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HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 1203

Bearbeiter: Christoph Henckel

Zitiervorschlag: BGH, 1 StR 479/21, Beschluss v. 21.09.2022, HRRS 2022 Nr. 1203


BGH 1 StR 479/21 - Beschluss vom 21. September 2022 (LG Kleve)

Steuerhinterziehung durch Nichtverwenden von Steuerzeichen; Steuerhehlerei.

§ 370 Abs. 1 Nr. 3 AO; § 374 Abs. 1 AO

Entscheidungstenor

1. Dem Angeklagten M. wird auf seinen Antrag und seine Kosten Wiedersetzung in den vorigen Stand vor Versäumung der Frist zur Begründung seiner Revision gegen das Urteil des Landgerichts Kleve vom 5. Mai 2021 gewährt.

2. Der Vorwurf der Beihilfe zur banden- und gewerbsmäßigen strafbaren Verletzung von Gemeinschaftsmarken (richtig: Unionsmarken) wird von der Strafverfolgung bezüglich der vier Revidenten ausgenommen.

3. Auf die Revisionen der Angeklagten wird das vorgenannte Urteil, soweit es diese Angeklagten und den Mitangeklagten D. betrifft, aufgehoben,

a) soweit die Angeklagten und der Mitangeklagte D. wegen banden- und gewerbsmäßiger Steuerhehlerei verurteilt worden sind; insoweit werden die Angeklagten freigesprochen und hat die Staatskasse die Kosten des Verfahrens sowie die notwendigen Auslagen der Angeklagten zu tragen;

b) im verbliebenen Strafausspruch.

4. Die weitergehenden Revisionen der Angeklagten werden als unbegründet verworfen.

5. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die weiteren Kosten der Rechtsmittel, an eine andere Wirtschaftsstrafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat die Angeklagten wegen Steuerhinterziehung, wegen banden- und gewerbsmäßiger Steuerhehlerei sowie wegen Beihilfe zur banden- und gewerbsmäßigen strafbaren Verletzung von Gemeinschaftsmarken (Unionsmarken) jeweils zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten verurteilt; zudem hat es die Angeklagten nicht betreffende Einziehungen angeordnet. Die gegen ihre Verurteilungen im nach einer Verfahrensbeschränkung verbliebenen Umfang gerichteten Revisionen der Angeklagten, mit denen sie die Verletzung materiellen Rechts beanstanden, haben mit der Sachrüge den aus der Beschlussformel ersichtlichen Erfolg (§ 349 Abs. 4 StPO), und zwar auch zugunsten des nichtrevidierenden Mitangeklagten D. ; im Übrigen sind die Rechtsmittel unbegründet (§ 349 Abs. 2 StPO).

1. Nach den Feststellungen des Landgerichts ließen sich die Angeklagten in ihrer ukrainischen bzw. polnischen Heimat spätestens im Juni 2020 von unbekannt gebliebenen Hintermännern anwerben, um in einer illegalen Zigarettenproduktionsstätte in K. ab dem 16. Juli 2020 zu arbeiten und dadurch den Lohn für ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Dort ließen die Organisatoren unversteuerten Tabakfeinschnitt anliefern, maschinell trocknen, in Zigarettengröße zerteilen und in Cellophan verpacken. Dabei wurden bei den Zigarettenpapieren, -filtern und -verpackungen die Marken „R. “, „Ri.“ und „Ma.“ verwendet, ohne dass die Inhaber dieser im Register eingetragenen Unionsmarken, die I. Limited mit Sitz in B. bzw. die J. Limited, dem zugestimmt hätten. Die Angeklagten bestückten die Produktionsmaschinen mit dem Tabakfeinschnitt, überwachten den Produktionsablauf und verpackten die Zigaretten; der Angeklagte M. wartete zudem die Maschinen. Wöchentlich ließen die Hintermänner etwa 10 Millionen Zigaretten herstellen und innerhalb der Europäischen Union ausliefern, ohne dass auf den Zigarettenverpackungen Steuerbanderolen angebracht oder Tabaksteuererklärungen abgegeben wurden. Nach längerer Observation stellten die Ermittlungsbehörden am 18. August 2020 11.006.050 Stück unter unberechtigter Verwendung der drei genannten Marken gefälschte versandfertige Zigaretten sowie rund 17.360 Kilogramm Tabakfeinschnitt sicher, worauf Tabaksteuer in Höhe von rund 1,8 Millionen € bzw. 1,2 Millionen € lastete.

