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HRRS-Nummer: HRRS 2015 Nr. 227

Bearbeiter: Christian Becker

Zitiervorschlag: BGH, StB 25/14, Beschluss v. 18.12.2014, HRRS 2015 Nr. 227


BGH StB 25/14 - Beschluss vom 18. Dezember 2014

Fortdauer der bereits mehr als fünf Jahre andauernden Untersuchungshaft (dringender Tatverdacht der Rädelsführerschaft in einer ausländischen terroristischen Vereinigung; Beurteilung des dringenden Tatverdachts während laufender Hauptverhandlung; Fluchtgefahr; Verhältnismäßigkeit; Verhältnis der Haftdauer zur erwarteten Strafe; Beschleunigungsgebot in Haftsachen; Verzögerung durch Verteidigerverhalten).

§ 129a StGB; § 129b Abs. 1 StGB; § 112 StPO; § 116 StPO; § 121 StPO; Art. 5 Abs. 3 EMRK

Leitsätze des Bearbeiters

1. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ist nicht nur für die Anordnung, sondern auch für die Dauer der Untersuchungshaft von Bedeutung. Er verlangt, dass die Dauer der Untersuchungshaft nicht außer Verhältnis zur erwarteten Strafe steht, und setzt ihr auch unabhängig vom Tatvorwurf und von der Straferwartung Grenzen. Das Gewicht des Freiheitsanspruchs vergrößert sich gegenüber dem Interesse an einer wirksamen Strafverfolgung regelmäßig mit zunehmender Dauer der Untersuchungshaft.

2. Das verfassungsrechtlich verankerte Beschleunigungsgebot in Haftsachen verlangt, dass die Strafverfolgungsbehörden und Strafgerichte alle möglichen und zumutbaren Maßnahmen ergreifen, um die notwendigen Ermittlungen mit der gebotenen Schnelligkeit abzuschließen und eine gerichtliche Entscheidung über die einem Beschuldigten vorgeworfenen Taten herbeizuführen. An den zügigen Fortgang des Verfahrens sind dabei umso strengere Anforderungen zu stellen, je länger die Untersuchungshaft schon andauert.

3. Eine Verzögerung des Verfahrensabschlusses kann - neben dem Umfang des Prozessstoffes - auch an dem Verhalten der Verteidigung liegen, die Zeugen über mehrere Verhandlungstage hinweg befragt sowie eine Vielzahl von Beweis- und sonstigen Verfahrensanträgen gestellt hat, deren sachgerechte Bearbeitung Zeit in Anspruch nimmt und das Verfahren verlängert. Diese Umstände sind bei der Prüfung der Fortdauer der Untersuchungshaft zu berücksichtigen, ohne dass es insoweit entscheidend darauf ankommt, ob es sich noch um sachdienliches Verteidigungsverhalten handelt oder die Grenzen zulässiger Verteidigung bereits überschritten sind.

Entscheidungstenor

Die Beschwerde des Angeklagten gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Stuttgart vom 21. November 2014 wird verworfen.

Der Beschwerdeführer hat die Kosten seines Rechtsmittels zu tragen.

