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HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 614

Bearbeiter: Karsten Gaede/Julia Heß

Zitiervorschlag: BGH, 2 StR 243/21, Beschluss v. 07.12.2021, HRRS 2022 Nr. 614


BGH 2 StR 243/21 - Beschluss vom 7. Dezember 2021 (LG Erfurt)

Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (Feststellung einer generellen gesicherten Beeinträchtigung der Schuldfähigkeit: schizophrene Psychose, konkretisierende Darlegung, normalpsychologisch zu erklärendes strafbares Verhalten).

§ 63 StGB

Leitsatz des Bearbeiters

Allein die Diagnose einer schizophrenen Psychose führt für sich genommen nicht zur Feststellung einer generellen oder zumindest längere Zeiträume überdauernden gesicherten Beeinträchtigung bzw. Aufhebung der Schuldfähigkeit. Erforderlich ist vielmehr stets die konkretisierende Darlegung, in welcher Weise sich die festgestellte psychische Störung bei Begehung der Taten auf die Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit ausgewirkt hat. Beurteilungsgrundlage ist das konkrete Tatgeschehen, wobei neben der Art und Weise der Tatausführung auch die Vorgeschichte, der Anlass der Tat, die Motivlage des Angeklagten und sein Verhalten nach der Tat von Bedeutung sein können. Zu prüfen ist dabei insbesondere auch, ob in der Person des Angeklagten oder in seinen Taten letztlich nicht nur Eigenschaften und Verhaltensweisen hervortreten, die sich im Rahmen dessen halten, was bei schuldfähigen Menschen eine übliche Ursache für strafbares Verhalten und somit normalpsychologisch zu erklären ist.

Entscheidungstenor

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Erfurt vom 1. Februar 2021 im Straf- und Maßregelausspruch mit den jeweils zugehörigen Feststellungen aufgehoben.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

2. Die weitergehende Revision wird verworfen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen besonders schweren räuberischen Diebstahls zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten verurteilt und die Unterbringung des Angeklagten in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet. Sowohl die Vollstreckung der Strafe wie auch der Maßregel hat das Landgericht zur Bewährung ausgesetzt. Die auf die Rüge der Verletzung sachlichen Rechts gestützte Revision des Angeklagten hat in dem aus der Beschlussformel ersichtlichen Umfang Erfolg; im Übrigen ist sie offensichtlich unbegründet (§ 349 Abs. 2 StPO).

I.

1. Nach den Feststellungen des Landgerichts ging der Angeklagte, der sich dauerhaft in Geldnot befand, vor dem 6. Mai 2019 mehrfach in das U. - Geschäft in E. und erkundigte sich nach der Tätigkeit von U. Er dachte bei seinen Besuchen darüber nach, eine dort stehende Spendendose zu stehlen, entschied sich aber dagegen, da es sich um eine gemeinnützige Organisation handele. Am 6. Mai 2019 betrat er wieder das Geschäft. Er traf dort auf die Zeugin S., die er in ein Gespräch verwickelte. Sie war über die vorangegangenen Besuche des Angeklagten informiert, bat ihn, den Laden zu verlassen und erteilte ihm Hausverbot. Der Angeklagte empfand dieses Verhalten der Zeugin S. als unfreundlich. Hierdurch verärgert und gereizt entschloss er sich spontan, die Spendendose zu entwenden, zumal er auch Geld brauchte. Er ergriff diese, verließ den Laden und rannte davon. Die Zeugin S. rief vor dem Laden um Hilfe. Ein unbekannt gebliebener Fahrradfahrer rief dem Angeklagten zu, er könne doch „nicht einfach die U. -Kasse klauen“, und folgte ihm. Der Zeuge B. verfolgte den Angeklagten ebenfalls. Er schnitt ihm den Weg ab und stand ihm sodann in einem Abstand von ca. 3 bis 5 Metern gegenüber. Der Angeklagte zog nun einen spitzen, metallischen Gegenstand mit einer 1,5 cm breiten und 10 cm langen Klinge aus seiner Bekleidung und hielt diesen in Richtung des Zeugen B. Er forderte ihn - auch um sich im Besitz der Dose zu halten, um mit dem darin befindlichen Geld Betäubungsmittel zu erwerben - auf, nicht näher zu kommen, und sagte „ich mach Dich kalt, ich fick Deine Mutter“. Bei der Drohung hatte der Angeklagte einen aggressiven und leeren Blick, was den Zeugen B. massiv beeindruckte und diesem Angst machte. Er rief ihm zu, er solle „keinen Scheiß“ machen und ließ ihn passieren. Der Angeklagte rannte weiter, wurde aber von dem unbekannten Fahrradfahrer eingeholt. Dieser fragte den Angeklagten, warum er „so eine Scheiße“ mache. Der Angeklagte wies ihn auf seine Geldnot hin; zudem erzählte er in wirrer Weise von seiner Mutter und seiner Vergangenheit. Der Zeuge B. folgte den beiden in einiger Distanz. Schließlich rief er die Polizei. Der Angeklagte entkam; er öffnete die Spendendose und nahm die darin befindlichen 6 Euro an sich. Er war aufgrund einer paranoiden Schizophrenie in seiner Steuerungsfähigkeit erheblich vermindert, da seine „Hemmschwelle für regelwidriges Verhalten aufgrund seiner Erkrankung maßgeblich herabgesetzt war“.

