HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Februar 2024
25. Jahrgang
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IV. Strafverfahrensrecht (mit Gerichtsverfassungsrecht)


Entscheidung

186. BGH 4 StR 94/22 – Beschluss vom 10. Oktober 2023

BGHSt; Anwesenheit des Betroffenen in der Hauptverhandlung (Entbindung von der Anwesenheitspflicht: nicht auf einen konkreten Termin bezogen, Verlegung des Hauptverhandlungstermins, terminübergreifend, Fortwirkung, Auslegung, Normzweck, Anwesenheitsrecht, Hinderung ohne eigenes Verschulden, Abwesenheitsurteil, Wiedereinsetzung, Belehrung, Entstehungsgeschichte).

§ 73 Abs. 2 OWiG; 74 OWiG; Art. 6 EMRK

1. Die antragsgemäß nicht auf einen konkreten Termin bezogene Entbindung des Betroffenen von der Verpflichtung zum persönlichen Erscheinen gemäß § 73 Abs. 2 OWiG wirkt bei Verlegung des Hauptverhandlungstermins fort, so dass ein Entbindungsbeschluss des Gerichts für den neuen Termin nicht erneut beantragt und erlassen werden muss. (BGHSt)

2. Die Entbindung von der Verpflichtung zum persönlichen Erscheinen lässt das Anwesenheitsrecht des Betroffenen in der Hauptverhandlung unberührt. Der entbundene Betroffene darf gleichwohl an dieser teilnehmen und muss zu ihr geladen werden. (Bearbeiter)

3. Gibt der Betroffene trotz antragsgemäßer Entbindung zu erkennen, dass er an der Hauptverhandlung teilnehmen will, und ist er hieran ohne eigenes Verschulden gehindert, darf das Gericht auch nicht in seiner Abwesenheit nach § 74 Abs. 1 OWiG verhandeln. Ist der Betroffene in einem solchen Fall außerstande, das Gericht rechtzeitig zu, kann er gegen das Abwesenheitsurteil nach § 74 Abs. 2 OWiG ebenso um Wiedereinsetzung nachsuchen wie derjenige, gegen den mangels Entbindung von der Pflicht zum persönlichen Erscheinen ein Verwerfungsurteil ergangen ist (vgl. § 74 Abs. 4 OWiG). Den Entbindungsantrag zurücknehmen kann der Betroffene vor der Hauptverhandlung ohnehin. (Bearbeiter)

4. Über eine Entbindung nach § 73 Abs. 2 OWiG und deren Folgen ist der Betroffene darüber hinaus gemäß § 74 Abs. 3 OWiG in der Ladung zur Hauptverhandlung zu belehren. (Bearbeiter)


Entscheidung

109. BGH 1 StR 340/23 – Beschluss vom 13. Dezember 2023 (LG Ingolstadt)

Ablehnung eines Beweisantrags wegen Bedeutungslosigkeit der unter Beweis gestellten Tatsache (Anforderungen an die Begründung).

§ 244 Abs. 3 Satz 3 Nr. 2, Abs. 6 Satz 1 StPO

1. Das Tatgericht darf Indiz- oder Hilfstatsachen als für die Entscheidung tatsächlich bedeutungslos erachten (§ 244 Abs. 3 Satz 3 Nr. 2 StPO), wenn es aus diesen eine mögliche Schlussfolgerung, die der Antragsteller erstrebt, nicht ziehen will. Das Tatgericht hat die unter Beweis gestellte Tatsache so, als sei sie erwiesen, in das aufgrund der bisherigen Beweisaufnahme erlangte Beweisergebnis einzustellen und im Wege einer prognostischen Betrachtung zu prüfen, ob hierdurch seine bisherige Überzeugung – gegebenenfalls in Anwendung des Zweifelsatzes – in einer für den Schuld- oder Rechtsfolgenausspruch bedeutsamen Weise erschüttert würde.