Gründe

I. Der Angeklagte befindet sich seit dem 17. November 2009 in Untersuchungshaft, zunächst aufgrund des Haftbefehls des Ermittlungsrichters des Bundesgerichtshofs vom 16. November 2009 (4 BGs 31/09), sodann, nachdem der Generalbundesanwalt unter dem 7. Dezember 2010 Anklage zum Oberlandesgericht Stuttgart erhoben hatte, aufgrund des diesen ersetzenden Haftbefehls des Oberlandesgerichts Stuttgart vom 4. Januar 2011. Der Senat hat im Haftprüfungsverfahren nach §§ 121 ff. StPO mit Beschlüssen vom 17. Juni 2010 (AK 4/10), 28. Oktober 2010 (AK 14/10) und 8. Februar 2011 (AK 3/11) jeweils die Fortdauer der Untersuchungshaft angeordnet. Das Oberlandesgericht hat mit Beschluss vom 1. März 2011 die Anklage zugelassen und das Hauptverfahren eröffnet. Dem Angeklagten werden Straftaten vorgeworfen, die er im Zusammenhang mit seiner Tätigkeit als 1. Vizepräsident der "Forces Démocratiques de Libération de Rwanda" (im Folgenden: FDLR), einer vor allem im Osten der Demokratischen Republik Kongo (im Folgenden: DRC) operierenden paramilitärischen Milizenorganisation, begangen haben soll. Die Hauptverhandlung hat am 4. Mai 2011 begonnen und dauert derzeit noch an. Der Angeklagte hat während der laufenden Hauptverhandlung mehrfach mit unterschiedlicher Begründung beantragt, den Haftbefehl aufzuheben, hilfsweise außer Vollzug zu setzen. Diese Anträge hat das Oberlandesgericht durch Beschlüsse vom 21. Dezember 2011, 29. Juni 2012, 26. November 2012, 24. Juni 2013, 9. Dezember 2013 und 14. August 2014 zurückgewiesen. Insbesondere in seinem Beschluss vom 9. Dezember 2013 hat es ausführlich dargelegt, dass - insoweit über den Anklagevorwurf und die Wertung in dem Haftbefehl vom 4. Januar 2011 hinaus - nach dem Ergebnis der bisherigen Beweisaufnahme gegen den Angeklagten der dringende Tatverdacht nicht nur der Mitgliedschaft, sondern der Rädelsführerschaft in einer terroristischen Vereinigung im Ausland bestehe. Danach gehörte der Angeklagte nach dem zu würdigenden Beweisstoff bis zu seiner Verhaftung im November 2009 zu den Führungspersonen der FDLR, trat als solche nach außen und innen in Erscheinung und hatte eine Stelle mit beträchtlichem Einfluss innerhalb der Organisation inne. Er war bereits bei der Gründungsversammlung der FDLR anwesend und in der Folgezeit als deren Repräsentant in Europa tätig. 2005 wurde er auf Vorschlag des Mitangeklagten, des Präsidenten der FDLR Dr. M., zum 1. Vizepräsidenten gewählt. Er war den höheren FDLR-Mitgliedern in der Regel als einer der Führer der Vereinigung bekannt. Seine Tätigkeit war vor allem für die Außenwirkung der Organisation besonders wichtig. Als 1. Vizepräsident war er der Vertreter des Mitangeklagten und hatte diesen im Falle der Abwesenheit oder sonstigen Verhinderung zu vertreten. Er war hierzu auch bereit, falls dieser seine Absicht, "sich in den Wald zu begeben," verwirklicht hätte. Es wurde im Jahre 2009 konkret besprochen, in welcher Weise sich der Angeklagte hierauf vorbereiten und welche Aufgaben er schon damals zur Vorbereitung eines reibungslosen Führungswechsel übernehmen solle. Er hatte den Mitangeklagten bereits bei dessen früheren Besuchen in der DRC vertreten. Als 1. Vizepräsident war er Mitglied des Haupt- sowie des Exekutivkomitees der FDLR und besetzte somit eine Schlüsselposition in der Organisation. Das Hauptkomitee traf die wesentlichen inhaltlichen und personellen Entscheidungen und war deshalb das wichtigste tatsächlich tagende Entscheidungsorgan der FDLR. Der Angeklagte bereitete etwa die Themen der Hauptkomitee-Versammlung im Januar 2009 vor und formulierte sie aus. Er wirkte auch im Übrigen als Mitglied des aus nur vier Personen bestehenden europäischen Teils des Hauptkomitees in enger Abstimmung mit den im Osten der DRC tagenden weiteren Mitgliedern an den Entscheidungen und Empfehlungen mit. Darüber hinaus war der Angeklagte etwa für die Kontrolle der Aktivitäten, die mit politischer Mobilisation, Finanzen, Diplomatie und Verwaltung im Zusammenhang standen, zuständig und insoweit auch tätig. Bei Veranstaltungen trat er öffentlich als 1. Vizepräsident auf. Er beteiligte sich an der Ausarbeitung von Gesetzestexten und sonstigen Texten der FDLR und verwaltete die von ihm entworfene Homepage der Organisation. Er beschäftigte sich intensiv mit der Finanzierung der FDLR und nahm auf deren Presserklärungen Einfluss. Er arbeitete insgesamt eng mit dem Mitangeklagten zusammen, der der Meinung des Angeklagten Gewicht beimaß und aufgrund der großen faktischen Bedeutung des vom Angeklagten ausgeübten Amtes in der Organisation keine Zweifel hatte, dass der Angeklagte als Präsident akzeptiert werde, falls er selbst an der Ausübung dieser Funktion gehindert sein sollte. In seinem Beschluss vom 14. August 2014 hat das Oberlandesgericht unter erneuter vorläufiger Würdigung der Ergebnisse der bisherigen Beweisaufnahme u.a. gestützt auf zahlreiche Zeugenaussagen substantiiert dargelegt, dass die FDLR nach dem Stand der Beweisaufnahme als terroristische Vereinigung im Ausland anzusehen sei. Danach waren ihr Zweck bzw. ihre Tätigkeiten auf die Begehung von Straftaten nach § 129a Abs. 1 Nr. 1 StGB gerichtet, insbesondere Plünderungen anlässlich sogenannter Verpflegungsoperationen sowie Tötungen von Zivilpersonen und Inbrandsetzen von deren Häusern, geschehen etwa bei den Angriffen auf Kipopo, Mianga, Busurungi und Manje. Wegen der weiteren Einzelheiten nimmt der Senat auf den Inhalt dieser beiden Beschlüsse und aller weiteren genannten Entscheidungen Bezug.