2. Die Verfahrensbeschränkung bezüglich des Vorwurfs der Beihilfe zur banden- und gewerbsmäßigen strafbaren Verletzung von Unionsmarken (§ 143a Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2, § 143 Abs. 2, 5 MarkenG, Art. 9 Abs. 1, 2, Buchst. a, Abs. 3 Buchst. a Unionsmarkenverordnung; § 27 StGB) trägt wie im Verfahren 1 StR 470/21 dem Umstand Rechnung, dass die Würdigung des Landgerichts, die Marken R., Ri. und Ma. seien unionsweit geschützt (UA S. 18), nicht belegt ist (insbesondere UA S. 30). Damit kann auch hier offenbleiben, ob infolge des Austritts des Vereinigten Königreichs Großbritannien aus der Europäischen Union die Gesamtrechtslage für die Angeklagten günstiger ist und dies einer Bestrafung entgegensteht (§ 2 Abs. 3 StGB).

3. Im verbliebenen Verfahrensumfang sind die Revisionen teilweise begründet.

a) Das Urteil birgt Rechtsfehler zu Lasten der Angeklagten.

aa) Die Verurteilungen wegen banden- und gewerbsmäßiger Steuerhehlerei (§ 374 Abs. 1, 2 AO, § 1 Abs. 2 Nr. 3, Abs. 5 TabStG) halten sachlich- rechtlicher Nachprüfung nicht stand; die Angeklagten sind insoweit aus tatsächlichen Gründen freizusprechen (§ 354 Abs. 1 Variante 1 StPO).

(a) Der Generalbundesanwalt hat - im Wesentlichen gleich - in den jeweiligen Antragsschriften zur Tatvariante des Sichverschaffens (§ 374 Abs. 1 Variante 1 AO) bzw. der Beihilfe hierzu (§ 27 StGB) zutreffend ausgeführt:

?Die Steuerhehlerei bezieht sich nach den Urteilsgründen auf den Feinschnitttabak, der auf dem Fabrikgelände sichergestellt worden ist (UA S. 39).

[…] Der Angeklagte hat den Feinschnitt auch nicht sich oder einem Dritten verschafft gemäß § 374 Abs. 1 AO.

Unerheblich ist, ob der Angeklagte selbst, die zehn Mitangeklagten und der gesondert Verfolgte H. oder die unbekannten Hintermänner durch die Anlieferung und Einlagerung des Feinschnitts auf dem Fabrikgelände Besitz an dem Feinschnitt erlangt haben. Zwar ist es Voraussetzung für ein Verschaffen von Erzeugnissen oder Waren gemäß § 374 Abs. 1 AO, dass der Täter oder der Dritte, dem die Erzeugnisse oder Waren verschafft werden, dadurch Verfügungsgewalt erlangt (vgl. BGH, Beschluss vom 13. Juli 2016 - 1 StR 108/16 -, Rn. 33; Urteil vom 7. November 2007 - 5 StR 371/07 -, Rn. 15). Die Urteilsgründe belegen jedoch nicht, dass der Angeklagte in irgendeiner Form als Täter (§ 25 StGB) oder Gehilfe (§ 27 StGB) zur Anlieferung oder Einlagerung des Feinschnitts beigetragen hat.

Nach den Urteilsfeststellungen steuerten unbekannte Hintermänner die Belieferung der illegalen Fabrik mit den zur Herstellung der Zigaretten erforderlichen Materialien, die Produktion der Zigaretten und deren Abtransport (UA S. 12). Aufgabe des Angeklagten war es, unmittelbar im Produktionsprozess an den Maschinen zu arbeiten, die Maschinen mit Feinschnitt zu bestücken, den Produktionsablauf zu überwachen und die produzierten Zigaretten zu verpacken (UA S. 15). Für die Belieferung mit den zur Herstellung erforderlichen Materialien und den Abtransport der Zigaretten waren demgegenüber die Mitangeklagten O., Ry. und Krz. - zuständig, denen es auch oblag, den verwendeten Lastkraftwagen zu be- und entladen (UA S. 15 ff.; vgl. auch UA S. 34 f. zur Hierarchie unter den Beteiligten). Außer diesen drei Personen waren nach den Urteilsgründen lediglich in einem Fall die Mitangeklagten Kr. und Se. an der Beladung eines Transportfahrzeugs beteiligt (UA S. 16). Da die Fabrik über einen Gabelstapler verfügte (vgl. ebd.), scheint die Beteiligung einer größeren Anzahl von Personen an den Ladearbeiten auch nicht notwendig gewesen zu sein. Die dennoch getroffene Feststellung, dass der Feinschnitt vom Angeklagten in die Fabrikhalle eingelagert worden sei (UA S. 18), wird jedenfalls nicht von der Beweiswürdigung getragen. Eine Beteiligung des Angeklagten an der Einlagerung ergibt sich insbesondere nicht aus seiner Einlassung […].?

