicht ausgeschlossen werden, dass solche Erkenntnisse - etwa Angaben zu konkreten deliktübergreifenden Planungsbeiträgen - Rückschlüsse auf weitere Taten aus der Anschlagsserie zulassen und im Rahmen einer mosaikartigen Beweisführung auch Bedeutung gewinnen können für die Erhärtung des Tatverdachts hinsichtlich der Taten, deretwegen die Beschwerdeführer noch verfolgt werden können. Die unterschiedlichen Modalitäten der einzelnen Taten sind dabei - entgegen der Ansicht des Generalbundesanwalts und des Ermittlungsrichters - ohne maßgebliche Bedeutung. Bei dieser Sachlage kann - nicht zuletzt mit Blick auf die aktuelle Einleitung von Ermittlungsverfahren gegen W. - nicht zweifelsfrei ausgeschlossen werden, dass den Beschwerdeführern im Falle der Beantwortung auch nur einer der an sie gerichteten Fragen weitere Strafverfolgung droht.

Vor diesem Hintergrund bedarf es keines näheren Eingehens darauf, ob und gegebenenfalls unter welchen Umständen der Wiederaufnahme eines gemäß § 154 Abs. 1 StPO von der Staatsanwaltschaft eingestellten Ermittlungsverfahrens rechtsstaatliche Grundsätze entgegenstehen können mit der Folge, dass der Tatverdächtige als Zeuge Fragen zu der zugrunde liegenden Tat beantworten muss und sich nicht auf § 55 StPO berufen kann, weil seiner - erneuten - Verfolgung ein Verfahrenshindernis entgegenstünde. Nicht einzugehen braucht der Senat auch auf die Frage, ob Fälle denkbar sind, in denen es der Anordnung von Beugehaft unter dem Aspekt widersprüchlichen staatlichen Verhaltens nach Verhältnismäßigkeitsgrundsätzen entgegenstehen kann, dass auf der einen Seite eine Zeugenaussage nach § 70 Abs. 2 StPO erzwungen werden soll, während auf der anderen Seite durch Sperrerklärung nach § 96 StPO der ermittelnden Staatsanwaltschaft tatrelevante Erkenntnisse des Verfassungsschutzes oder anderer Behörden vorenthalten werden.

III.

Die dargelegten Gründe hindern auch die Festsetzung des beantragten Ordnungsgeldes und der ersatzweise beantragten Ordnungshaft, die hier in untrennbarem Zusammenhang mit der beantragten Beugehaft stehen. Daher hat der Senat seine Entscheidung, auch wenn eine (isolierte) Beschwerde gegen die Anordnung des Ermittlungsrichters nach § 70 Abs. 1 Satz 2 StPO nicht zulässig gewesen wäre (BGH NStZ 1994, 198), auf diese erstreckt und den Antrag der Bundesanwaltschaft insgesamt zurückgewiesen.

HRRS-Nummer: HRRS 2008 Nr. 728

Bearbeiter: Ulf Buermeyer