2. Diese antizipierende Würdigung ist in dem den Antrag ablehnenden Beschluss (§ 244 Abs. 6 Satz 1 StPO) näher darzulegen. Denn dieser hat insbesondere den Antragsteller, aber auch die anderen Verfahrensbeteiligten, über die Auffassung des Tatgerichts zu unterrichten, sodass er sich

auf die neue Verfahrenslage einstellen und das Gericht doch noch von der Erheblichkeit der Beweistatsache überzeugen oder aber neue Anträge mit demselben Beweisziel stellen kann („formalisierter Dialog“). Zudem muss der Ablehnungsbeschluss dem Revisionsgericht die Prüfung ermöglichen, ob der Beweisantrag rechtsfehlerfrei zurückgewiesen worden ist sowie ob seine Feststellungen und Schlussfolgerungen mit denjenigen des Urteils übereinstimmen.

3. Faktisch hat das Tatgericht damit den betreffenden Ausschnitt aus der Beweiswürdigung, die es an sich erst im Urteil darzulegen hat, bereits in der Hauptverhandlung offenzulegen; freilich kann und muss die Beschlussbegründung in laufender Hauptverhandlung angesichts der Vorläufigkeit der Einschätzung in der Regel weder die Ausführlichkeit noch die Tiefe der Beweiswürdigung der späteren Urteilsgründe aufweisen; die wesentlichen Hilfstatsachen sind jedenfalls in Grundzügen mitzuteilen.


Entscheidung

179. BGH 4 StR 102/23 – Urteil vom 26. Oktober 2023 (LG Arnsberg)

Ablehnung von Beweisanträgen (aus tatsächlichen Gründen bedeutungslos: Indiztatsachen, keinerlei Sachzusammenhang, keine Beeinflussung des Urteils selbst im Fall ihres Erwiesenseins, erforderliche Begründung, Anführen der Erwägungen, Begründungserfordernissen bei der Würdigung von durch die Beweisaufnahme gewonnenen Indiztatsachen).

§ 244 StPO

1. Aus tatsächlichen Gründen bedeutungslos sind Indiztatsachen, wenn zwischen ihnen und dem Gegenstand der Urteilsfindung keinerlei Sachzusammenhang besteht, oder wenn sie trotz eines solchen Zusammenhangs selbst im Fall ihres Erwiesenseins die Entscheidung nicht beeinflussen könnten. Bei der Behauptung einer relevanten belastenden Tatsache durch die Staatsanwaltschaft muss deshalb eine bislang für den Angeklagten positive Beweislage durch die begehrte Beweiserhebung umschlagen können. Legt der Tatrichter rechtsfehlerfrei dar, dass die in dem Beweisantrag behauptete Tatsache auch dann, wenn sie durch die beantragte Beweisaufnahme bewiesen würde, ihn nicht von der Schuld des Angeklagten überzeugen könnte, ist er nicht verpflichtet, den beantragten Beweis zu erheben.

2. Dabei muss nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs der Beschluss, mit dem ein Beweisantrag wegen Bedeutungslosigkeit der behaupteten Tatsache abgelehnt wird, die Erwägungen anführen, aus denen der Tatrichter ihnen keine Bedeutung beimisst. Wird die Bedeutungslosigkeit aus tatsächlichen Umständen gefolgert, so müssen die Tatsachen angegeben werden, aus denen sich ergibt, warum die unter Beweis gestellte Tatsache, selbst wenn sie erwiesen wäre, die Entscheidung des Gerichts nicht beeinflussen könnte. Die erforderliche Begründung entspricht dabei grundsätzlich den Begründungserfordernissen bei der Würdigung von durch die Beweisaufnahme gewonnenen Indiztatsachen in den Urteilsgründen. Geht es um den Angeklagten belastende Beweisbehauptungen, hat die Ablehnung das ganze Beweisthema ohne Einengung, Verkürzung oder Unterstellung zu erfassen. Dies muss so geschehen, dass die Beweistatsache ohne Abstriche) sowie ohne Hinzufügung von nicht belegten, spekulativen Umständen in das bisher gewonnene Beweisgefüge einzustellen und als Teil des Gesamtergebnisses in ihrer indiziellen Bedeutung zu würdigen ist.


