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HRRS-Nummer: HRRS 2007 Nr. 35

Bearbeiter: Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 1 StR 434/06, Beschluss v. 09.11.2006, HRRS 2007 Nr. 35


BGH 1 StR 434/06 - Beschluss vom 9. November 2006 (LG Ravensburg)

Inbegriffsrüge (bezüglich der Strafzumessungsfeststellungen; Beruhen); negative Beweiskraft des Sitzungsprotokolls.

§ 46 StGB; § 261 StPO; § 274 StPO; § 337 StPO

Entscheidungstenor

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Ravensburg vom 12. April 2006 im Rechtsfolgenausspruch aufgehoben.

Die weitergehende Revision wird verworfen.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen schwerer räuberischer Erpressung zu sechs Jahren und sechs Monaten Freiheitsstrafe verurteilt und seine Unterbringung in der Sicherungsverwahrung angeordnet.

Die Revision erstrebt mit der Sach- und mehreren Formalrügen die umfassende Aufhebung des Urteils. Der Rüge der Verletzung materiellen Rechts bleibt der Erfolg aus den von dem Generalbundesanwalt in seiner Antragsschrift vom 6. September 2006 dargestellten Gründen versagt (§ 349 Abs. 2 StPO).

Demgegenüber hat der Rechtsfolgenausspruch wegen der Verletzung formellen Rechts keinen Bestand.

I.

A) Mit den Verfahrensrügen beanstandet die Revision die Verwertung von Erkenntnissen, die nicht oder aufgrund unzutreffender rechtlicher Grundlage in die Hauptverhandlung eingeführt wurden (Verstoß insbesondere gegen § 261 StPO):

1. Aus den Urteilsgründen der Vorverurteilung durch das Landgericht Memmingen vom 13. September 1990 wird in der angefochtenen Entscheidung umfassend detailliert zitiert. Die Sitzungsniederschrift enthält nichts darüber, dass dieses Urteil des Amtsgerichts Memmingen verlesen worden wäre. Die Möglichkeit der Einführung auf andere Weise, etwa durch Vorhalt, scheidet aus.

2. Aus den Urteilsgründen der Vorverurteilung durch das Amtsgericht Freiburg vom 30. Mai 1994 wird ebenfalls umfassend wörtlich zitiert. Die Sitzungsniederschrift enthält auch nichts darüber, dass dieses Urteil verlesen worden wäre. Die Möglichkeit der Einführung auf andere Weise, etwa durch Vorhalt, scheidet auch hier aus.

3. Das Gutachten der Universitätsklinik U. zur Blutalkoholbestimmung beim Angeklagten vom 25. Oktober 2005 wurde ausweislich der Sitzungsniederschrift nicht gemäß § 256 Abs. 1 Nr. 4 StPO, sondern nach entsprechender Beschlussfassung - entgegen § 251 Abs. 4 Satz 2 StPO ohne weitere Begründung - "gemäß § 251 Abs. 2 Satz 1 StPO verlesen".

4. Das Gutachten Dr. M. vom 16. Dezember 2005 über die immunologische und chemische Untersuchung des Blutes des Angeklagten wurde ebenfalls ohne weitere Begründung "gemäß § 251 Abs. 2 Satz 1 StPO verlesen".

5. Die Urteilsgründe enthalten tagesgenaue Feststellungen zu Haft- und Therapiezeiten aufgrund von Vorverurteilungen. Die Sitzungsniederschrift enthält nichts über die Verlesung von Urkunden, wie etwa Vollstreckungsheften, denen dies hätte entnommen werden können. Die Möglichkeit der Einführung auf andere Weise, etwa durch Vorhalte, scheidet auch hier aus.

6. In der Hauptverhandlung wurde ausweislich der Sitzungsniederschrift B., Sachverständiger für Neurologie und Psychiatrie, als Sachverständiger belehrt, vernommen und nach § 79 Abs. 1 StPO unbeeidigt entlassen, nicht jedoch als Zeuge vernommen.

Die Urteilsgründe enthalten hierzu folgende Passage: "Die Feststellungen zu den persönlichen Verhältnissen des Angeklagten beruhen auf seinen Einlassungen. Seine Angaben werden bestätigt und ergänzt durch die verlässliche Schilderung des insoweit als Zeugen gehörten psychiatrischen Sachverständigen Dr. B., der den Angeklagten explorierte."

B) Die Berichterstatterin gab zum Revisionsvortrag am 21. Juli 2006 folgende dienstliche Erklärung ab:

"Sowohl das Urteil des Landgerichts Memmingen vom 13.09.1990 ... als auch das Urteil des Amtsgerichts Freiburg vom 30.05.1994 ... wurden hinsichtlich der wesentlichen Teile in der Hauptverhandlung verlesen. Die im Urteil des Landgerichts Ravensburg vom 12.04.2006 als verlesen aufgeführten Urteile sind lediglich im Sitzungsprotokoll nicht als verlesen vermerkt.

Soweit im Urteil auf Blatt 202 [der Akten - das Urteil hat 23 Seiten] ausgeführt ist, dass der psychiatrische Sachverständige Dr. B. als Zeuge gehört wurde, ist anzumerken, dass es sich hierbei offensichtlich um einen Übertragungsfehler handelt. Ich hatte offensichtlich versehentlich diesen Satz als Baustein aus einem anderen Urteil ohne Prüfung übernommen. Eine Vernehmung des Sachverständigen als Zeuge erfolgte nicht, nachdem die persönlichen Verhältnisse aufgrund umfassender Angaben des Angeklagten festgestellt werden konnten."

Der Richter, der die Hauptverhandlung leitete, vermerkte am 26. Juli 2006 handschriftlich auf der dienstlichen Äußerung der Berichterstatterin:

"Ich schließe mich der Stellungnahme der Berichterstatterin an und mache mir ihre Erklärung zu Eigen."

Die Urkundsbeamtin gab am 1. August 2006 folgende dienstliche Stellungnahme ab:

"Nachdem es bei der 2. Kammer nicht üblich ist, die verlesenen Vorstrafen im Protokoll zu vermerken, habe ich die Verlesung der Vorstrafen auch nicht im Protokoll aufgenommen. Kann jedoch, nachdem mir der Sachverhalt der Vorstrafen der Berichterstatterin [sic!] erzählt worden ist, sagen, dass diese nach meiner Erinnerung in der Verhandlung verlesen worden sind."

II.

Die Revision hat schon mit der Beanstandung des oben unter Nr. 6 geschilderten Sachverhalts - im Hinblick auf den Rechtsfolgenausspruch - Erfolg.

Ausweislich der Sitzungsniederschrift steht fest (§ 274 Satz 1 StPO), dass der Sachverständige Dr. B. nicht als Zeuge vernommen wurde. Dies deckt sich auch - ohne, dass es hierauf allerdings revisionsrechtlich ankommt - mit den dienstlichen Erklärungen der Berufsrichter. Gleichwohl hat die Strafkammer ausweislich der Urteilsgründe "die verlässliche Schilderung des insoweit als Zeugen gehörten psychiatrischen Sachverständigen Dr. B. ", - also über die Verwertung von Befundtatsachen hinaus - ihren Feststellungen zu den persönlichen Verhältnissen jedenfalls ergänzend zugrunde gelegt. Die Strafkammer hat somit unter Verstoß gegen § 261 StPO bei der Urteilsfindung Umstände berücksichtigt und gewürdigt, die nicht Inbegriff der Hauptverhandlung waren.

Der Senat vermag nicht auszuschließen, dass der Rechtsfolgenausspruch - auch - darauf beruht. Denn den Feststellungen zu den persönlichen Verhältnissen kommt nicht nur bei der Strafzumessung in hohem Maß Bedeutung zu, sondern hier vor allem im Hinblick auf die besonders einschneidende Maßnahme der Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung. Die Entscheidung hierüber erfordert in jeder Hinsicht besondere Umsicht und Sorgfalt.

Soweit den dienstlichen Äußerungen der Berufsrichter zur Grundlage der Entscheidungsfindung anderes entnommen werden kann, ist dies für die revisionsrechtliche Prüfung ohne Bedeutung. Maßgeblich sind insoweit allein die schriftlichen Urteilsgründe. Diese können nur in den Fällen des § 267 Abs. 4 Satz 3, Abs. 5 Satz 3 StPO ergänzt werden (vgl. BGHSt 43, 22, 24), die hier nicht vorliegen.

Auf die übrigen Beanstandungen der Verletzung formellen Rechts kommt es nicht mehr an. Den Schuldspruch vermögen auch sie nicht in Frage zu stellen.

HRRS-Nummer: HRRS 2007 Nr. 35

Bearbeiter: Karsten Gaede