(b) Auch auf die Tatvariante der Absatzhilfe (§ 374 Abs. 1 Variante 3 AO) oder einer versuchten Absatzhilfe (§ 374 Abs. 3 AO, § 22 StGB) kann die Verurteilung nicht gestützt werden. Denn der Tabakfeinschnitt lagerte zum Zeitpunkt der Beschlagnahme am 18. August 2020 noch unbearbeitet auf dem Gelände. Mithin hatten insoweit weder andere Bandenmitglieder Absatzbemühungen entfaltet noch die Angeklagten mit der ihnen zugewiesenen Arbeit begonnen. Neue Feststellungen zu bestimmten Tatbeiträgen der Angeklagten, die eine Verurteilung wegen Steuerhehlerei oder zumindest der Beihilfe hierzu tragen könnten, sind nach alledem von einem zweiten Rechtsgang nicht zu erwarten. Auch die Voraussetzungen der Ordnungswidrigkeitstatbestände der § 381 AO, §§ 36 f. TabStG sind nicht erfüllt. Der Senat entscheidet daher selbst auf Freispruch (§ 354 Abs. 1 Variante 1 StPO).

bb) Die Strafzumessung für die nach Teilbeschränkung und -freispruch allein verbleibende Steuerhinterziehung ist rechtsfehlerhaft; denn das straffreie Vorleben der Angeklagten (§ 46 Abs. 2 StGB) ist weder bei der Prüfung, ob die Indizwirkung der Regelbeispiele der Steuerverkürzung „in großem Ausmaß“ (§ 370 Abs. 3 Satz 1, 2 Nr. 1 AO) und der bandenmäßigen Verbrauchsteuerverkürzung (§ 370 Abs. 3 Satz 1, 2 Nr. 5 AO) entkräftet ist, noch bei der Strafzumessung im engeren Sinne erkennbar berücksichtigt worden. Dies ist rechtsfehlerhaft, da es sich insoweit um einen bestimmenden Strafzumessungsgesichtspunkt handelt (§ 267 Abs. 3 Satz 1 StPO; vgl. BGH, Beschlüsse vom 23. März 2022 - 6 StR 61/22 Rn. 2; vom 27. Oktober 2020 - 1 StR 148/20 Rn. 9 und vom 29. September 2016 - 2 StR 63/16 Rn. 15). Das neue Tatgericht darf seiner Strafzumessung weitere Feststellungen zugrunde legen, sofern diese den bisherigen nicht widersprechen.

b) Im Übrigen sind die Revisionen unbegründet. Die bezüglich der sichergestellten 11.006.050 Zigaretten die Schuldsprüche der Steuerhinterziehung tragende Vorschrift ist indes - ebenfalls mit dem Antrag des Generalbundesanwalts - vorrangig § 370 Abs. 1 Nr. 3 AO und nicht § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO. Die Erwägungen aus dem Urteil des Senats vom 28. Juli 2022 - 1 StR 470/21 Rn. 15-30 gelten entsprechend. Für das Tilgen der Tabaksteuerschuld waren die Angeklagten als „an der Herstellung beteiligte Personen“ und damit als Steuerschuldner (§ 15 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Alternative 2, Abs. 2 Nr. 2, § 17 Abs. 1 Satz 3 TabStG) verantwortlich; sie verwendeten „pflichtwidrig“ keine Steuerzeichen, durch die das (vorherige) Entrichten der Tabaksteuer nachgewiesen werden soll. Die Angeklagten wirkten insbesondere am Zuschnitt und an der Ummantelung des Tabakfeinschnitts zu einzelnen Zigaretten mit; dies gehörte zum erlaubnispflichtigen Herstellungsprozess (vgl. § 1 Abs. 2 Nr. 2 Buchst. a TabStG, § 4 Abs. 3 Satz 2 TabStV aF).

HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 1203

Bearbeiter: Christoph Henckel