Entscheidung

117. BGH 3 StR 192/18 – Beschluss vom 30. November 2023 (LG Oldenburg)

Entscheidung nach Vorlage an das Bundesverfassungsgericht im Rahmen der konkreten Normenkontrolle nach Art. 100 Abs. 1 GG (BVerfGE 156, 354 = HRRS 2021 Nr. 280); selbständige Einziehung des Wertes von Taterträgen (Verfassungsmäßigkeit der rückwirkenden Anwendung); Verstöße gegen das SchwarzArbG (Abgrenzung zwischen Arbeitnehmerüberlassung und Arbeitsvermittlung; verdeckten Rechtsgeschäfte); Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union gemäß Art. 267 AEUV (europarechtlicher Arbeitnehmerbegriff).

Art. 100 Abs. 1 Satz 1 GG; Art. 103 Abs. 2 GG; Art. 20 Abs. 3 GG; Art. 316h Satz 1 EGStGB; § 76a Abs. 2 Satz 1 StGB; § 76b Abs. 1 Satz 1 StGB; § 78 Abs. 1 Satz 2 StGB; § 11 Abs. 1 Nr. 1 SchwarzArbG; Art. 267 AEUV

1. Das Bundesverfassungsgericht hat mit Beschluss vom 10. Februar 2021 (2 BvL 8/19, BVerfGE 156, 354 = HRRS 2021 Nr. 280) entschieden, dass Art. 316h Satz 1 EGStGB mit den im Rechtsstaatsprinzip und in den Grundrechten verankerten Prinzipien der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes vereinbar ist.

2. Nach § 1 Abs. 2, § 3 Abs. 1 AÜG sind die entscheidenden Kriterien zur Abgrenzung der Arbeitnehmerüberlassung von der Arbeitsvermittlung, dass der Verleiher über die rein formale Arbeitgeberstellung hinaus die üblichen Arbeitgeberpflichten und das Arbeitgeberrisiko übernimmt.

3. Daran fehlt es namentlich, wenn in der gelebten Rechtswirklichkeit ein Arbeitsverhältnis zum Einsatzunternehmen vorliegt, für das der Überlassende die Arbeitgeberrolle nach außen übernimmt, um diesem Unternehmen zu ermöglichen, seine arbeits- und sozialrechtlichen Pflichten als Arbeitgeber zu umgehen. Hierfür ist erforderlich, dass die Beziehung des Arbeitnehmers zum Überlassenden tatsächlich so inhaltslos ist, dass dieser selbst die begrenzte Steuerungsfunktion nicht mehr erfüllt, die einem Verleiher als Arbeitgeber mindestens zukommt.

4. Soweit keine Arbeitnehmerüberlassung inmitten steht, kommt es auf die – ggf. im Rahmen einer Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union zu stellende – Frage nicht an, ob die Einziehung des gesamten erlangten (Brutto-)Betrages eine verhältnismäßige Maßnahme zur Erreichung der von der Entsenderichtlinie 96/71/EG und der Leiharbeitsrichtlinie 2008/104/EG verfolgten Ziele darstellt.

5. Die Kompensation im Wege des Vollstreckungsmodells ist in § 199 Abs. 3 Satz 1 GVG ausschließlich für immaterielle Schäden des Beschuldigten vorgesehen. Über entsprechende Wiedergutmachungsansprüche anderer Verfahrensbeteiligter (§ 198 Abs. 6 Nr. 2, § 199 Abs. 4 GVG) haben die Strafgerichte nicht zu befinden.


Entscheidung

107. BGH 1 StR 223/23 – Beschluss vom 29. November 2023 (LG Karlsruhe)


Verletzung des Dienstgeheimnisses (Verjährungsbeginn bei konkreten Gefährdungsdelikten).

