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HRRS-Nummer: HRRS 2019 Nr. 286

Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner

Zitiervorschlag: BGH, 2 ARs 352/18, Beschluss v. 23.01.2019, HRRS 2019 Nr. 286


BGH 2 ARs 352/18 (2 ARs 353/18, 2 ARs 354/18, 2 ARs 355/18) - Beschluss vom 23. Januar 2019

Entscheidung des Zuständigkeitsstreits.

§ 42 Abs. 3 Satz 2 JGG

Entscheidungstenor

Die Untersuchung und Entscheidung der Sachen wird dem Amtsgericht - Jugendschöffengericht - Erfurt übertragen.

Gründe

I.

1. Gegenüber dem Angeklagten sind nachfolgende Verfahren anhängig:

a) 2 ARs 352/18 (Amtsgericht Paderborn: 68 Ls 11/18) Wegen gefährlicher Körperverletzung und wegen Diebstahls (Tatzeiten: 7. und 10. Januar 2017) hat die Staatsanwaltschaft Paderborn bei dem Amtsgericht - Jugendschöffengericht - Paderborn am 20. März 2017 Anklage erhoben. Zum Zeitpunkt der angeklagten Taten wohnte der Angeklagte in P. Hinsichtlich der Tat vom 7. Januar 2017 hat sich der Angeklagte vollumfänglich geständig und hinsichtlich der Tat vom 10. Januar 2017 teilweise geständig eingelassen. Das Amtsgericht Paderborn hat das Verfahren gegen den Angeklagten nach Zustellung der Anklage mit Beschluss vom 4. Juni 2018 vor dem Jugendschöffengericht eröffnet und gemäß § 42 Abs. 3 JGG an das Amtsgericht - Jugendschöffengericht - Erfurt abgegeben.

b) 2 ARs 353/18 (Amtsgericht Paderborn: 68 Ls 34/17) Die Staatsanwaltschaft Paderborn hat gegen den Angeklagten bei dem Amtsgericht - Jugendrichter - Paderborn am 7. März 2017 wegen einer am 18. Januar 2017 in P. begangenen versuchten Körperverletzung in Tateinheit mit vorsätzlicher Körperverletzung Anklage erhoben. Der Jugendrichter hat dieses Verfahren nach Zustellung der Anklage im Hinblick auf das vorgenannte gegen den Angeklagten beim Amtsgericht - Jugendschöffengericht - Paderborn anhängige Verfahren nach dorthin abgegeben. Das Amtsgericht - Jugendschöffengericht - Paderborn hat das Verfahren gegen den Angeklagten übernommen, mit Beschluss vom 29. März 2018 vor dem Jugendschöffengericht eröffnet und gemäß § 42 Abs. 3 JGG an das Amtsgericht - Jugendschöffengericht - Erfurt abgegeben.

Der zum Zeitpunkt der Taten in P. wohnhafte Angeklagte hat sich zur Tat abweichend von den Geschädigten eingelassen. Die Geschädigten, bei denen es sich um die Betreuer der früheren Jugendhilfeeinrichtung handelt, in der der Angeklagte untergebracht war, sind im Zuständigkeitsbereich des Amtsgerichts Paderborn wohnhaft.

c) 2 ARs 354/18 (Amtsgericht Paderborn: 68 Ls 56/17) Die Staatsanwaltschaft Paderborn hat gegen den Angeklagten bei dem Amtsgericht - Jugendrichter - Paderborn am 2. Februar 2017 wegen einer am 21. Oktober 2016 in P. begangenen Leistungserschleichung Anklage erhoben. Der Jugendrichter hat - wie zuvor - dieses Verfahren nach Zustellung der Anklage im Hinblick auf das gegen den Angeklagten beim Amtsgericht - Jugendschöffengericht - Paderborn anhängige Verfahren (siehe unter Buchst. a)) nach dorthin abgegeben. Das Amtsgericht - Jugendschöffengericht - Paderborn hat das Verfahren ebenfalls übernommen, mit Beschluss vom 4. Juni 2018 vor dem Jugendschöffengericht eröffnet und gemäß § 42 Abs. 3 JGG an das Amtsgericht - Jugendschöffengericht - Erfurt abgegeben. Zum Zeitpunkt der angeklagten Tat wohnte der hinsichtlich des angeklagten Vorwurfs geständige Angeklagte in P. .

