HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

April 2024
25. Jahrgang
PDF-Download




Strafrechtliche/strafverfahrensrechtliche Entscheidungen des BVerfG/EGMR/EuGH


Entscheidung

377. BVerfG 2 BvR 17/24 (3. Kammer des Zweiten Senats) – Beschluss vom 9. Februar 2024 (BayObLG / LG München I / AG München)

Erfolglose Verfassungsbeschwerde gegen eine Verurteilung wegen Hausfriedensbruchs (Hausverbot in Pflegeheimen grundsätzlich nur nach vorheriger Abmahnung; ausnahmsweise Entbehrlichkeit einer Abmahnung; Interessenlage im Zusammenhang mit dem Betrieb von Pflegeheimen; Vielzahl schwerwiegender Hausrechtsverstöße; Scheitern einer funktionsfähigen Besuchsregelung; Abmahnung als bloße Formalie; Interessenabwägung im Einzelfall; Kontakt zwischen Angehörigen).

Art. 6 Abs. 1 GG; § 123 Abs. 1 StGB

1. Zum Erlass eines Hausverbots gegenüber Angehörigen von Betreuten ist die Leitung eines Pflegeheims von Verfassungs wegen grundsätzlich nur aus wichtigem Grund, unter Abwägung aller entgegenstehenden Interessen – insbesondere am Kontakt zwischen den Angehörigen – sowie aller Umstände des Einzelfalls und nach vorheriger Abmahnung berechtigt. Jedoch kann eine Abmahnung entsprechend allgemeinen zivil- und verwaltungsrechtlichen Grundsätzen im Einzelfall entbehrlich sein. Dabei kann auch die besondere Interessenlage zu berücksichtigen sein, die sich im Zusammenhang mit dem Betrieb von Pflegeheimen stellt.

2. Die Verurteilung der Tochter einer in einem Pflegeheim Untergebrachten wegen Hausfriedensbruchs verstößt da-

nach nicht gegen verfassungsrechtliche Grundsätze, wenn den der Betroffenen erteilten Hausverboten zwar jeweils keine Abmahnung vorangegangen war, wenn der Betroffenen jedoch zahlreiche schwerwiegende Hausrechtsverletzungen – darunter Ausfälligkeiten gegenüber dem Personal und Verstöße gegen Covid-19-Regularien – zur Last liegen, eine funktionsfähige Besuchsregelung trotz aller Bemühungen nicht etabliert werden konnte und daher im Einzelfall nicht mehr damit zu rechnen war, dass die Betroffene ihr Verhalten nach einer Abmahnung noch ändern würde.


Entscheidung

378. BVerfG 2 BvR 637/23 (3. Kammer des Zweiten Senats) – Beschluss vom 27. Februar 2024 (LG Augsburg / AG Augsburg)

Unzulässige Verfassungsbeschwerde gegen eine Unterbringung zur Begutachtung nach Aufhebung der Unterbringungsanordnung (keine offene verfassungsrechtliche Frage von grundsätzlicher Bedeutung; Unzulässigkeit der Unterbringung bei fehlender Bereitschaft zur Mitwirkung an der Untersuchung; Aussagefreiheit des Betroffenen; allgemeines Persönlichkeitsrecht; Unverhältnismäßigkeit der Beobachtung des Alltagsverhaltens; Verbot der Totalbeobachtung; Wiederholungsgefahr).

Art. 1 Abs. 1 GG; Art. 2 Abs. 1 GG; § 81 StPO; § 20 StGB; § 21 StGB; § 63 StGB

1. Ein Rechtsschutzbedürfnis für die verfassungsgerichtliche Überprüfung der Unterbringung einer Beschuldigten in einem psychiatrischen Krankenhaus zur Vorbereitung eines Gutachtens über ihren psychischen Zustand besteht nicht mehr fort, nachdem der Unterbringungsbeschluss aufgehoben wurde, ohne vollzogen worden zu sein, und nachdem die Beschuldigte wegen Schuldunfähigkeit freigesprochen worden ist, ohne dass zugleich ihre Unterbringung nach § 63 StGB angeordnet worden wäre (Hauptsacheentscheidung zur einstweiligen Anordnung vom 19. Mai 2023 [= HRRS 2023 Nr. 745]).

2. Die entscheidungserheblichen verfassungsrechtlichen Fragestellungen zur Zulässigkeit einer Unterbringung nach § 81 StPO sind bereits geklärt. So ist die Unterbringung unzulässig, wenn sich der Betroffene weigert, die erforderlichen Untersuchungen zuzulassen beziehungsweise an ihnen mitzuwirken, und ein Erkenntnisgewinn nur bei Anwendung verbotener Vernehmungsmethoden oder eine andere Einflussnahme auf die Aussagefreiheit des Betroffenen zu erwarten ist.

3. Darüber hinaus ist die Anordnung der Unterbringung und Beobachtung auch dann unverhältnismäßig, wenn das Untersuchungskonzept darauf abzielt, den Betroffenen in seinem Alltagsverhalten und seiner Interaktion mit anderen Personen zu beobachten. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht steht einer derartigen „Totalbeobachtung“ unüberwindbar entgegen.

4. Die Gefahr der Wiederholung eines Eingriffs kann ein Interesse an einer verfassungsgerichtlichen Überprüfung nur rechtfertigen, wenn eine hinreichend konkretisierte Möglichkeit besteht, dass der Betroffene erneut ähnlichen Hoheitsakten ausgesetzt wird. Die rein theoretische Möglichkeit einer Wiederholung reicht hingegen nicht aus.


Entscheidung

379. BVerfG 2 BvR 1255/23 (1. Kammer des Zweiten Senats) – Beschluss vom 2. Februar 2024 (OLG Stuttgart / LG Heilbronn)

Telefongebühren im Strafvollzug (Recht auf effektiven Rechtsschutz; gerichtliche Pflicht zur Klärung der Konkurrenzlage und der aktuellen Tarife auf dem Markt für Gefangenentelefonie); Unzulässigkeit der Verfassungsbeschwerde bei widersprüchlichem Vorbringen zur Einhaltung der Monatsfrist.

Art. 19 Abs. 4 GG; § 23 Abs. 1 Satz 2 BVerfGG; § 93 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG; § 109 Abs. 1 StVollzG; § 120 Abs. 1 Satz 2 StVollzG; § 35 Abs. 2 Satz 2 StPO

1. Eine Strafvollstreckungskammer wird ihrer aus dem Gebot effektiven Rechtsschutzes folgenden Sachaufklärungspflicht nicht gerecht, wenn sie den Antrag eines Strafgefangenen auf Senkung der durch einen privaten Betreiber erhobenen Telefongebühren mit der Begründung zurückweist, die Tarife seien „marktgerecht“, ohne der Frage nachgegangen zu sein, welche Anbieter gegenwärtig auf dem relevanten Markt für Gefangenentelefonie miteinander konkurrieren und wie deren aktuelle Tarife gestaltet sind.

2. Eine Verfassungsbeschwerde genügt nicht den Begründungsanforderungen, wenn der Beschwerdeführer die Einhaltung der Monatsfrist nicht schlüssig darlegt, sondern zu der Frage, wann ihm der Beschluss, mit dem seine Rechtsbeschwerde verworfen worden ist, mitgeteilt worden ist, gegenüber den Fachgerichten anders vorträgt als gegenüber dem Bundesverfassungsgericht.