HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Februar 2010
11. Jahrgang
PDF-Download

V. Wirtschaftsstrafrecht und Nebengebiete


Entscheidung

102. BGH 1 StR 277/09 – Urteil vom 8. Dezember 2009 (LG Nürnberg-Fürth)

BGHSt; Strafbarkeit des unerlaubten Inverkehrbringens von Gamma-Butyrolacton (GBL) zu Konsumzwecken nach dem Arzneimittelgesetz (Begrenzungsfunktion subjektiver Zweckbestimmungen); Verbotsirrtum; Konkurrenzen: Bewertungseinheit.

§ 2 Abs. 1 Nr. 5 a.F. ArzneimittelG; § 2 Abs. 1 Nr. 2a n.F. ArzneimittelG; § 5 ArzneimittelG; § 95 Abs. 1 Nr. 1 ArzneimittelG; § 17 StGB; § 354a StPO

1. Das unerlaubte Inverkehrbringen von Gamma-Butyrolacton (GBL) zu Konsumzwecken ist nach dem Arzneimittelgesetz strafbar. (BGHSt)

2. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bedarf der Arzneimittelbegriff einer einschränkenden Auslegung (BVerfG NJW 2006, 2684, 2685). Das Kriterium der subjektiven Zweckbestimmung kann bei der Einordnung eines Stoffes oder einer Zubereitung von Stoffen als Arzneimittel nicht zu einer Ausweitung des gesetzlichen Tatbestands führen, sondern angesichts der außerordentlichen tatbestandlichen Weite lediglich zu einer Begrenzung der Strafbarkeit herangezogen werden. Auf diese Weise werden Substanzen, die zwar die von § 2 Abs. 1 Nr. 5 AMG aF geschilderten Wirkungsweisen aufweisen, aber nicht zum Zweck der Einflussnahme auf den menschlichen Körper eingesetzt werden sollen, dem Anwendungsbereich der im Arzneimittelgesetz enthaltenen Strafvorschriften entzogen. Auch dem Rückgriff auf die Vorstellungen des Produktherstellers in den Fällen, in denen es an einer Verkehrsanschauung (noch) fehlt, kommt limitierende Wirkung zu (BVerfG aaO). (Bearbeiter)

3. In Fällen, in denen nach der Verkehrsanschauung objektiv kein Arzneimittel vorliegt, kann die Einordnung einer Substanz unter den Arzneimittelbegriff und damit auch die Strafbarkeit nach den arzneimittelrechtlichen Vorschriften nicht allein mit der vom Hersteller oder vom Abgebenden zum Ausdruck gebrachten Zweckbestimmung begründet werden. (Bearbeiter)

4. Ob ein Stoff (oder eine Zubereitung aus Stoffen) zu einem der in § 2 Abs. 1 Nr. 5 AMG aF aufgeführten Zwecke bestimmt ist, richtet sich grundsätzlich nach der Verkehrsanschauung. Dabei ist auf die Sicht eines durchschnittlich informierten, aufmerksamen und verständigen Durchschnittsverbrauchers – hier: der am Gebrauch euphorisierend wirkender Mittel Interessierten – abzustellen. Die Verkehrsanschauung knüpft dabei regelmäßig an eine schon bestehende Auffassung über den Zweck vergleichbarer Mittel und ihrer Anwendung an, die wiederum davon abhängt, welche Verwendungsmöglichkeiten solche Mittel ihrer Art nach haben. Die Anschauungen der Verbraucher werden weiterhin durch die stoffliche Zusammensetzung eines Erzeugnisses, die pharmakologischen Eigenschaften eines Mittels, durch die Auffassung der pharmazeutischen oder medizinischen Wissenschaft sowie durch die dem Mittel beigefügten oder in Werbeprospekten enthaltenen Indikationshinweise, Gebrauchsanweisungen oder durch die Aufmachung beein-

flusst, in der das Mittel dem Verbraucher allgemein entgegentritt. Von Bedeutung sind schließlich auch der Umfang der Verbreitung eines Produkts, seine Bekanntheit bei den Verbrauchern, aber auch die Gefahren aufgrund von Nebenwirkungen und Risiken bei längerem Gebrauch (vgl. BGHSt 46, 380, 383). (Bearbeiter)

