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HRRS-Nummer: HRRS 2025 Nr. 435

Bearbeiter: Felix Fischer/Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 2 ARs 1/25, Beschluss v. 13.02.2025, HRRS 2025 Nr. 435


BGH 2 ARs 1/25 2 AR 13/25 - Beschluss vom 13. Februar 2025

Zuständigkeitsbestimmung (Jugendrichter; teilweise Eröffnung der Hauptverhandlung bei verbundenen Anklagen; Zweckmäßigkeit).

§ 42 Abs. 3 JGG; § 12 Abs. 2 StPO

Leitsatz des Bearbeiters

Ein Zuständigkeitswechsel nach § 42 Abs. 3 JGG setzt die vollständige Eröffnung des Hauptverfahrens durch das ursprünglich angegangene Gericht voraus. In das Recht der Staatsanwaltschaft, bis zu diesem Zeitpunkt ihre erhobene Anklage zurückzunehmen und andernorts anhängig zu machen, darf nicht durch gerichtliche Beschlüsse nach § 42 Abs. 3 JGG (oder § 12 Abs. 2 StPO) eingegriffen werden.

Entscheidungstenor

1. Die Abgabebeschlüsse des Amtsgerichts Marl - Jugendrichter - vom 19. Juli 2024 - 13 Ds-52 Js 992/24-111/24 und vom 22. Juli 2024 - 13 Ds-52 Js 997/24-110/24 werden aufgehoben.

2. Zuständig für die Verhandlung und Entscheidung dieser Sachen ist das Amtsgericht Marl - Jugendrichter -.

Gründe

Die Amtsgerichte Marl - Jugendrichter - und Balingen - Jugendrichter - streiten über die Zuständigkeit für zwei Jugendstrafsachen.

1. Die Staatsanwaltschaft Essen hat den minderjährigen Angeklagten mit der Klageschrift vom 13. Dezember 2023 wegen gemeinsam mit drei Mittätern in Marl begangenen gefährlichen Körperverletzungen beim Amtsgericht Marl - Jugendrichter - angeklagt. Nach Eröffnung des Hauptverfahrens am 26. Februar 2024 hat das Amtsgericht Marl Termin zunächst auf den 2. Mai 2024 und sodann auf den 8. August 2024 bestimmt und mit Beschluss vom 28. Juni 2024 ein weiteres bei ihm anhängiges Verfahren hinzuverbunden. In diesem Verfahren legt die Staatsanwaltschaft Essen dem Angeklagten mit Anklageschrift vom 27. November 2023 eine auch in Marl begangene Körperverletzung zur Last.

Ebenfalls am 28. Juni 2024 hat der Jugendrichter in Marl das Verfahren gegen den Angeklagten abgetrennt, nachdem dieser am 19. April 2024 nach Schömberg verzogen war. Auf Antrag der Staatsanwaltschaft Essen hat das Amtsgericht Marl - Jugendrichter - das verbundene Verfahren (13 Ds-52 Js 992/24-111/24) mit Beschluss vom 19. Juli 2024 an das für den neuen Wohnort des Angeklagten zuständige Amtsgericht Balingen abgegeben.

In einem weiteren Verfahren hat die Staatsanwaltschaft Essen den Angeklagten mit Anklageschrift vom 18. März 2024 erneut wegen einer gemeinsam mit einem Mittäter in Marl begangenen gefährlichen Körperverletzung beim Amtsgericht Marl - Jugendrichter - angeklagt. Mit Beschluss vom 31. Mai 2024 hat der Jugendrichter in Marl das Hauptverfahren eröffnet und Termin auf den 22. August 2024 bestimmt.

Auch in diesem Verfahren (13 Ds-52 Js 997/24-110/24) erfolgte am 28. Juni 2024 die Abtrennung gegen den Angeklagten und auf Anregung der Staatsanwaltschaft mit Beschluss vom 22. Juli 2024 die Abgabe an das Amtsgericht Balingen.

Das Amtsgericht Balingen - Jugendrichter - hat die Übernahme - weil nicht sachdienlich - abgelehnt, woraufhin das Amtsgericht Marl die Verfahren zur Zuständigkeitsbestimmung dem Bundesgerichtshof vorgelegt hat.

2. Der Bundesgerichtshof ist zur Entscheidung des zwischen den Jugendrichtern bestehenden Streits gemäß § 42 Abs. 3 Satz 2 JGG als gemeinschaftliches oberes Gericht berufen, weil die Amtsgerichte Marl und Balingen in den Bezirken verschiedener Oberlandesgerichte liegen.

3. Zuständig für die Verhandlung und Entscheidung der Sachen ist das Amtsgericht Marl - Jugendrichter -.

Der Generalbundesanwalt hat hierzu ausgeführt:

„Der Jugendrichter in Balingen weist zu Recht darauf hin, dass die Anklage vom 27. November 2023 in dem Verfahren 52 Js 1860/23, das mit dem Verfahren 52 Js 1964/23 verbunden wurde, offensichtlich noch nicht zugelassen und das Hauptverfahren noch nicht eröffnet worden ist. Damit liegen im Verfahren 13 Ds 111/24 des Amtsgerichts Marl bereits die Voraussetzungen für eine Abgabe nach § 42 Abs. 3 JGG derzeit nicht vor. Denn hat der Jugendrichter nur eine von mehreren verbundenen Anklagen zur Hauptverhandlung zugelassen, liegt eine nur teilweise Eröffnung vor. Dies reicht aber für einen Wechsel der Zuständigkeit durch Verfahrensabgabe gemäß § 42 Abs. 3 JGG nicht aus, da ein Zuständigkeitswechsel die vollständige Eröffnung des Hauptverfahrens voraussetzt (Senat, Beschluss vom 16. Juli 1997 - 2 ARs 250/97 ‒, NStZ-RR 1997, 380). Die Notwendigkeit der Verfahrenseröffnung durch das ursprünglich angegangene Gericht vor Übertragung der örtlichen Zuständigkeit auf ein anderes Gericht ergibt sich aus dem Umstand, dass bis zu diesem Zeitpunkt die Staatsanwaltschaft ihre erhobene Anklage zurücknehmen und andernorts anhängig machen kann. In dieses Recht darf nicht durch gerichtliche Beschlüsse nach § 42 Abs. 3 JGG (oder § 12 Abs. 2 StPO) eingegriffen werden (vgl. Senat, Beschluss vom 11. Oktober 1957 - 2 ARs 167/57 - BGHSt 10, 391). In den Akten befindet sich jedoch nur ein Eröffnungsbeschluss für die Anklage vom 13. Dezember 2023 im Verfahren 52 Js 1964/23.

Ungeachtet dessen ist eine Abgabe sowohl des Verfahrens 13 Ds 111/24 als auch des Verfahrens 13 Ds 110/24 des Amtsgerichts Marl nicht sachgerecht. Der Angeklagte hat zwar nach Erhebung der Anklagen seinen Aufenthaltsort gewechselt. Hier liegen aber gewichtige Gründe vor, die unter dem Gesichtspunkt der Erschwernis der Verfahren gegen die Abgabe an das für den Aufenthaltsort des Angeklagten zuständige Gericht sprechen. Dem Umstand, dass das abgebende Gericht jedenfalls teilweise bereits mit den Sachen vertraut ist, kommt hier zwar angesichts der überschaubaren Tatvorwürfe keine ausschlaggebende Bedeutung zu. Die Abgabe erweist sich aber schon deshalb als unzweckmäßig, weil der Angeklagte sich im Ermittlungsverfahren zu den Vorwürfen der […] begangenen Körperverletzungen nicht zur Sache eingelassen hat und damit jedenfalls die von der Staatsanwaltschaft Essen dazu benannten, in Marl wohnhaften Zeugen zur Hauptverhandlung nach Balingen anreisen müssten. Drei der Zeugen […] sind noch minderjährig und müssten ggf. mit Begleitung nach Balingen reisen. Im Vergleich zu einer Anreise des Angeklagten zum Amtsgericht Marl stellt dies einen erhöhten Aufwand dar. Zudem wird der Jugendrichter in Marl ohnehin in einem dort gegen den Angeklagten geführten Bußgeldverfahren Termin zur Hauptverhandlung anberaumen müssen (vgl. meinen Antrag vom 28. Januar 2025 in der Sache 2 ARs 13/25). Hinzu kommt schließlich, dass die Jugendgerichtshilfe Marl bereits mit den beim Jugendrichter in Marl gegen den Angeklagten geführten Strafverfahren befasst war, wie sich auch aus den im Parallelvorgang 2 ARs 13/25 vorliegenden Akten des Bußgeldverfahrens ergibt. Sie wird daher gemäß § 52 Abs. 1, § 86a Abs. 1, § 87b Abs. 1 und 2 SGB VIII weiter im Verfahren zu beteiligen sein, da die einmal begründete Zuständigkeit bis zum Abschluss des Verfahrens bestehen bleibt.“ Dem schließt sich der Senat an.

HRRS-Nummer: HRRS 2025 Nr. 435

Bearbeiter: Felix Fischer/Karsten Gaede