Die Verteidigung des Angeklagten hat mit Schriftsatz vom 5. November 2014 erneut die Aufhebung des Haftbefehls, hilfsweise dessen Außervollzugsetzung, beantragt. Zur Begründung hat sie im Wesentlichen ausgeführt, ein weiterer Vollzug der Untersuchungshaft sei mit Blick auf eine mögliche Straferwartung sowie die zu erwartende weitere Verfahrensdauer, für die der Angeklagte nicht verantwortlich sei, nicht mehr verhältnismäßig. Der Generalbundesanwalt hat sich mit Schriftsatz vom 18. November 2014 gegen den Antrag gewandt und dabei Ausführungen zum dringenden Tatverdacht und den Haftgründen gemacht. Die weitere Untersuchungshaft stehe zur Bedeutung der Sache und der zu erwartenden Strafe nicht außer Verhältnis. Das Oberlandesgericht hat den Antrag der Verteidigung mit Beschluss vom 21. November 2014 zurückgewiesen. Hinsichtlich des dringenden Tatverdachts hat es auf seine bisherigen Haftentscheidungen, insbesondere die Beschlüsse vom 9. Dezember 2013 und 14. August 2014, Bezug genommen. Die weitere Beweisaufnahme sei nicht geeignet, den dringenden Tatverdacht zu vermindern oder gar zu entkräften. Es bestehe nach wie vor der Haftgrund der Fluchtgefahr. Die weitere Untersuchungshaft sei - auch unter Berücksichtigung ihrer bisherigen Dauer - vor allem im Hinblick auf die Komplexität der Sache sowie die zu erwartende Strafe noch gerechtfertigt. Diese werde im Falle der Verurteilung nach derzeitigem Stand sehr wahrscheinlich zumindest im mittleren Bereich des Strafrahmens des § 129a Abs. 4 StGB liegen, der von drei bis fünfzehn Jahren Freiheitsstrafe reicht. Das Verfahren sei an den bisherigen 265 Verhandlungstagen, die grundsätzlich zweimal wöchentlich und nahezu durchgängig ganztätig stattfänden, trotz seiner Komplexität und seines Auslandsbezugs mit den daraus resultierenden zahlreichen Rechtshilfeersuchen und logistischen Herausforderungen von Seiten des Oberlandesgerichts mit der gebotenen Beschleunigung betrieben worden. Verfahrensverzögerungen, etwa wegen der notwendigen Bestellung eines weiteren Pflichtverteidigers für den Mitangeklagten Dr. M., weil einer von dessen Verteidigern seit Mai 2014 nicht mehr an der Hauptverhandlung teilgenommen hatte, seien auch auf das prozessuale Verhalten des Angeklagten Mu. und seiner Verteidigung zurückzuführen, die zum Beispiel in diesem Zusammenhang mehrere mit der Besorgnis der Befangenheit begründete Ablehnungsgesuche gestellt hätten. Nach Einschätzung des Oberlandesgerichts sei die Vernehmung von Zeugen sowie die Einführung von Erkenntnissen aus der Überwachung der Telekommunikation weitestgehend abgeschlossen. Es sei davon auszugehen, dass die restliche Beweisaufnahme sowie die Bescheidung zahlreicher Beweisanträge der Verteidigung beider Angeklagter Anfang 2015 beendet werden könne.

Mit ihrer Beschwerde vom 24. November 2014, ergänzend begründet unter dem 28. November 2014, macht die Verteidigung weiterhin vor allem geltend, der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit stehe dem weiteren Vollzug der Untersuchungshaft entgegen. Auch sei die Begründungstiefe der Entscheidung des Oberlandesgerichts unzureichend. Das Verteidigungsverhalten sei kein ausreichender Grund für die Fortdauer der Haft. Die Prognose des Oberlandesgerichts bezüglich der weiteren Dauer der Hauptverhandlung sei in der Sache unzutreffend und für die Untersuchungshaft ohne Belang. Das Oberlandesgericht hat der Beschwerde gemäß Vermerk vom 25. November 2014 nicht abgeholfen und dabei unter Anführung konkreter Vorgänge u.a. darauf hingewiesen, dass eine größere Zeiträume umfassende Ankündigung des Beweisprogramms vor allem aufgrund des Verhaltens der Verteidigung weder sinnvoll noch angezeigt sei. Der Generalbundesanwalt hat beantragt, die Beschwerde zu verwerfen. Er ist u.a. der Ansicht der Verteidigung entgegengetreten, wonach der Tatvorwurf sich im Verlauf der Hauptverhandlung reduziert habe, und hat im Einzelnen dargelegt, dass die weitere Untersuchungshaft nach wie vor zu der Bedeutung der Sache und der zu erwartenden Strafe nicht außer Verhältnis stehe.

II. Die zulässige Beschwerde bleibt in der Sache ohne Erfolg.

1. Gegen den Angeklagten besteht der - von der Verteidigung in diesem Beschwerdeverfahren nicht substantiiert angegriffene - dringende Tatverdacht der Rädelsführerschaft in einer ausländischen terroristischen Vereinigung (§ 129a Abs. 1 Nr. 1, Abs. 4, § 129b Abs. 1 StGB).

a) Nach der Rechtsprechung des Senats unterliegt die Beurteilung des dringenden Tatverdachts, die das erkennende Gericht während laufender Hauptverhandlung vornimmt, im Haftbeschwerdeverfahren nur in eingeschränktem Umfang der Nachprüfung durch das Beschwerdegericht (BGH, Beschlüsse vom 28. August 2014 - StB 22/14, juris Rn. 5; 8. Oktober 2012 - StB 9/12, NStZ-RR 2013, 16, 17; 7. August 2007 - StB 17/07, juris Rn. 5; 19. Dezember 2003 - StB 21/03, BGHR StPO § 112 Tatverdacht 3 mwN). Allein das Gericht, vor dem die Beweisaufnahme stattfindet, ist in der Lage, deren Ergebnisse aus eigener Anschauung festzustellen und zu würdigen sowie auf dieser Grundlage zu bewerten, ob der dringende Tatverdacht nach dem erreichten Verfahrensstand noch fortbesteht oder dies nicht der Fall ist. Das Beschwerdegericht hat demgegenüber keine eigenen unmittelbaren Erkenntnisse über den Verlauf der Beweisaufnahme.

b) Bei Anwendung dieses Prüfungsmaßstabs hat das Oberlandesgericht insbesondere in seinem umfangreichen Beschluss vom 14. August 2014 ausreichend dargelegt, dass die Ergebnisse der bisherigen Beweisaufnahme in der Hauptverhandlung einen dringenden Tatverdacht dahin belegen, dass die FDLR im Tatzeitraum eine ausländische terroristische Vereinigung darstellte, deren Zwecke und Tätigkeit darauf gerichtet waren, unter anderem nicht gerechtfertigte Tötungsdelikte zum Nachteil von Zivilisten und damit Katalogtaten nach § 129a Abs. 1 Nr. 1 StGB zu begehen. Darüber hinaus hat es vor allem in seinem Beschluss vom 9. Dezember 2013 ebenfalls in genügender Weise Ausführungen gemacht, welche die Annahme tragen, der Angeklagte habe mit hoher Wahrscheinlichkeit innerhalb der FDLR eine maßgebliche Führungsrolle innegehabt und bestimmenden Einfluss auf die Tätigkeiten der FDLR ausgeübt, mithin als Rädelsführer im Sinne des § 129a Abs. 4 StGB (vgl. BGH, Urteil vom 16. Februar 2012 - 3 StR 243/11, BGHSt 57, 160, 161 f.) gehandelt. Auf diese Entscheidungen nimmt der angefochtene Beschluss in zulässiger Weise Bezug. Die Anforderungen an die Begründungstiefe der in laufender Hauptverhandlung ergehenden Haftentscheidungen sind damit insoweit gewahrt.