5. Auch die Neuregelung des Arzneimittelbegriffs führt zu keinem anderen Ergebnis. Für den Bereich der sog. Funktionsarzneimittel hat der Gesetzgeber nunmehr klargestellt, dass es für die Einordnung eines Mittels als (Human)Arzneimittel allein auf dessen Wirkungsweise bei der Anwendung im oder am menschlichen Körper ankommt. Für eine Zweckbestimmung des Mittels nach objektiven Kriterien bleibt insoweit kein Raum mehr. Da durch die Einnahme von GBL die körperlichen und seelischen Zustände eines Menschen beeinflusst werden, kommt diesem Mittel eine pharmakologische Wirkung zu. Nach der Neufassung des Arzneimittelbegriffs handelt es sich bei GBL deshalb um ein (Funktions)Arzneimittel im Sinne des § 2 Abs. 1 Nr. 2a AMG. Dessen unerlaubte Abgabe an Konsumenten ist daher nach den arzneimittelrechtlichen Vorschriften verboten und unterliegt gemäß § 95 Abs. 1 Nr. 1 AMG derselben Strafandrohung wie bisher (§ 2 Abs. 1 und 3 StGB). (Bearbeiter)


Entscheidung

103. BGH 1 StR 283/09 – Beschluss vom 10. November 2009 (LG Stuttgart)

Voraussetzungen der Schätzung der Schwarzlohnsumme bei Steuerhinterziehung Vorenthalten von Arbeitsentgelt (allgemeine Grundsätze der Schätzung und primär gebotene konkrete Feststellung; Beweisindizieren und Umsetzung im Ermittlungsverfahren; Grundsätze der Strafzumessung bei zusätzlicher Verwirklichung von vorbereitenden Ordnungswidrigkeiten; Verwendung verfälschter oder nachgemachter Belege); Konkurrenzen.

§ 370 AO; § 266a Abs. 1, Abs. 2 StGB; § 263 StGB; § 14 Abs. 2 Satz 2 SGB IV; § 261 StPO

1. In der höchstrichterlichen Rechtsprechung ist anerkannt, dass tatgerichtliche Feststellungen auf tragfähige Schätzgrundlagen gestützt werden dürfen (BVerfG – Kammer -, Beschl. vom 20. März 2007 – 2 BvR 162/07). Die für die Anwendung und Durchführung einer Schätzung maßgeblichen Kriterien sind:

- Für eine annähernd genaue Berechnung fehlen aussagekräftige Beweismittel; bei Vermögensdelikten im Rahmen eines Unternehmens sind das namentlich Belege und Aufzeichnungen.

- Die Parameter der Schätzgrundlage müssen tragfähig sein.

- Die Schätzung kann auch aus verfahrensökonomischen Gründen angezeigt sein, etwa dann, wenn eine exakte Berechnung einen unangemessenen Aufklärungsaufwand erfordert und bei exakter Berechnung für den Schuldumfang nur vernachlässigbare Abweichungen zu erwarten sind.

- Im Rahmen der Gesamtwürdigung des Schätzergebnisses ist der Zweifelssatz zu beachten.

- Die Grundlagen der Schätzung müssen im tatrichterlichen Urteil für das Revisionsgericht nachvollziehbar dargestellt werden.

2. Nach diesen Grundsätzen kann – und muss auch sehr häufig – bei Betäubungsmitteldelikten die Wirkstoffkonzentration anhand bestimmter Kriterien geschätzt werden (BGH, Beschl. vom 1. Oktober 2008 – 2 StR 360/08). Die Schätzung kann etwa anhand repräsentativer Stichproben erfolgen, auch um einen unverhältnismäßigen Untersuchungsaufwand zu vermeiden (BGH StV 2008, 9). Gerade dann, wenn sich solche Feststellungen bei angemessenem Aufklärungsaufwand nicht treffen lassen, darf das Tatgericht eine an den Umständen des Falles orientierte Schätzung unter Beachtung des Zweifelssatzes vornehmen (BGH NStZ 2002, 438, 439).

3. Eine Schätzung hat die Rechtsprechung auch bei Serientaten gebilligt, wenn zwar der strafbare Gesamtschaden feststeht, die Verteilung dieses Schadens auf Einzelakte sich aber einer genauen Feststellung entzieht. Danach ist es bei einem strafbaren Gesamtverhalten, das zahlreiche serienmäßig begangene Taten umfasst, zulässig, einen rechnerisch ermittelten Teil des Gesamtgeschehens bestimmten strafrechtlich relevanten Verhaltensweisen im Wege der Schätzung zuzuordnen, wobei die Feststellung der Zahl der Einzelakte und die Verteilung des Gesamtschadens auf diese unter Beachtung des Zweifelssatzes zu erfolgen hat (BGH aaO).

4. Steht bei Vermögensstraftaten nach der Überzeugung des Tatrichters ein strafbares Verhalten des Täters fest, so kann auch hier die Bestimmung des Schuldumfangs im Wege der Schätzung erfolgen. Ein solches Verfahren ist stets zulässig, wenn sich Feststellungen auf andere Weise nicht treffen lassen. Die Schätzung ist dann sogar unumgänglich, wenn über die kriminellen Geschäfte keine Belege oder Aufzeichnungen vorhanden sind. In Fällen dieser Art hat der Tatrichter einen als erwiesen angesehenen Mindestschuldumfang festzustellen (BGH StV 2004, 578; NStZ 1999, 581).

5. Dieselben Grundsätze gelten für die Schätzung von Bemessungsgrundlagen bei der Berechnung hinterzogener Lohnsteuer und vorenthaltener Sozialversicherungsbeiträge. Auch hier muss nach der Überzeugung des Tatgerichts ein strafbares Verhalten des Täters feststehen. Steht die Strafbarkeit fest, kommt eine Schätzung des Schuldumfangs namentlich dann in Betracht, wenn mangels entsprechender Buchführung des Angeklagten eine konkrete Berechnung der Bemessungsgrundlage nicht vorgenommen werden kann (vgl. BGHSt 40, 374, 376; NStZ 2001, 599, 600; wistra 2007, 220 f., jew. m.w.N.). Die Schätzung der Besteuerungsgrundlagen muss zudem nach steuerrechtlichen Grundsätzen in sich schlüssig sein. Das ist namentlich dann der Fall, wenn ihre Ergebnisse hinsichtlich aller Bemessungsgrundlagen wirtschaftlich vernünftig und möglich sind (BGH wistra 1992, 147; NStZ 1999, 581, BFH BStBl II 1986, 226).

6. Bei der Ermittlung der Bemessungsgrundlagen zur Berechnung hinterzogener Lohnsteuer und vorenthaltener Sozialversicherungsbeiträge ist die Schätzung der Lohnsumme unter Anwendung eines Prozentsatzes bezogen auf den Nettoumsatz eines Unternehmens danach dann zulässig, wenn keine anderweitig verlässlichen Beweismittel zur Verfügung stehen oder nur mit unverhältnismäßigem Aufwand und ohne nennenswerten zusätzlichen Erkenntnisgewinn zu beschaffen sind.

7. Das Tatgericht darf eine branchenübliche Lohnquote – und zwar eine Nettolohnquote – des jeweils verfahrensgegenständlichen Gewerbes ermitteln und diese als Schätzgrundlage der weiteren Berechnung zugrunde legen. Im Bereich des lohnintensiven Baugewerbes kann das Tatgericht bei illegalen Beschäftigungsverhältnissen in Form der Schwarzarbeit grundsätzlich zwei Drittel des Nettoumsatzes als Lohnsumme – und zwar als Nettolohnsumme – veranschlagen (Senat NJW 2009, 528, 529). Die gegen eine Nettolohnquote von 60 % und mehr erhobenen Einwände hält der Senat nach nochmaliger Überprüfung nicht für berechtigt.

8. Bei der Ermittlung der Schwarzlohnsumme darf allerdings nicht vorschnell auf eine Schätzung der Lohnquote in Form eines Anteils an der Nettolohnsumme ausgewichen werden, wenn eine tatsachenfundierte Berechnung anhand der bereits vorliegenden und der erhebbaren Beweismittel möglich erscheint. Die zuverlässige Klärung, ob eine für die Berechnung verlässliche Tatsachengrundlage beschafft werden kann, ist dabei auch und besonders Aufgabe der Ermittlungsbehörden. Deshalb wäre es verfehlt und würde die Hauptverhandlung mit unnötigem Aufklärungsaufwand belasten, wenn die Ermittlungsbehörden sich darauf beschränkten, die Lohnquote zu schätzen, ohne zuvor ausermittelt zu haben, ob eine tatsachenfundierte Berechnung möglich ist.

9. Es ist ein bestimmender Strafschärfungsgrund (§ 267 Abs. 3 Satz 1 StPO), wenn in Fällen der vorliegenden Art ein Arbeitgeber nach Gesetz buchungs- oder aufzeichnungspflichtige Vorgänge nicht oder nicht richtig verbucht oder verbuchen lässt, d.h. Lohnunterlagen nicht oder unrichtig führt. Der Arbeitgeber, der Arbeitnehmer illegal beschäftigt, verwirklicht dadurch neben den Straftaten nach § 266a StGB, § 370 AO Ordnungswidrigkeitentatbestände. So führt er die nach § 28f SGB IV erforderlichen Lohnunterlagen nicht (Ordnungswidrigkeit nach § 111 Abs. 1 Nr. 3 bzw. Nr. 3a SGB IV; siehe auch § 5 Abs. 1 Nr. 6 AEntG). Daneben kommen Ordnungswidrigkeiten nach § 379 AO in Betracht. Wenngleich die Ordnungswidrigkeiten regelmäßig durch die verwirklichten Straftatbestände verdrängt oder im Hinblick auf die Straferwartung von der Verfolgung ausgenommen werden, kann bei der Strafzumessung – nach entsprechendem Hinweis an den Angeklagten – strafschärfend berücksichtigt werden, dass zur Ermöglichung und Verschleierung der Straftaten Ordnungswidrigkeiten begangen wurden (vgl. BGHSt 23, 342, 345). Der Strafschärfungsgrund kann sich bei der Strafzumessung innerhalb des gefundenen Strafrahmens, aber auch schon bei der Strafrahmenwahl auswirken.

10. Für die Strafrahmenwahl gilt: Sowohl § 266a Abs. 4 Satz 2 Nr. 2 StGB als auch § 370 Abs. 3 Satz 2 Nr. 4 AO nennen als Regelbeispiel für einen besonders schweren Fall eine fortgesetzte Verkürzung unter Verwendung nachgemachter oder verfälschter Belege. Eine bewusste und nachhaltige Manipulation von Lohnunterlagen – unter Verstoß gegen gesetzliche Aufzeichnungspflichten – zum Zwecke der Verschleierung von Schwarzarbeit mag zwar zumeist das benannte Regelbeispiel nicht erfüllen (vgl. BGH StV 2005, 213), legt aber gleichwohl bei unternehmerischer Tätigkeit mit namhaften Hinterziehungsbeträgen die Annahme eines unbenannten Regelbeispiels des besonders schweren Falles nahe.


Entscheidung

132. BGH 4 StR 524/09 – Beschluss vom 24. November 2009 (LG Bielefeld)

Voraussetzungen an die Feststellung gewerbsmäßigen Handelns beim Handeltreiben mit Betäubungsmitteln (besonders schwerer Fall); Versuch und Vollendung der Nötigung bei Drohungen für den Fall einer Strafanzeige; redaktioneller Hinweis.

§ 29 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 BtMG; § 240 Abs. 1, Abs. 3 StGB; § 263 StGB

1. Gewerbsmäßig handelt nur, wer die Vorstellung hatte, sich eine fortlaufende Einnahmequelle von einigem Umfang zu verschaffen (vgl. dazu nur BGHSt 19, 63, 76; BGHR BtMG § 29 Abs. 3 Nr. 1 Gewerbsmäßig 5). Dafür genügen zwar auch laufend erwartete Nebeneinnahmen, soweit sie von einigem Gewicht sind. Nur geringfügige Entgelte reichen indessen nicht aus.

2. Der Senat lässt offen, ob das Merkmal der Gewerbsmäßigkeit schon dann entfällt, wenn die verkaufsfertig in Tüten verpackten Marihuana-Portionen von lediglich einer Marihuana-Pflanze stammen, die der Angeklagte zuvor in seinen Besitz gebracht und abgeerntet hatte, oder ob es für die Annahme wiederholter Tatbegehung ausreicht, dass der Angeklagte beabsichtigte, diese Pflanze mehrfach abzuernten (zur fehlenden Gewerbsmäßigkeit bei einem Erwerbsvorgang vgl. BGHR BtMG § 29 Abs. 3 Nr. 1 Gewerbsmäßig 3 sowie jüngst BGH, Beschluss vom 1. September 2009 – 3 StR 601/08 [Inverkehrbringen von in einem Akt erlangtem Falschgeld]).

3. Besteht das abgenötigte Verhalten in einem Unterlassen (zum Beispiel der Erstattung einer Strafanzeige), kann Vollendung zum einen dann eintreten, wenn das Opfer die Handlung infolge des Zwangs ganz unterlässt. Vollendete Nötigung kann zum anderen auch dann gegeben sein, wenn das Tatopfer zum Beispiel die Erstattung einer Strafanzeige nur vorübergehend unterlässt, mag es auch fest entschlossen sein, die Anzeige nach Wegfall des Zwangs nachzuholen.