d) 2 ARs 355/18 (Amtsgericht Paderborn: 68 Ls 57/17) Die Staatsanwaltschaft Erfurt hat gegen den Angeklagten bei dem Amtsgericht - Jugendrichter - Sömmerda am 22. Februar 2016 wegen am 20. August 2015 in S. begangener versuchter Körperverletzung in zwei Fällen, davon in einem Fall in Tateinheit mit Sachbeschädigung und in dem anderen Fall in Tateinheit mit Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte und Beleidigung Anklage erhoben. Der Jugendrichter hat dieses Verfahren nach Zustellung der Anklage mit Beschluss vom 26. Juli 2016 eröffnet und sodann mit Beschluss vom 3. November 2016 gemäß § 42 Abs. 3 JGG an das Amtsgericht - Jugendrichter - Paderborn abgegeben. Der Jugendrichter in Paderborn hat das Verfahren übernommen und es im Hinblick auf das gegen den Angeklagten beim Amtsgericht - Jugendschöffengericht - Paderborn anhängige Verfahren (siehe unter Buchst. a)) mit Beschluss vom 27. März 2017 nach dorthin abgegeben. Das Amtsgericht - Jugendschöffengericht - Paderborn hat das Verfahren übernommen und mit Beschluss vom 26. März 2017 gemäß § 42 Abs. 3 JGG an das Amtsgericht - Jugendschöffengericht - „Sömmerda“ abgegeben.

Zum Zeitpunkt der angeklagten Tat wohnte der Angeklagte in S. In seiner Beschuldigtenvernehmung hat er sich dahin eingelassen, sich an das Tatgeschehen nicht erinnern zu können, da er Whisky getrunken habe.

Darüber hinaus wurde er positiv auf Benzodiazepine weit unterhalb des therapeutisch wirksamen Bereichs getestet. Die insgesamt acht Zeugen des Geschehens halten sich im Zuständigkeitsbereich des Amtsgerichts Sömmerda auf.

2. Das (für den Amtsgerichtsbezirk Sömmerda zuständige) Jugendschöffengericht des Amtsgerichts Erfurt hat die Übernahme aller Verfahren abgelehnt. Die gemeinsame Verhandlung mit den weiteren vor dem Jugendschöffengericht Paderborn anhängigen Verfahren sei aus erzieherischen Gründen sachdienlich; die Taten seien überwiegend in P. begangen worden und die Zeugen überwiegend nicht im Amtsgerichtsbezirk Erfurt wohnhaft.

Das Amtsgericht - Jugendschöffengericht - Paderborn hat sämtliche bei ihm anhängige und den Angeklagten betreffende Verfahren mit der Bitte um Bestimmung der örtlichen Zuständigkeit dem Bundesgerichtshof vorgelegt.

3. Der Angeklagte wohnte zunächst vom 30. April 2015 bis zum 4. August 2016 in S., ab dem 4. August 2016 in P., vom 12. Mai 2017 bis zum 16. Juli 2017 hielt er sich in einer Jugendhilfeeinrichtung in Q. auf, war am 17. Oktober 2017 untergetaucht und verzog am 21. Dezember 2017 nach S., wo er auch am 5. Oktober 2018 noch gemeldet war.

II.

1. Der Bundesgerichtshof ist als gemeinsames oberes Gericht der Amtsgerichte Paderborn (Oberlandesgericht Hamm) und Erfurt (Oberlandesgericht Jena) nach § 42 Abs. 3 Satz 2 JGG zur Entscheidung des Zuständigkeitsstreits berufen.