2. Das Oberlandesgericht ist weiter zutreffend davon ausgegangen, dass bei dem Angeklagten neben dem Haftgrund des § 112 Abs. 3 StPO auch der Haftgrund der Fluchtgefahr gemäß § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO weiterhin vorliegt. Dem nach wie vor insbesondere aus der erheblichen Straferwartung folgenden erheblichen Fluchtanreiz stehen weiterhin keine ausreichend belastbaren privaten Bindungen und sozialen Beziehungen des Angeklagten in Deutschland gegenüber. Zu berücksichtigen ist dabei etwa die Scheidung des Angeklagten von seiner Ehefrau. Außerdem war er vor seiner Festnahme ohne Arbeit und besitzt in Deutschland keinen gesicherten ausländerrechtlichen Status. Demgegenüber verfügt der Angeklagte aufgrund seiner früheren Betätigung für die FDLR über zahlreiche Kontakte im europäischen und außereuropäischen Ausland, die er dazu nutzen könnte, um sich dem Verfahren zu entziehen. Dieser Wertung stehen die von der Verteidigung vorgetragenen Gesichtspunkte, insbesondere der Umstand, dass der Angeklagte zwei Kinder hat, die in Deutschland leben, nicht entgegen. Die gegebenen Umstände schließen ebenfalls eine Aussetzung des Vollzugs des Haftbefehls nach § 116 Abs. 1 StPO aus.

3. Die Fortdauer der nunmehr bereits mehr als fünf Jahre andauernden Untersuchungshaft ist mit Blick auf die Besonderheiten des vorliegenden Verfahrens immer noch verhältnismäßig (§ 120 Abs. 1 Satz 1 StPO). Insoweit gilt:

a) Bei Anordnung und Fortdauer der Untersuchungshaft ist das in Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG gewährleistete Recht des Einzelnen auf persönliche Freiheit in besonderer Weise zu beachten. Der Entzug der Freiheit eines der Straftat lediglich Verdächtigen ist wegen der Unschuldsvermutung, die ihre Wurzel im Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 3 GG hat und auch in Art. 6 Abs. 2 EMRK ausdrücklich hervorgehoben ist, nur ausnahmsweise zulässig. Dabei muss den vom Standpunkt der Strafverfolgung aus erforderlich und zweckmäßig erscheinenden Freiheitsbeschränkungen der Freiheitsanspruch des noch nicht rechtskräftig verurteilten Angeklagten als Korrektiv gegenübergestellt werden, wobei dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit eine maßgebliche Bedeutung zukommt.

Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ist nicht nur für die Anordnung, sondern auch für die Dauer der Untersuchungshaft von Bedeutung. Er verlangt, dass die Dauer der Untersuchungshaft nicht außer Verhältnis zur erwarteten Strafe steht, und setzt ihr auch unabhängig vom Tatvorwurf und von der Straferwartung Grenzen. Das Gewicht des Freiheitsanspruchs vergrößert sich gegenüber dem Interesse an einer wirksamen Strafverfolgung regelmäßig mit zunehmender Dauer der Untersuchungshaft. Daraus folgt zum einen, dass die Anforderungen an die Zügigkeit der Arbeit in einer Haftsache mit der Dauer der Untersuchungshaft steigen. Zum anderen nehmen auch die Anforderungen an den die Haftfortdauer rechtfertigenden Grund zu.

