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HRRS-Nummer: HRRS 2015 Nr. 1069

Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 2 StR 115/15, Urteil v. 12.08.2015, HRRS 2015 Nr. 1069


BGH 2 StR 115/15 - Urteil vom 12. August 2015 (LG Rostock)

Unterlassene Hilfeleistung (andere Straftat als Unglücksfall).

§ 323c StGB

Entscheidungstenor

1. Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Rostock vom 16. Oktober 2014, soweit es den Angeklagten W. betrifft, mit den Feststellungen aufgehoben.

2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels der Staatsanwaltschaft, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten vom Vorwurf der Freiheitsberaubung und Beihilfe zur gefährlichen Körperverletzung freigesprochen. Hiergegen richtet sich die auf die Sachrüge gestützte Revision der Staatsanwaltschaft. Das Rechtsmittel hat Erfolg.

I.

1. Nach den Feststellungen des Landgerichts wohnten der Angeklagte W., der Mitangeklagte S. und der Geschädigte N. in einer Obdachlosenunterkunft in R. Der weitere Mitangeklagte Sc. hatte eine eigene Wohnung. Nachdem sich die vier Männer in der Nähe eines Einkaufsmarktes getroffen hatten, schlug der Angeklagte Sc. vor, den Abend in seiner Wohnung zu verbringen. Dort sollte der am Folgetag bevorstehende Geburtstag des Angeklagten W. in der Nacht gefeiert werden. Der Angeklagte Sc. kaufte einen Kasten Bier und alle begaben sich in seine Wohnung, die aus einem Wohnzimmer mit Küchenzeile, einem Bad, Flur und Balkon bestand. Die vier Männer tranken das mitgebrachte Bier. Zwischenzeitlich erschien ein Bekannter des Angeklagten Sc., der Zeuge F., der stark angetrunken war und alsbald einschlief.

In der Nacht kam es zu einer Auseinandersetzung zwischen dem Angeklagten Sc. und dem Geschädigten N., und zwar möglicherweise deshalb, weil der Geschädigte den Inhalt eines Aschenbechers und Bier in der Wohnung verschüttet hatte. Der Angeklagte Sc. versetzte dem Geschädigten einen kräftigen Faustschlag ins Gesicht. Dadurch entstand eine Blutblase, die der Geschädigte im Bad öffnete, wodurch das Bad verschmutzt wurde. Er wollte dann die Wohnung verlassen, wurde aber von dem Angeklagten Sc. daran gehindert, indem dieser ihn anschrie und dazu anwies, sich in eine Ecke des Wohnzimmers zu setzen und nicht weg zu bewegen. Aus Angst vor weiteren Misshandlungen kam der Geschädigte dieser Aufforderung nach. In der Folgezeit versetzte der Angeklagte Sc. dem Geschädigten immer wieder Schläge gegen Kopf und Körper und trat ihn wiederholt mit den Füßen, an denen er zunächst Turnschuhe trug. Als das mitgebrachte Bier ausgetrunken war, verließ der Angeklagte W., der sich an den Misshandlungen nicht beteiligt hatte, die Wohnung des Angeklagten Sc. auf dessen Geheiß, um Bier zu kaufen. Dafür hatte ihm der Angeklagte Sc. Geld ausgehändigt. Sc. öffnete mit seinem Wohnungsschlüssel die Tür, ließ W. hinaus und schloss die Tür hinter ihm wieder ab. Nachdem die von dem Angeklagten W. besorgten Bierflaschen geleert waren, wiederholte sich der Vorgang, bei dem der Angeklagte W. erneut für etwa eine halbe Stunde die Wohnung verließ, um weiteres Bier zu kaufen. Inzwischen misshandelte der Angeklagte Sc. den Geschädigten weiter, um sich an ihm abzureagieren und ihn zu erniedrigen. Er versetzte dem Geschädigten Schläge und Tritte. Dazu wechselte er das Schuhwerk und zog Arbeitsschuhe an, mit denen er den Geschädigten gegen Kopf und Oberkörper trat. Dabei zerbrach die Zahnbrücke des Geschädigten. Im Verlauf des Geschehens wickelte der Angeklagte Sc. dem Geschädigten den Gürtel eines Bademantels um den Hals und zog kräftig zu, sodass es zweimal knackte und der Geschädigte keine Luft mehr bekam. Auch holte der Angeklagte Sc. eine Schere herbei und hielt sie dem Geschädigten drohend vor das Gesicht. Weil der Geschädigte blutete, forderte ihn der Angeklagte Sc. auf, ins Bad zu gehen, einen Lappen zu holen und das Blut vom Boden aufzuwischen. Der Angeklagte S. begleitete den Geschädigten und bemerkte, man könne ihn in die Badewanne legen und dort „ausbluten“ lassen. Darauf verließ der Geschädigte völlig verängstigt das Bad. Der Angeklagte S. versetzte ihm einen kräftigen Faustschlag ins Gesicht. In seiner Verzweiflung nahm der Geschädigte ein Küchenmesser, hielt es sich selbst an den Hals und erklärte: „Die Sache könnt ihr dann ja den Bullen erklären“. Der Angeklagte S. machte den Angeklagten Sc. darauf aufmerksam, welcher dem Geschädigten das Messer wegnahm.

Der Angeklagte Sc. verlangte von dem Geschädigten die Zahlung von 500 Euro und unterstrich sein Verlangen durch Schläge mit der flachen Hand ins Gesicht. Als der Geschädigte erklärte, dass er nicht über so viel Geld verfüge, verlangte der Angeklagte Sc. eine Ratenzahlung. Nachdem der Geschädigte bemerkte, dass er auch dazu nicht in der Lage sei, holte der Angeklagte Sc. einen Notizblock, schrieb auf die erste Seite: "200 € am 31.03.14" und forderte den Geschädigten dazu auf, dies zu unterschreiben. Der Geschädigte unterschrieb mit seinem Spitznamen „M. ", worauf ihm Sc. erneut einen Schlag ins Gesicht versetzte und ihn anschrie, er solle mit seinem richtigen Namen unterschreiben. Dem folgte der Geschädigte aus Angst vor weiteren Misshandlungen. Der Angeklagte Sc. legte den Notizblock dann auf den Wohnzimmertisch und beruhigte sich.

Gegen 06.00 Uhr am Morgen des 20. März 2014 erwachte der Zeuge F. und erklärte, er müsse zur Arbeit gehen. Der Angeklagte Sc. händigte ihm einen zweiten Wohnungsschlüssel aus und schloss mit seinem Schlüssel die Wohnungstür auf, um F. hinauszulassen. Diese Ablenkung nutzte der Geschädigte, um auf den Balkon zu fliehen. Von dort ließ er sich aus einer Höhe von etwa zwölf Metern am Regenrohr herunterrutschen, wobei er Brandverletzungen an den Händen davontrug.

2. Die Strafkammer hat den Angeklagten W. vom Vorwurf der Beihilfe zur gefährlichen Körperverletzung freigesprochen. Sie habe seine Beteiligung an den Verletzungshandlungen nicht sicher feststellen können, denn es sei unklar geblieben, ob er die Handlungen der Mitangeklagten Sc. und S., von einer Ohrfeige zu Beginn des Tatgeschehens abgesehen, wahrgenommen habe. Nicht auszuschließen sei, dass sich die Misshandlungen in der Zeit seiner zweimaligen Abwesenheit zugetragen haben. Der Angeklagte W. habe sich dahin eingelassen, dass er die Misshandlungen nicht wahrgenommen habe. Der Geschädigte habe nur bekundet, der Angeklagte W. hätte die Tätigkeiten nach seiner Einschätzung bemerkt haben müssen. Das Landgericht hat ergänzt, selbst wenn der Angeklagte W. die Misshandlungen miterlebt hätte, genüge dies nicht dazu, ihm die fremden Handlungen zuzurechnen. Weil es zur Anwesenheit des Angeklagten W. bei den Tätlichkeiten der Mitangeklagten keine sicheren Feststellungen habe treffen können, komme auch eine Strafbarkeit wegen unterlassener Hilfeleistung nicht in Betracht. Mit einer möglichen Strafbarkeit des Angeklagten wegen Freiheitsberaubung hat sich die Strafkammer nicht befasst.

II.

Die Revision der Staatsanwaltschaft gegen den Freispruch zuungunsten des Angeklagten W. ist begründet. Das Landgericht hat sich schon unzureichend mit der Frage auseinandergesetzt, ob dem Angeklagten W. eine unterlassene Hilfeleistung gemäß § 323c StGB vorzuwerfen ist.

Daneben könnte auch eine Beteiligung an der Freiheitsberaubung und gefährlichen Körperverletzung durch den Angeklagten durch aktives Tun in Frage kommen, indem er den Haupttätern Bier holte.

Das Landgericht ist jedenfalls bezüglich der unterlassenen Hilfeleistung von einem falschen rechtlichen Maßstab ausgegangen. Selbst wenn der Angeklagte W. durch seine zeitweilige Abwesenheit vom Tatort die Verletzungshandlungen im engeren Sinn nicht miterlebt haben sollte, konnte ihm nach den Umständen kaum verborgen geblieben sein, dass der Angeklagte Sc. die Wohnung abgeschlossen hatte, so dass die Anwesenden sie nicht ohne Weiteres verlassen konnten. War der Geschädigte verletzt und drohten ihm weitere Verletzungen, so konnte er sich dem nicht selbst durch Verlassen der Wohnung entziehen. Dieses Hindernis war dem Angeklagten W. bekannt. Schließlich hatte er im Verlauf des Geschehens die Wohnung zweimal selbst verlassen, wobei die Tür jeweils aufgeschlossen und nach ihm wieder verschlossen wurde, und war jeweils wieder hereingelassen worden. Er wusste auch, dass der Geschädigte während des stundenlangen Geschehens in einer Ecke des Zimmers sitzen musste und sich nicht wegbewegen durfte. Außerdem konnten ihm die sichtbaren Verletzungen des Geschädigten in Form von blutenden Wunden, Schwellungen im Gesicht und dem Herausbrechen der Prothese der vorderen Schneidezähne nicht verborgen geblieben sein, auch wenn er die Handlungen der Mitangeklagten, die dazu geführt hatten, nicht miterlebt haben sollte. Es liegt daher nahe, dass ihm die Umstände bekannt waren, aus denen sich das Vorliegen eines Unglücksfalls ergibt.

Auch eine Straftat kann für das Opfer ein Unglücksfall im Sinne des § 323c StGB sein. Als drohender Schaden genügt zwar nicht jede Körperverletzung, sondern es muss das Risiko einer erheblichen Verletzung gegeben sein (BGH, Urteil vom 12. Januar 1992 - 1 StR 792/92, BGHR StGB § 323c Unglücksfall 3). Nach den Feststellungen des Landgerichts erscheint es aber nahe liegend, dass auch aus der Perspektive des Angeklagten W. eine solche Situation vorlag, in welcher dem bereits verletzten und in der verschlossenen Wohnung eingesperrten Geschädigten weiterer Schaden dadurch drohte, dass er sich nicht wegbewegen durfte und entfernen konnte.

Der Angeklagte W. war - im Gegensatz zu den anderen Angeklagten - nach eigenem Bekunden nicht alkoholisiert. Jedenfalls in den Phasen des lange andauernden Geschehens, in denen er sich nicht in der Wohnung des Angeklagten Sc. aufhielt, hatte er auch die zumutbare Möglichkeit, Hilfe für den Geschädigten herbeizuholen. Da er dies nicht getan hat, kann er sich der unterlassenen Hilfeleistung schuldig gemacht haben.

Der neue Tatrichter wird deshalb insbesondere zu prüfen haben, ob er das Vorliegen eines Unglücksfalls für den Geschädigten wahrgenommen und ihm trotz gegebenenfalls erkannter Erforderlichkeit und Zumutbarkeit der Hilfeleistung tatsächlich nicht geholfen hat.

HRRS-Nummer: HRRS 2015 Nr. 1069

Externe Fundstellen: NStZ-RR 2015, 375

Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede