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HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 766

Bearbeiter: Julia Heß/Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 2 StR 320/22, Urteil v. 24.05.2023, HRRS 2023 Nr. 766


BGH 2 StR 320/22 - Urteil vom 24. Mai 2023 (LG Köln)

Mord (Heimtücke: Arglosigkeit, Hinderung des Opfers sich zu verteidigen oder zu fliehen, maßgeblicher Zeitpunkt, kein heimliches Vorgehen notwendig, Vorkehrungen des Täters, Schaffung einer günstigen Gelegenheit zur Tötung; niedrige Beweggründe).

§ 211 StGB

Leitsätze des Bearbeiters

1. Arglos ist ein Opfer, das sich keines Angriffs gegen seine körperliche Unversehrtheit versieht. Die Arglosigkeit führt zur Wehrlosigkeit, wenn das Opfer aufgrund der Überraschung durch den Täter in seinen Abwehrmöglichkeiten so erheblich eingeschränkt ist, dass ihm die Möglichkeit genommen wird, dem Angriff auf sein Leben erfolgreich zu begegnen oder ihn wenigstens zu erschweren. Das ist insbesondere dann der Fall, wenn das Opfer daran gehindert ist, sich zu verteidigen oder zu fliehen.

2. Maßgeblicher Zeitpunkt für das Vorliegen der Arg- und Wehrlosigkeit des Opfers ist grundsätzlich der Beginn des ersten mit Tötungsvorsatz geführten Angriffs. Der Angriff beginnt aber nicht erst mit der eigentlichen Tötungshandlung, sondern umfasst auch die unmittelbar davor liegende Phase.

3. Heimtückisches Handeln erfordert kein heimliches Vorgehen. So kann ein Opfer auch dann arglos sein, wenn der Täter ihm zwar offen feindselig gegenübertritt, die Zeitspanne zwischen dem Erkennen der Gefahr und dem unmittelbaren Angriff so kurz ist, dass dem Opfer keine Möglichkeit bleibt, dem Angriff irgendwie zu begegnen.

4. Ein heimtückisches Vorgehen kann zudem auch in Vorkehrungen liegen, die der Täter ergreift, um eine günstige Gelegenheit zur Tötung zu schaffen, sofern diese bei der Tat noch fortwirken. Das ist etwa der Fall, wenn der Täter sein Opfer noch im Vorbereitungsstadium unter Ausnutzung von dessen Arglosigkeit in eine Lage aufgehobener oder stark eingeschränkter Abwehrmöglichkeit bringt und die so geschaffene Lage bis zur Tatausführung ununterbrochen fortbesteht. Ob das Opfer zu Beginn des Tötungsangriffs noch arglos war, ist in dieser Sachverhaltskonstellation ohne Bedeutung.

Entscheidungstenor

Auf die Revisionen der Nebenkläger wird das Urteil des Landgerichts Köln vom 17. März 2022 mit den Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsmittel, an eine andere als Schwurgericht zuständige Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Totschlags in Tateinheit mit vorsätzlichem unerlaubten Führens einer halbautomatischen Kurzwaffe zum Verschießen von Patronenmunition zu einer Freiheitsstrafe von elf Jahren verurteilt. Zudem hat es die Tatwaffe eingezogen. Hiergegen wenden sich die Nebenkläger mit ihren auf die Sachrüge gestützten Revisionen, mit denen sie beanstanden, dass der Angeklagte nicht wegen Mordes verurteilt worden ist. Die Rechtsmittel haben Erfolg.

I.

1. Das Landgericht hat folgende Feststellungen getroffen:

a) Der Angeklagte unterhielt spätestens ab Anfang Februar 2020 eine außereheliche Beziehung zu der später getöteten Bo. Das Verhältnis war von Streitigkeiten geprägt, was auch zu einem Polizeieinsatz wegen körperlicher Gewalt und einer Strafanzeige seitens der Geschädigten führte. Der Angeklagte bestimmte und kontrollierte das Freizeitverhalten der Geschädigten. Er drohte ihr, sie zu töten, sollte sie seinen Weisungen nicht Folge leisten. Weil diese sich von ihm trennen wollte, drohte er, dies würde sie „teuer bezahlen“. Als die Geschädigte ihm schrieb, sie wolle ihn nicht mehr sehen, antwortete er, nicht sie, sondern „er entscheide dies“.