Das verfassungsrechtlich verankerte Beschleunigungsgebot in Haftsachen verlangt, dass die Strafverfolgungsbehörden und Strafgerichte alle möglichen und zumutbaren Maßnahmen ergreifen, um die notwendigen Ermittlungen mit der gebotenen Schnelligkeit abzuschließen und eine gerichtliche Entscheidung über die einem Beschuldigten vorgeworfenen Taten herbeizuführen. An den zügigen Fortgang des Verfahrens sind dabei umso strengere Anforderungen zu stellen, je länger die Untersuchungshaft schon andauert. Zur Durchführung eines geordneten Strafverfahrens und einer Sicherstellung der späteren Strafvollstreckung kann die Untersuchungshaft deshalb nicht mehr als notwendig anerkannt werden, wenn ihre Fortdauer durch vermeidbare Verfahrensverzögerungen verursacht ist. In diesem Zusammenhang ist zu berücksichtigen, dass der Grundrechtsschutz auch durch die Verfahrensgestaltung zu bewirken ist. Auch das Verfahren der Haftprüfung und Haftbeschwerde muss deshalb so ausgestaltet sein, dass nicht die Gefahr einer Entwertung der materiellen Grundrechtsposition aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 GG besteht. Dem ist vor allem durch erhöhte Anforderungen an die Begründungstiefe von Haftfortdauerentscheidungen Rechnung zu tragen. Die mit Haftsachen betrauten Gerichte haben sich bei der zu treffenden Entscheidung über die Fortdauer der Untersuchungshaft mit deren Voraussetzungen eingehend auseinander zu setzen und diese entsprechend zu begründen. In der Regel sind in jedem Beschluss über die Anordnung der Fortdauer der Untersuchungshaft aktuelle Ausführungen zu dem weiteren Vorliegen ihrer Voraussetzungen, zur Abwägung zwischen dem Freiheitsgrundrecht des Beschuldigten und dem Strafverfolgungsinteresse der Allgemeinheit sowie zur Frage der Verhältnismäßigkeit geboten, weil sich die dafür maßgeblichen Umstände angesichts des Zeitablaufs in ihrem Gewicht verschieben können. Bei der Abwägung zwischen dem Freiheitsanspruch und dem Strafverfolgungsinteresse kommt es in erster Linie auf die durch objektive Kriterien bestimmte Angemessenheit der Verfahrensdauer an, die etwa von der Komplexität der Rechtssache, der Vielzahl der beteiligten Personen oder dem Verhalten der Verteidigung abhängig sein kann. Dies macht eine auf den Einzelfall bezogene Prüfung des Verfahrensablaufs erforderlich.

Zu würdigen sind auch die voraussichtliche Gesamtdauer des Verfahrens und die für den Fall einer Verurteilung konkret im Raum stehende Straferwartung. Die zugehörigen Ausführungen müssen in Inhalt und Umfang eine Überprüfung des Abwägungsergebnisses am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht nur für den Betroffenen selbst, sondern auch für das die Anordnung treffende Fachgericht im Rahmen einer Eigenkontrolle gewährleisten und in sich schlüssig und nachvollziehbar sein (st. Rspr.; vgl. etwa BVerfG, Beschluss vom 17. Januar 2013 - 2 BvR 2098/12 mwN, juris Rn. 39 ff.; BGH, Beschluss vom 19. März 2013 - StB 2/13, juris Rn. 12 ff.).

b) Daran gemessen ist der Haftbefehl gegen den Angeklagten aufrechtzuerhalten und die Untersuchungshaft weiter zu vollziehen.

aa) Gegen den Angeklagten besteht der dringende Verdacht einer gewichtigen Straftat. Diese ist mit einer Freiheitsstrafe von drei bis fünfzehn Jahren bedroht und wiegt auch mit Blick auf die konkret gegebenen Umstände schwer.

bb) Die besondere rechtliche und tatsächliche Komplexität des vorliegenden Verfahrens liegt auf der Hand: Der Prozess ist einer der ersten in der Bundesrepublik Deutschland, der Vorwürfe nach dem Völkerstrafgesetzbuch zum Gegenstand hat, sodass sich eine gesicherte Rechtsprechung zu den sich stellenden Rechtsfragen noch nicht gebildet hat. In tatsächlicher Hinsicht sind zwei die Vorwürfe zumindest weitgehend bestreitende Angeklagte betroffen, so dass deren vielfältige, in einem längeren Zeitraum ausgeübte Tätigkeiten für die FDLR aufzuklären sind. Daneben ist über zahlreiche Geschehnisse Beweis zu erheben, die sich überwiegend im Osten der DRC ereigneten. Die erheblichen organisatorischen Schwierigkeiten, die mit einer solchen umfangreichen Beweisaufnahme verbunden sind, sind ebenfalls offensichtlich. So müssen die Zeugen entweder in aufwändiger Weise zum Prozessort nach Stuttgart gebracht und dort vernommen werden, oder ihre Aussagen in anderer Weise, etwa durch in ihrer Heimat in Afrika durchzuführende Videovernehmungen, in die Hauptverhandlung eingeführt werden. Dass die damit verbundenen Rechtshilfeangelegenheiten besonders zeitintensiv sind und die Hauptverhandlung verlängern, liegt ebenfalls in der Natur der Sache. Bereits diese Umstände erfordern eine außergewöhnlich zeit- und arbeitsintensive Vor- und Nachbereitung der Hauptverhandlungstermine. Trotz dieser erheblichen Belastungen für die Verfahrensbeteiligten sind konkrete Anzeichen dafür, dass das Oberlandesgericht, das seit Prozessbeginn regelmäßig mehrmals wöchentlich verhandelt hat, das Beschleunigungsgebot missachtet hätte, weder mit der Beschwerde vorgetragen noch sonst ersichtlich. Der Senat verweist insoweit auf seine Ausführungen in dem Beschluss vom 8. Oktober 2012 (StB 9/12, juris Rn. 15 f.), die nach wie vor gelten. Das Oberlandesgericht ist vielmehr ersichtlich darum bemüht, das Verfahren in einem überschaubaren Zeitraum abzuschließen. Dass dies bisher trotz mehr als drei Jahre andauernder Hauptverhandlung nicht gelungen ist, liegt neben dem Umfang des Prozessstoffes jedenfalls auch an dem Verhalten der Verteidigung, die etwa Zeugen über mehrere Verhandlungstage hinweg befragt sowie eine Vielzahl von Beweis- und sonstigen Verfahrensanträgen gestellt hat, deren sachgerechte Bearbeitung Zeit in Anspruch nimmt und das Verfahren verlängert. Diese Umstände sind bei der Prüfung der Fortdauer der Untersuchungshaft sowohl nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG, Beschluss vom 23. Januar 2008 - 2 BvR 2652/07, StV 2008, 198 f.), als auch nach derjenigen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR, Entscheidung vom 6. November 2014 - Application no. 67522/09 Ereren gegen Deutschland, Rn. 61) und des Senats (vgl. auch insoweit etwa schon den in diesem Verfahren ergangenen Beschluss vom 8. Oktober 2012 - StB 9/12, juris Rn. 15 f.) zu berücksichtigen, ohne dass es hier insoweit entscheidend darauf ankommt, ob es sich noch um sachdienliches Verteidigungsverhalten handelt oder die Grenzen zulässiger Verteidigung bereits überschritten sind. Der Senat enthält sich deshalb hier einer diesbezüglichen Bewertung der ihm in diesem Beschwerdeverfahren unterbreiteten, von den Verfahrensbeteiligten, insbesondere dem Generalbundesanwalt und der Verteidigung, unterschiedlich beurteilten Vorgänge.

cc) Soweit weiter das voraussichtliche Ende des Verfahrens von Bedeutung ist (vgl. etwa BGH, Beschluss vom 16. April 2013 - StB 6/13, Rn. 11), ist anzunehmen, dass die Prognose des Oberlandesgerichts, die Hauptverhandlung zu Beginn des Jahres 2015 abschließen zu können, bei allen Unwägbarkeiten, die mit Prognosen notwendigerweise verbunden sind, auf einer tragfähigen Grundlage beruht. Dies gilt auch mit Blick darauf, dass das Oberlandesgericht mittlerweile Verhandlungstermine bis zu den Osterferien bestimmt hat, allerdings ohne bis dahin ein vollständiges Beweisprogramm vorzugeben.

dd) Schließlich ist die Gesamtdauer der Untersuchungshaft auch vor dem Hintergrund der im Raum stehenden Straferwartung und einer möglichen Reststrafenaussetzung zur Bewährung noch nicht unverhältnismäßig. Das Oberlandesgericht hat insoweit zuletzt ausgeführt, die zu erwartende Strafe bewege sich zumindest im mittleren Bereich des Strafrahmens des § 129a Abs. 4 StGB; nach dieser vorläufigen und nachvollziehbaren Einschätzung liegt sie mithin zumindest bei etwa neun Jahren. Anhaltspunkte dafür, dass die besonderen Voraussetzungen für eine Aussetzung des Strafrests bereits nach deren hälftiger Verbüßung (§ 57 Abs. 2 StGB) vorliegen, sind nicht ersichtlich. Somit käme allenfalls eine Aussetzung nach Verbüßung von zwei Dritteln der Strafe (§ 57 Abs. 1 StGB) in Betracht. Der hierfür maßgebende Zeitpunkt ist noch nicht erreicht.

HRRS-Nummer: HRRS 2015 Nr. 227

Externe Fundstellen: NStZ-RR 2015, 221

Bearbeiter: Christian Becker