§ 353b Abs. 1 StGB; § 78a StGB

Die Verjährung einer Tat nach § 353b StGB beginnt mit dem Eintritt der Gefährdung öffentlicher Interessen (§ 78a StGB). Die Beendigung des Geheimnisbruchs tritt regelmäßig erst mit einer Erhöhung der Gefährdung bzw. dem Eintritt des Schadens/der Gefährdung oder mit dem Wegfall der Gefährdung, also mit dem Geschehensabschluss, ein. Bei Gefährdungsdelikten, bei denen der Gesetzgeber den Gefährdungseintritt genügen lässt, die Tatbestandsvollendung also vorverlegt hat, kann es zu einem Fortwirken der tatbestandsmäßigen Handlungen kommen, die den vollen Unrechtsgehalt überhaupt erst herbeiführen oder auch nur steigern und diesen daher nicht etwa nur tatbestandsneutral unberührt lassen.


Entscheidung

122. BGH 3 StR 295/23 – Beschluss vom 4. Oktober 2023 (LG Düsseldorf)

Betäubungsmittelstrafrecht (Konkurrenzen bei gleichzeitigem Besitz zum Handel und zum Eigenkonsum); Unterbringung in eine Entziehungsanstalt (Neuregelung; Übergangsvorschrift).

§ 73 BtMG; § 52 StGB; § 64 StGB; § 354a StPO Art. 316o EGStGB

1. Gemäß § 354a StPO richtet sich die Prüfung der Voraussetzungen der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt durch das Revisionsgericht nach § 64 StGB in der Fassung vom 26. Juli 2023 (BGBl. I Nr. 203), in Kraft getreten am 1. Oktober 2023.

2. Die noch nicht in Kraft getretene Übergangsvorschrift in Art. 316o EGStGB, die lediglich für die Vollstreckung rechtskräftig angeordneter Unterbringungen gilt, findet auf die materiellrechtliche Regelung des § 64 StGB keine Anwendung.


Entscheidung

223. BGH 5 StR 453/23 – Beschluss vom 6. Dezember 2023 (LG Bremen)

Verhandlungsfähigkeit des Angeklagten (Abwesenheit; Hauptverhandlung; Ausnahmen; Sicherungsverfahren; absoluter Revisionsgrund).

§ 230 Abs. 1 StPO; § 415 StPO; § 338 Nr. 5 StPO

1. Nach § 230 Abs. 1 StPO findet eine Hauptverhandlung gegen einen ausgebliebenen Angeklagten nicht statt; seiner Abwesenheit steht grundsätzlich seine Verhandlungsunfähigkeit gleich. Daraus folgt, soweit nicht die Abwesenheitsverhandlung ausnahmsweise, etwa nach § 231a StPO gestattet ist, dass ein nach § 338 Nr. 5 StPO zu berücksichtigendes Verbot des Weiterverhandelns gemäß § 230 StPO schon dann vorliegt, wenn das Tatgericht Zweifel an der Verhandlungsfähigkeit des Angeklagten hat.

2. Das Verbot einer Hauptverhandlung gegen den ausgebliebenen Angeklagten ist zwingend, Ausnahmen davon sind nur dort und nur insoweit zulässig, als sie das Gesetz ausdrücklich bestimmt. Eine dieser Ausnahmen ist in § 415 StPO für das Sicherungsverfahren bestimmt. Liegt indes kein Sicherungsverfahren vor, greift auch die Ausnahmeregelung nicht. Die Regelungen für die Hauptverhandlung sind ausnahmslos anzuwenden. Eine Herabsenkung der Anforderungen an die Verhandlungsfähigkeit unter Verweis auf die im Sicherungsverfahren bestehenden Möglichkeiten kommt nicht in Betracht.

3. Stellt sich heraus, dass gegen einen Angeklagten mangels Verhandlungsfähigkeit nicht nach den §§ 226 ff. StPO verhandelt werden kann, ist der Übergang in ein Sicherungsverfahren ausgeschlossen, vielmehr muss das Verfahren eingestellt werden. Die Staatsanwaltschaft hat sodann nach ihrem Ermessen zu entscheiden, ob nach § 413 StPO ein Sicherungsverfahren durchgeführt werden soll, das sie gemäß § 414 StPO durch einen entsprechenden Antrag einzuleiten hat.


Entscheidung

225. BGH 5 StR 499/23 – Beschluss vom 27. Dezember 2023

Erneute Pflichtverteidigerbestellung nach Beendigung des Mandats durch den Wahlverteidiger.

§ 143a StPO

Wird die Bestellung eines Pflichtverteidigers allein deshalb gemäß § 143a Abs. 1 Satz 1 StPO aufgehoben, weil sich ein Wahlverteidiger gemeldet hat, ist im Falle der Beendigung seines Mandats zur Vermeidung einer Umgehung der gesetzlichen Voraussetzungen für einen Verteidigerwechsel regelmäßig der frühere Pflichtverteidiger wieder zu bestellen.


Entscheidung

208. BGH 6 StR 361/23 – Urteil vom 10. Januar 2024 (LG Halle)

Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung (mangelnde Gesamtschau der Beweisergebnisse, Vorliegen mehrerer Beweisanzeichen, Gesamtwürdigung).

§ 261 StPO

Liegen mehrere Beweisanzeichen vor, so genügt es nicht, diese jeweils einzeln abzuhandeln. Jedes Indiz ist vielmehr mit allen anderen in eine Gesamtwürdigung einzustellen. Auch wenn keine der Indiztatsachen für sich allein zum Nachweis der Täterschaft des Angeklagten ausreichen würde, besteht die Möglichkeit, dass sie in ihrer Gesamtheit dem Tatgericht die entsprechende Überzeugung vermitteln können.


Entscheidung

221. BGH 5 StR 406/23 – Urteil vom 3. Januar 2024 (LG Hamburg)

Beweiswürdigung (revisionsgerichtliche Überprüfung; Lückenhaftigkeit; Zweifel; Nichtberücksichtigung eines naheliegenden Tathergangs); Rücktritt vom Versuch (Fehlschlag; mehrere Beteiligte; gesonderte Prüfung).

§ 261 StPO; § 24 StGB

1. Das Revisionsgericht muss es grundsätzlich hinnehmen, wenn das Tatgericht Zweifel an dem Vorliegen eines den Angeklagten belastenden Sachverhalts nicht zu überwinden vermag. Denn die Beweiswürdigung ist Sache des Tatgerichts. Die revisionsgerichtliche Prüfung beschränkt sich darauf, ob dem Tatgericht Rechtsfehler unterlaufen sind, weil die Beweiswürdigung lückenhaft, in sich widersprüchlich oder unklar ist, gegen Denkgesetze oder Erfahrungssätze verstößt, oder wenn an die zur Verurteilung erforderliche Gewissheit übertriebene Anforderungen gestellt worden sind. Eine in diesem Sinne lückenhafte (und

damit nicht rechtsfehlerfreie) Beweiswürdigung kann u. a. vorliegen, wenn das Tatgericht – obwohl der Sachverhalt dazu drängt – eine naheliegende Möglichkeit des Tathergangs außer Betracht lässt.

2. Fehlgeschlagen ist ein Versuch, wenn die Tat nach Misslingen des zunächst vorgestellten Tatablaufs mit den bereits eingesetzten oder anderen nahe liegenden Mitteln objektiv nicht mehr vollendet werden kann und der Täter dies erkennt, oder wenn er subjektiv die Vollendung nicht mehr für möglich hält. Dabei kommt es auf die Sicht des Täters nach Abschluss der letzten Ausführungshandlung an (Rücktrittshorizont). Da § 24 StGB einen persönlichen Strafaufhebungsgrund normiert, ist die Frage nach einem fehlgeschlagenen Versuch dabei für jeden Tatbeteiligten gesondert zu prüfen. In den Fällen des § 24 Abs. 2 StGB ist für die Beurteilung allein die persönliche Sicht jedes einzelnen Beteiligten entscheidend.


Entscheidung

160. BGH 2 StR 285/23 – Beschluss vom 25. Oktober 2023 (LG Erfurt)

Beweiswürdigung (belastende Angaben eines Zeugen: Beruhen mehrerer Tatvorwürfe, Teileinstellung bei mehreren Taten, Glaubhaftigkeit der Bekundungen, Erörterungsmangel); sexueller Missbrauch von Schutzbefohlenen (Anvertrautsein: Zusammenleben in häuslicher Gemeinschaft, Obhutsverhältnis; Vornahme einer sexuellen Handlung: unmittelbarer Körperkontakt); sexuelle Missbrauch von Kindern (pornographische Abbildungen oder Darstellungen; Einwirken: psychische Einflussnahme tiefergehender Art).

§ 261 StPO; § 154 Abs. 2 StPO; § 174 StGB; § 176 StGB

1. Beruhen mehrere Tatvorwürfe auf den belastenden Angaben eines Zeugen und stellt das Tatgericht das Verfahren wegen eines Teils dieser Vorwürfe nach § 154 Abs. 2 StPO ein, kann den Gründen für die Teileinstellung des Verfahrens nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs Bedeutung für die Beweiswürdigung zu den verbleibenden Vorwürfen insbesondere hinsichtlich der Frage der Glaubhaftigkeit der Bekundungen des Belastungszeugen zukommen. Ist dies nach der konkret gegebenen Beweissituation der Fall, ist der Tatrichter aus Gründen sachlichen Rechts gehalten, die Gründe für die Teileinstellung im Urteil mitzuteilen und sich mit deren Beweisbedeutung auseinanderzusetzen.

2. Der Tatbestand des § 174 Abs. 1 Nr. 1 StGB alter Fassung setzt voraus, dass zwischen Täter und Opfer ein Verhältnis besteht, kraft dessen eine Person unter 16 Jahren dem Täter zur Erziehung, zur Ausbildung oder zur Betreuung in der Lebensführung anvertraut ist. Erforderlich hierfür ist ein Abhängigkeitsverhältnis im Sinne einer Unter- und Überordnung, die den persönlichen, allgemein menschlichen Bereich umfasst, in welchem einer Person das Recht und die Pflicht obliegt, die Lebensführung des Jugendlichen und damit dessen geistig-seelische Entwicklung zu überwachen und zu leiten. Dabei kann allein aus dem Zusammenleben in häuslicher Gemeinschaft noch kein Obhutsverhältnis im Sinne des § 174 StGB a.F. hergeleitet werden. Auch eine nur ganz kurzfristige Verantwortlichkeit während der Abwesenheit des Erziehungsberechtigten reicht nicht aus, um ein Obhutsverhältnis im Sinne des § 174 Abs. 1 Nr. 1 StGB a.F. zu begründen. Zudem genügt es nicht, dass sich das Kind oder der Jugendliche lediglich sehr oft bei dem Täter zu Besuch aufhält und der Täter sich um ihn kümmert, da diese Umstände nicht zur Begründung eines dem Schutzzweck des § 174 Abs. 1 Nr. 1 StGB a.F. entsprechenden Abhängigkeitsverhältnisses genügen.

3. Einwirken erfordert eine psychische Einflussnahme tiefergehender Art, die etwa beim bloßen Vorzeigen pornographischer Bilder in aller Regel nicht vorliegt. Eine solche Einwirkung kann indes dann angenommen werden, wenn das Vorspielen mit sexualbezogenen Nachrichten oder körperlichen sexuellen Übergriffen verbunden ist, zudem, wenn einer vier- bis fünfjährigen ein Film mit Darstellungen harter Pornographie gezeigt wird, um sich sexuell zu erregen.


Entscheidung

192. BGH 4 StR 347/23 – Beschluss vom 22. November 2023 (LG Frankenthal (Pfalz))

Revisionsbeschränkung (Wirksamkeit: nicht-angegriffener Teil der Vorentscheidung, hinreichend tragfähige Grundlage für eine eigenständige Entscheidung des Rechtsmittelgerichts, Dauer des Vorwegvollzugs, Unterbringung in einer Entziehungsanstalt, Therapiedauer, Erfolgsaussicht, Gesamtwürdigung).

§ 67 StGB; § 64 StGB nF

1. Eine wirksame Rechtsmittelbeschränkung setzt nicht nur voraus, dass der nach dem Willen des Rechtsmittelführers allein angefochtene Entscheidungsteil losgelöst vom übrigen Urteilsinhalt selbständig geprüft und beurteilt werden kann, sondern erfordert auch, dass der nicht angegriffene Teil der Vorentscheidung so festgestellt und bewertet ist, dass er – unabänderlich und damit bindend geworden – eine hinreichend tragfähige Grundlage für eine eigenständige Entscheidung des Rechtsmittelgerichts zu bieten vermag.

2. Die Dauer des Vorwegvollzugs hängt entscheidend von der voraussichtlichen Dauer der Unterbringung gemäß § 64 StGB ab (vgl. § 67 Abs. 2 Satz 3, Abs. 5 Satz 1 StGB). Für die anzunehmende Therapiedauer ist derjenige Zeitraum maßgebend, der bei prognostischer Beurteilung erforderlich erscheint, um einen Behandlungserfolg zu erzielen. Die Festlegung einer angemessenen Dauer der Unterbringung muss deshalb ihre Grundlage darin finden, dass die Maßregel als solche überhaupt Aussicht auf Erfolg bietet. Ist dies bereits dem Grunde nach nicht der Fall oder zweifelhaft, lässt sich kein angemessener Zeitraum für die Therapie bemessen und vom Revisionsgericht überprüfen. Jedenfalls wenn die Erfolgsaussicht der Maßregel nach § 64 StGB in den Urteilsgründen nicht tragfähig begründet ist, scheidet eine isolierte Anfechtung der Dauer des Vorwegvollzugs aus.

3. Nach § 64 Satz 2 StGB darf die Maßregel nur angeordnet werden, wenn aufgrund „tatsächlicher Anhaltspunkte zu erwarten ist“, die Person durch die Behandlung in einer Entziehungsanstalt innerhalb der Frist des § 67d Abs. 1 Satz 1 oder 3 StGB zu heilen oder über eine erhebliche Zeit vor dem Rückfall in den Hang zu bewahren und von der Begehung erheblicher rechtswidriger Taten abzuhalten, die auf ihren Hang zurückgehen. Die Anforderungen an eine günstige Behandlungsprognose sollten durch die

Neufassung im Sinne einer hierfür bestehenden „Wahrscheinlichkeit höheren Grades“ moderat angehoben werden. Die Beurteilung einer derartigen Erfolgsaussicht ist im Rahmen einer richterlichen Gesamtwürdigung der Täterpersönlichkeit und aller sonst maßgeblichen, also prognosegünstigen und -ungünstigen Umstände vorzunehmen.


Entscheidung

185. BGH 4 StR 226/23 – Beschluss vom 11. Oktober 2023 (LG Bielefeld)

Revisionsrücknahme (Entscheidung über die Frage der Wirksamkeit des Revisionsrücknahme: Zuständigkeit, Vorlage der Akten zur Entscheidung, Auslegung, keine ausdrückliche Regelung, Frage der Zulässigkeit des Rechtsmittels, Wille des Gesetzgebers).

§ 346 Abs. 1 StPO; § 349 Abs. 1 StPO; § 302 StPO

Wird die Wirksamkeit der Revisionsrücknahme von einem Verfahrensbeteiligten in Zweifel gezogen, ist es nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs Sache des Revisionsgerichts, über die Frage der Wirksamkeit der Revisionsrücknahme zu entscheiden. Die Zuständigkeit ist auch in Fällen begründet, in denen die Frage der Wirksamkeit der Revisionsrücknahme aufgeworfen wird, bevor die Akten dem Revisionsgericht zur Entscheidung vorgelegt worden sind.