Im Oktober 2020 bedrohte der Angeklagte auch seine Ehefrau, die mittlerweile von dem außerehelichen Verhältnis erfahren hatte, mit dem Tode, was diese veranlasste, die Polizei zu informieren, eine Anordnung nach dem Gewaltschutzgesetz zu erwirken und seit dem 7. Dezember 2020 die Scheidung zu betreiben.

b) Am Tattag, dem 17. Dezember 2020, forderte der Angeklagte über Whats App seine Ehefrau auf, ihm seine im Keller des Familienanwesens verwahrte Schusswaffe, eine „scharfgemachte“ SRS-Pistole der türkischen Fabrikation „Atok Arms, Modelltyp 2918“, zugänglich zu machen und holte diese gegen 19.00 Uhr bei ihr ab. Um 19.16 Uhr tankte er in Begleitung der Geschädigten an einer Tankstelle in F., wobei er den PKW der Geschädigten, einen Fiat Panda, führte. Um 20.33 Uhr erfolgte ein letzter telefonischer Kontakt zwischen der Geschädigten und ihrer Mutter. Zwischen 21.00 Uhr und 21.39 Uhr hielten sich der Angeklagte und die auf dem Beifahrersitz sitzende Geschädigte an einem unbekannten Ort in oder um K. auf. Der Angeklagte befand sich entweder außerhalb des stehenden Fahrzeugs an der Beifahrerseite oder hinter dem Beifahrersitz auf der Rückbank. Mittels der zuvor besorgten Schusswaffe schoss er aus einer Entfernung von höchstens einem Meter „entweder von hinten oder durch das geöffnete Beifahrerfenster oder durch die geöffnete rückwärtige Beifahrertür zwei Mal in den Kopf der Geschädigten, in der Absicht, diese zu töten.“ Ein Projektil traf im Bereich der rechten Vorderohrregion, durchsetzte das Kleinhirn und verblieb im Bereich des linken Unterkieferwinkels. Das andere Projektil traf im Bereich der rechten hohen Schläfe, trat im Bereich der linken Wange aus, durchschlug im Fußraum der Beifahrerseite die Fußmatte und verursachte im Bodenblech eine Prellmarke. Die Geschädigte verstarb an Ort und Stelle an zentralem Regulationsversagen. Die Strafkammer konnte nicht feststellen, in welcher Reihenfolge und mit welchem zeitlichen Abstand die beiden Schüsse abgegeben worden waren.

c) Nach telefonischer Kontaktaufnahme erklärte sich der mit dem Angeklagten befreundete U. bereit, diesem bei der Beseitigung der Leiche zu helfen. Gemeinsam verbrachten sie die weiterhin auf dem Beifahrersitz des Fiat Panda befindliche Leiche zwischen 23.54 Uhr und 1.38 Uhr nach O. (R.), legten sie in der Böschung eines Wirtschaftsweges ab, übergossen sie mit Benzin und setzten sie in Brand. Am Morgen des 18. Dezember 2020 verbrachte der Angeklagte den PKW in eine professionelle Autoreinigung, wo er das in dem Fahrzeug befindliche Blut damit erklärte, er habe sich mit einem Freund im Auto geschlagen und diesem dabei die Nase gebrochen. Am 18. Dezember 2020 gegen 13.20 Uhr wurde die zunächst nicht identifizierbare verkohlte Leiche von Spaziergängern entdeckt.

2. Das Landgericht hat den Angeklagten „lediglich“ wegen Totschlags verurteilt. Das Mordmerkmal der Heimtücke liege nicht vor, weil nicht mit der erforderlichen Sicherheit festzustellen sei, dass sich die Geschädigte im Moment der ersten Schussabgabe keines Angriffs durch den Angeklagten auf ihr Leben versehen und der Angeklagte dies bewusst ausgenutzt habe. Ein dementsprechend zwingender Schluss sei nicht möglich. Es sei nämlich denkbar, dass der Angeklagte der Geschädigten die Schusswaffe zuvor vorgehalten und diese damit bedroht habe. Auch das Mordmerkmal der niedrigen Beweggründe komme nicht in Betracht, da ein Motiv des Angeklagten nicht mit der erforderlichen Sicherheit festgestellt werden könne.

II.

Die Revisionen der Nebenkläger, die sich gegen die rechtliche Bewertung des Landgerichts richten, sind zulässig und haben in der Sache Erfolg.

Die Erwägungen, mit denen das Landgericht eine heimtückische Tatbegehung verneint hat, sind rechtsfehlerhaft, weil es von einem zu engen Verständnis dieses Mordmerkmals ausgegangen ist, indem es ausschließlich auf die Arglosigkeit der Geschädigten im Zeitpunkt der Abgabe des ersten Schusses abgestellt hat.

1. Heimtückisch handelt, wer in feindseliger Willensrichtung die Arg- und dadurch bedingte Wehrlosigkeit des Opfers bewusst zur Tötung ausnutzt.

a) Arglos ist ein Opfer, das sich keines Angriffs gegen seine körperliche Unversehrtheit versieht. Die Arglosigkeit führt zur Wehrlosigkeit, wenn das Opfer aufgrund der Überraschung durch den Täter in seinen Abwehrmöglichkeiten so erheblich eingeschränkt ist, dass ihm die Möglichkeit genommen wird, dem Angriff auf sein Leben erfolgreich zu begegnen oder ihn wenigstens zu erschweren. Das ist insbesondere dann der Fall, wenn das Opfer daran gehindert ist, sich zu verteidigen oder zu fliehen (vgl. Senat, Urteil vom 17. Januar 2001 - 2 StR 438/00; BGH, Urteil vom 21. Januar 2021 - 4 StR 337/20, NStZ 2021, 609, 610).

b) Maßgeblicher Zeitpunkt für das Vorliegen der Arg- und Wehrlosigkeit des Opfers ist grundsätzlich der Beginn des ersten mit Tötungsvorsatz geführten Angriffs. Anders als vom Landgericht angenommen beginnt der Angriff aber nicht erst mit der eigentlichen Tötungshandlung, hier der Schussabgabe, sondern umfasst auch die unmittelbar davor liegende Phase. Ebensowenig erfordert heimtückisches Handeln ein heimliches Vorgehen. So kann ein Opfer auch dann arglos sein, wenn der Täter ihm zwar offen feindselig gegenübertritt, die Zeitspanne zwischen dem Erkennen der Gefahr und dem unmittelbaren Angriff so kurz ist, dass dem Opfer keine Möglichkeit bleibt, dem Angriff irgendwie zu begegnen (vgl. Senat, Urteil vom 17. Januar 2001 - 2 StR 438/00; BGH, Urteil vom 15. September 2011 - 3 StR 223/11, NStZ 2012, 35).

c) Ein heimtückisches Vorgehen kann zudem auch in Vorkehrungen liegen, die der Täter ergreift, um eine günstige Gelegenheit zur Tötung zu schaffen, sofern diese bei der Tat noch fortwirken. Das ist etwa der Fall, wenn der Täter sein Opfer noch im Vorbereitungsstadium unter Ausnutzung von dessen Arglosigkeit in eine Lage aufgehobener oder stark eingeschränkter Abwehrmöglichkeit bringt und die so geschaffene Lage bis zur Tatausführung ununterbrochen fortbesteht. Ob das Opfer zu Beginn des Tötungsangriffs noch arglos war, ist in dieser Sachverhaltskonstellation ohne Bedeutung (vgl. BGH, Urteil vom 11. November 2020 - 5 StR 124/20 mwN).

2. Nach den Feststellungen zum Tathergang besorgte sich der Angeklagte die Tatwaffe unmittelbar bevor er mit der Geschädigten zum späteren Tatort fuhr, was ein geplantes Vorgehen belegt. Damit, ob die auf dem Beifahrersitz des Kleinwagens sitzende Geschädigte an diesem - naheliegend abgelegenen - Tatort bei einer gegebenenfalls noch vor Schussabgabe erfolgten Bedrohung mit der Schusswaffe überhaupt eine Möglichkeit zur Flucht oder Verteidigung hatte, hätte sich das Landgericht auseinandersetzen müssen (vgl. BGH, Urteil vom 20. Februar 2002 - 5 StR 545/01, NStZ 2002, 368); dies hat es aufgrund seines rechtsfehlerhaften Verständnisses des Mordmerkmals der Heimtücke verkannt.

3. Der aufgezeigte Mangel nötigt zur Aufhebung des Urteils. Die Sache bedarf daher neuer Verhandlung und Entscheidung. Das neue Tatgericht wird sich - wie vom Generalbundesanwalt ausgeführt - zudem eingehender als bisher geschehen mit dem Verletzungs- und Spurenbild auseinandersetzen müssen, um so gegebenenfalls nähere Erkenntnisse zum Tathergang zu erhalten. Ebenso wird es bei der veranlassten Prüfung niedriger Beweggründe die für den Angeklagten festgestellte Eifersucht, seinen Kontrollwahn und seine gegenüber der Geschädigten geäußerten Todesdrohungen in den Blick zu nehmen haben.

HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 766

Bearbeiter: Julia Heß/Karsten Gaede