2. Das Landgericht hat den Angeklagten wegen besonders schweren räuberischen Diebstahls zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten verurteilt und die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet. Strafe und Maßregel hat es zur Bewährung ausgesetzt.

II.

1. Die Überprüfung der angegriffenen Entscheidung aufgrund der ausgeführten Sachrüge hat Rechtsfehler zum Schuldspruch nicht ergeben.

2. Hingegen hält der Strafausspruch rechtlicher Nachprüfung nicht stand.

Das Landgericht hat einen minder schweren Fall gemäß § 252 iVm § 250 Abs. 3 StGB angenommen und dabei wie auch im Rahmen der konkreten Strafzumessung, bei der auf die zuvor gewürdigten Umstände Bezug genommen wird, berücksichtigt, dass der Angeklagte die Tat unter laufender Bewährung begangen habe. Ob dies der Fall ist, lässt sich den Urteilsgründen aber nicht abschließend entnehmen. Welche Bewährungszeit hinsichtlich der mit Urteil vom 28. Oktober 2016 zur Bewährung ausgesetzten Strafe festgesetzt worden ist, teilt das Landgericht nicht mit. Da der Senat so nicht prüfen kann, ob die Bewährungszeit am Tattag bereits abgelaufen war, und auch nicht auszuschließen ist, dass die Strafe auf dem Rechtsfehler beruht, ist der Strafausspruch aufzuheben.

3. Auch der Maßregelausspruch erweist sich als durchgreifend rechtsfehlerhaft.

Die Anordnung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand. Die Voraussetzungen des § 63 StGB werden durch die Urteilsfeststellungen nicht belegt.

a) Die Strafkammer geht sachverständig beraten unter eingehender Schilderung zahlreicher Aufenthalte des Angeklagten in psychiatrischen Kliniken und dem sich dadurch ergebendem Krankheitsverlauf davon aus, dass dieser an einer vermutlich drogeninduzierten Schizophrenie leidet, die sich seit dem 24. Lebensjahr manifestiert habe. Diese könne als krankhafte seelische Störung eingeordnet werden. Zum Tatzeitpunkt hätten zwar ausgeprägte kognitive Einbußen nicht vorgelegen, aber es sei davon auszugehen, dass psychopathologische Auffälligkeiten bestanden hätten, die zu einer erheblichen Einschränkung der Steuerungsfähigkeit geführt hätten.

b) Diese Erwägungen erweisen sich als durchgreifend rechtsfehlerhaft.

Allein die Diagnose einer schizophrenen Psychose führt für sich genommen nicht zur Feststellung einer generellen oder zumindest längere Zeiträume überdauernden gesicherten Beeinträchtigung bzw. Aufhebung der Schuldfähigkeit (vgl. Senat, Beschluss vom 29. Mai 2012 - 2 StR 139/12, NStZ-RR 2012, 306, 307). Erforderlich ist vielmehr stets die konkretisierende Darlegung, in welcher Weise sich die festgestellte psychische Störung bei Begehung der Taten auf die Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit ausgewirkt hat (st. Rspr.; vgl. Senat, Beschluss vom 14. Juni 2004 - 2 StR 71/04, StraFo 2004, 390, 391 mwN). Beurteilungsgrundlage ist das konkrete Tatgeschehen, wobei neben der Art und Weise der Tatausführung auch die Vorgeschichte, der Anlass der Tat, die Motivlage des Angeklagten und sein Verhalten nach der Tat von Bedeutung sein können (Senat, Beschluss vom 1. Juni 2017 - 2 StR 57/17; StV 2019, 235, 236; BGH, Urteil vom 4. Juni 1991 - 5 StR 122/91, BGHSt 37, 397, 402). Zu prüfen ist dabei insbesondere auch, ob in der Person des Angeklagten oder in seinen Taten letztlich nicht nur Eigenschaften und Verhaltensweisen hervortreten, die sich im Rahmen dessen halten, was bei schuldfähigen Menschen eine übliche Ursache für strafbares Verhalten und somit normalpsychologisch zu erklären ist (vgl. Senat, Beschluss vom 25. August 2020 - 2 StR 263/20, NStZ-RR 2021, 7; BGH, Beschlüsse vom 17. Juni 2015 - 4 StR 196/15, BGH NStZ-RR 2015, 275, 276; vom 23. Juni 2020 - 3 StR 95/20, NStZ-RR 2020, 337 f.).