2. Die Voraussetzungen der Abgabe gemäß § 42 Abs. 3 Satz 1 JGG liegen vor, denn der Angeklagte hat seinen Aufenthaltsort nach Erhebung der Anklage (wiederholt) gewechselt.

Zum Zeitpunkt der Anklagen der Staatsanwaltschaft Paderborn vom 20. März 2017 (siehe unter I. 1. Buchst. a)), 7. März 2017 (siehe unter I. 1. Buchst. b)) und 2. Februar 2017 (siehe unter I. 1. Buchst. c)) wohnte der Angeklagte in P. und verzog erst am 21. Dezember 2017 (wieder) nach S. .

3. Gewichtige Gründe, die für die hier gebotene gemeinsame Verhandlung und Entscheidung der vorgelegten Verfahren (2 ARs 352/18, 2 ARs 353/18, 2 ARs 354/18 und 2 ARs 355/18) durch das Amtsgericht - Jugendschöffengericht - Paderborn sprechen, liegen nicht vor. Der Generalbundesanwalt hat in seinen Zuschriften vom 19. November 2018 insoweit ausgeführt:

„Der Abgabe steht insbesondere nicht entgegen, dass der Angeklagte seinen Aufenthalt während des Verlaufs des Verfahrens 2 ARs 355/18 wiederholt wechselte. Bei einem mehrfachen Aufenthaltswechsel eines Angeklagten ist eine wiederholte Abgabe nach § 42 Abs. 3 JGG möglich. Der Wortlaut des Gesetzes verbietet eine weitere Übertragung nicht. Für ihre Zulässigkeit spricht entscheidend der Zweck des § 42 Abs. 3 JGG. Er will den im Jugendstrafverfahren wichtigen Gedanken der Entscheidungsnähe weitgehend berücksichtigen. Dies kann aber nur erreicht werden, wenn auch bei einem neuen Aufenthaltswechsel die weitere Übertragung des Verfahrens möglich ist. Wird aber die Zulässigkeit einer solchen wiederholten Übertragung bejaht, so steht dem nicht entgegen, dass das Verfahren unter Umständen wieder an das Gericht zurückübertragen wird, von dem es vorher abgegeben worden ist (vgl. BGH, Beschluss vom 13. Oktober 1959 - 2 ARs 55/59 -, BGHSt 13, 284 ff. […]).

Der Angeklagte ist hinsichtlich der Tatvorwürfe vom 21. Oktober 2016 (2 ARs 354/18; Tatort: P.) und vom 7. Januar 2017 (2 ARs 352/18; Tatort: P.) geständig, so dass zu diesen Tatvorwürfen eine Zeugenvernehmung nicht zwingend erforderlich ist. Zur Aufklärung der Tatvorwürfe vom 10. Januar 2017 (2 ARs 352/18; Tatort: P.) und 7. März 2017 (2 ARs 353/18; Tatort: P.) sind Zeugen zu vernehmen, die sich schwerpunktmäßig im Zuständigkeitsbereich des Amtsgerichts Paderborn aufhalten. Die zur Aufklärung des Tatvorwurfs vom 20. August 2015 (2 ARs 355/18; Tatort: S.) zu vernehmenden Zeugen halten sich im Zuständigkeitsbereich des Amtsgerichts Sömmerda auf, für dessen Jugendschöffengerichtsverfahren das Amtsgericht Erfurt zuständig ist. Auch der Angeklagte hat seinen Aufenthalt im Zuständigkeitsbereich des Amtsgerichts - Jugendschöffengericht - Erfurt. […].“

Dem tritt der Senat bei. Diese Zweckmäßigkeitserwägungen sprechen für eine Übertragung der Zuständigkeit auf das Amtsgericht - Jugendschöffengericht - Erfurt.

HRRS-Nummer: HRRS 2019 Nr. 286

Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner