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HRRS-Nummer: HRRS 2006 Nr. 153

Bearbeiter: Ulf Buermeyer

Zitiervorschlag: BGH, 2 StR 454/05, Urteil v. 18.01.2006, HRRS 2006 Nr. 153


BGH 2 StR 454/05 - Urteil vom 18. Januar 2006 (LG Hanau)

Erhebliche Verminderung der Steuerungsfähigkeit (Begründungsanforderungen: psychische Störung; Einordnung unter die Eingangsmerkmale; Beeinträchtigung bei der konkreten Tat); besonders schwere Fälle des Kindesmissbrauchs (Penetration; Tatfolgen: psychiatrische Behandlung).

§ 20 StGB; § 21 StGB; § 176 a.F. StGB

Entscheidungstenor

1. Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Hanau vom 15. Juni 2005 im Strafausspruch mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben.

2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Jugendschutzkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in 211 Fällen, wegen Körperverletzung und wegen Bedrohung zu der zur Bewährung ausgesetzten Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt. Die Staatsanwaltschaft rügt mit ihrer wirksam auf den Strafausspruch beschränkten Revision gegen dieses Urteil die Verletzung formellen und materiellen Rechts. Das Rechtsmittel hat mit der Sachrüge Erfolg, so dass es auf die Verfahrensrüge nicht ankommt.

Der Strafausspruch hält der sachlichrechtlichen Prüfung nicht stand.

I.

Das Landgericht hat im Wesentlichen festgestellt:

1. Der damals als Facharzt für Allgemeinmedizin tätige Angeklagte manipulierte von 1994 bis 1997 einmal wöchentlich, das heißt in insgesamt 208 Fällen, an der Scheide seiner sechs- bis zehnjährigen Tochter J. und steckte seinen Finger in ihre Scheide. Die Taten ereigneten sich jeweils beim gemeinsamen Baden des Angeklagten mit seiner Tochter, in einigen Fällen auch im Ehebett des Angeklagten (Fälle II 1).

2. Im Frühjahr 1998 badete der Angeklagte in drei Fällen nackt mit seiner fünfjährigen Tochter D., als die übrigen Familienmitglieder nicht zu Hause waren. Auch bei ihr manipulierte der Angeklagte an der Scheide und führte seinen Finger ein (Fälle II 2).

Beide Töchter wurden durch die Taten des Angeklagten psychisch schwer geschädigt und mussten sich einer Psychotherapie unterziehen.

3. Am 11. Dezember 2004 war der Angeklagte erbost darüber, dass seine Tochter J. ihren Freund in ihrem Zimmer hatte übernachten lassen. Er versetzte seiner 17-jährigen Tochter J. eine brennende Ohrfeige und schlug sie massiv mit den Fäusten, so dass sie u. a. eine Gehirnerschütterung erlitt (Fall II 3).

4. Im Juni 2004 kam es zu einem Streit zwischen dem Angeklagten und seinem 18-jährigen Sohn C., weil der Angeklagte den Motorroller von J. in der Garage beschädigt hatte und sich - wie schon zuvor bei C. - weigerte, für den Schaden aufzukommen. Der Angeklagte holte eine Schusswaffe aus seinem Waffenschrank, steckte sie ein und sagte zu seiner Ehefrau, wenn C. ihn noch einmal "anmosere", werde er ihm "eine drüber braten." Die Ehefrau des Angeklagten nahm diese Drohung ernst und verständigte ihren Sohn C., er solle nicht aus seinem Zimmer kommen, weil der Angeklagte mit der Schusswaffe auf ihn warte.

Das Landgericht hat auf Antrag bzw. mit Zustimmung der Staatsanwaltschaft bei den Taten gegen die Tochter J. (Fälle II 1) die Strafverfolgung auf den Tatzeitraum 1994 bis 1997 begrenzt und jeweils auf das Vergehen des sexuellen Missbrauchs von Kindern (§ 176 Abs. 1 StGB) beschränkt. Auch bei den Taten zum Nachteil der Tochter D. (Fälle II 2) wurde die Strafverfolgung auf den Vorwurf des sexuellen Missbrauchs von Kindern beschränkt.

Für die 211 Fälle des sexuellen Missbrauchs (II 1 und 2) hat das Landgericht jeweils Einzelfreiheitsstrafen von neun Monaten verhängt. Bei der Körperverletzung (II 3) und der Bedrohung (II 4) hat es dem Angeklagten eine erhebliche Verminderung der Steuerungsfähigkeit zu Gute gehalten, die Strafrahmen der §§ 223, 241 StGB gemäß §§ 21, 49 Abs. 1 StGB gemildert und jeweils Einzelfreiheitsstrafen von drei Monaten verhängt.

II.

Die Strafzumessung ist rechtsfehlerhaft.

1. In den Fällen II 3 und 4 hat das Landgericht eine erhebliche Verminderung der Steuerungsfähigkeit bei der Tatbegehung nicht hinreichend begründet. Das Landgericht hätte zunächst die bei dem Angeklagten angenommene psychische Störung und deren Einordnung unter eines der Eingangsmerkmale des § 20 StGB darlegen und sodann jeweils für die konkrete Tat begründen müssen, ob und inwieweit die Steuerungsfähigkeit des Angeklagten durch diesen Defekt erheblich beeinträchtigt war. Ob die Beeinträchtigung der Steuerungsfähigkeit im Sinne von § 21 StGB erheblich ist, ist eine normative Frage die das Gericht zu beurteilen hat und nicht der Sachverständige (vgl. hierzu Tröndle/Fischer, StGB 53. Aufl. § 21 Rdn. 6 ff. m.w.N.). Die danach erforderliche Begründung fehlt in dem angefochtenen Urteil. Das Landgericht hat zur Frage der Steuerungsfähigkeit des Angeklagten in der Hauptverhandlung ein Gutachten des Sachverständigen Prof. Dr. D. erhoben. Die Annahme einer erheblichen Verminderung der Steuerungsfähigkeit in den genannten Fällen stützt es wesentlich auf dieses Gutachten. Den Inhalt dieses Gutachtens und die ihm zu Grunde liegenden Anknüpfungstatsachen teilt es jedoch nicht mit. Damit ist die gebotene rechtliche Prüfung der landgerichtlichen Entscheidung nicht möglich.

Soweit das Landgericht auf Grund der eigenen Beobachtung des Angeklagten in der Hauptverhandlung annimmt, bei ihm sei in Folge eines 1998 erlittenen Sportunfalls und eines nachfolgenden Komas eine Wesensveränderung eingetreten und eine hirnorganische Schädigung des Angeklagten sei nicht gänzlich auszuschließen, stellt das Landgericht selbst fest, dass sich die gegenwärtige Persönlichkeit des Angeklagten nicht wesentlich von der vor dem Unfall unterscheidet, es sei lediglich eine Akzentuierung seiner Persönlichkeit eingetreten. Die Persönlichkeit des Angeklagten sei jedoch nicht schwer gestört oder abartig, vielmehr sei der Angeklagte lediglich empathieunfähig.

Hinsichtlich der - vor dem Sportunfall begangenen - Missbrauchstaten sei keine Pädophilie gegeben. Der Angeklagte weise zwar ein deviantes Sexualverhalten auf, jedoch nicht im Sinne einer suchtartigen Einengung oder Impulsartigkeit. Vielmehr hätte der Angeklagte bei den Missbrauchstaten seinen Trieben durchaus Einhalt gebieten können. Dementsprechend hat das Landgericht für die Taten II 1 und 2 eine erhebliche Verminderung oder gar einen Ausschluss der Steuerungsfähigkeit zu Recht nicht erwogen.

2. Ein weiterer Rechtsfehler liegt darin, dass das Landgericht für die Fälle II 1 und 2 nicht geprüft hat, ob insoweit besonders schwere Fälle nach § 176 Abs. 3 StGB aF vorliegen, obwohl die Gesamtumstände der Tatbegehung und die vom Landgericht festgestellten schwerwiegenden psychischen Tatfolgen bei den beiden Tatopfern hierzu drängten. Zum einen waren alle Missbrauchstaten des Angeklagten mit einer genitalen Penetration seiner Töchter verbunden, zum anderen mussten sich beide Tatopfer in eine Psychotherapie begeben - die Tochter J. sogar zwei Monate stationär -, die auf Betreiben des Angeklagten jeweils abgebrochen wurde, wenn er besorgte, dass dabei das Tatgeschehen offenbart werden könnte. Die Tochter J. hat darüber hinaus mehrere Selbstmordversuche unternommen, die durch das Tatgeschehen veranlasst wurden.

3. Schließlich ist auch die Bewährungsentscheidung gemäß § 56 Abs. 2 StGB fehlerhaft, weil das Landgericht dem Angeklagten zwar eine günstige Sozialprognose stellt, jedoch nicht darlegt, worin es die besonderen Umstände sieht, die die Strafaussetzung für die Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren rechtfertigen sollen. Die hierfür erforderliche Gesamtwürdigung der Taten und der Persönlichkeit des Angeklagten unter Berücksichtigung auch seines Bemühens, den durch die Taten verursachten Schaden wieder gut zu machen, fehlt. Dabei wäre insbesondere zu berücksichtigen gewesen, dass der Angeklagte jeweils auf den Therapieabbruch hinwirkte, wenn er die Tatentdeckung befürchtete.

4. Da somit alle Einzelstrafen mit den zugehörigen Feststellungen aufzuheben sind, entfällt auch die Grundlage für die Gesamtfreiheitsstrafe. Auf die weiteren von der Beschwerdeführerin geltend gemachten Fehler zum Vor- und Nachteil des Angeklagten kommt es daher nicht mehr an.

5. Die auf Grund des Rechtsmittels der Staatsanwaltschaft gemäß § 301 StPO auch zu Gunsten des Angeklagten gebotene sachlichrechtliche Prüfung hat keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben.

HRRS-Nummer: HRRS 2006 Nr. 153

Bearbeiter: Ulf Buermeyer