Das Landgericht hat nicht hinreichend dargelegt, dass der Angeklagte bei Begehung der Anlasstat sicher im Zustand einer erheblich verminderten Schuldfähigkeit gehandelt hat. Es fehlt an einer ausreichenden Grundlage für die Annahme psychopathologischer Auffälligkeiten, die nach Ansicht des Landgerichts zur Bejahung der Voraussetzungen des § 21 StGB geführt haben. Die Strafkammer ist nicht nur davon ausgegangen, dass das eigentliche Diebstahlsgeschehen mit der sich anschließenden Flucht (bei isolierter Betrachtung) noch normalpsychologisch erklärt werden kann, sie hat dementsprechend - gestützt auf die Angaben der Sachverständigen - ausgeführt, der Angeklagte habe die Motivation für sein Handeln reflektieren und entsprechend dieser Motivation handeln können; er sei in der Lage gewesen, Situationen einzuschätzen, Entscheidungen zu treffen und diese umzusetzen. Es seien auch keine Anhaltspunkte für eine wesentliche Beeinträchtigung seiner Orientierung oder seiner Aufmerksamkeit zu erkennen. Dies steht für den Senat in unauflösbarem Widerspruch zu der später getroffenen Feststellung, es hätten zugleich „psychopathologische Auffälligkeiten mit formalen Denkstörungen, vermehrter Impulsivität, verringerter Frustrationstoleranz und verstärkter Reizbarkeit im Rahmen der paranoiden Schizophrenie“ vorgelegen. Ein leichter reizbarer Täter, der impulsiver als gewöhnlich auf Veränderungen in seinem Wahrnehmungsbereich reagiert, lässt sich nicht beschreiben als eine Person, die in (zutreffender) Einschätzung der Situation „die Motivation für sein Handeln reflektieren und entsprechend dieser Motivation handeln“ kann.

Hinzu kommt, dass die Annahme der psychopathologischen Auffälligkeiten im Rahmen eines an sich auch normalpsychologisch zu erklärenden Tatgeschehens nicht hinreichend belegt ist. Der Hinweis auf solche Auffälligkeiten in erheblichem Abstand vor der Tat und drei bzw. mehr als sechs Wochen nach der Tat ergibt keine tragfähige Grundlage für den Schluss auf das Vorliegen im Tatzeitpunkt. Der Zustand einer schizophrenen Psychose (mit entsprechenden psychopathologischen Auffälligkeiten) führt für sich genommen nicht zur Feststellung einer generellen oder zumindest längere Zeiträume überdauernden gesicherten Beeinträchtigung bzw. Aufhebung der Schuldfähigkeit. Er kann eine tatzeitbezogene Würdigung des Zustands einer an paranoider Schizophrenie erkrankten Person nicht ersetzen. Ebensowenig tragfähig sind für sich genommen die Umstände, dass der Angeklagte dem Zeugen B. als „wirr“ erschienen ist und der Angeklagte dem Fahrradfahrer gegenüber von seiner Mutter und der Vergangenheit erzählt hat. Es handelt sich insoweit lediglich um Wahrnehmungen eines Zeugen. Das Landgericht hätte bedenken müssen, dass dessen Einschätzung für die psychiatrische Einordnung des Verhaltens des Angeklagten von nur begrenzter Aussagekraft ist.

Die Sache bedarf deshalb auch insoweit, zweckmäßigerweise unter Heranziehung eines anderen Sachverständigen, neuer Verhandlung und Entscheidung.

4. Einer Entscheidung über die Beschwerde des Angeklagten gegen den Bewährungs- und Führungsaufsichtsbeschluss vom 1. Februar 2021 bedarf es nicht, denn dieser ist nach Aufhebung des Straf- und Maßregelausspruchs gegenstandslos geworden.

HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 614

Bearbeiter: Karsten Gaede/Julia Heß