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HRRS-Nummer: HRRS 2005 Nr. 632

Bearbeiter: Karsten Gaede

Zitiervorschlag: EGMR, Nr. 61603/00, Urteil v. 16.06.2005, HRRS 2005 Nr. 632


EGMR Nr. 61603/00 - Urteil vom 16. Juni 2005 (Storck v. Deutschland)

Konventionskonforme Auslegung des deutschen (Zivil-)Rechts (wirksamkeitsverpflichtete Auslegung); Recht auf Freiheit und Sicherheit (Freiheit der Person; Schutzpflichten; erzwungene Unterbringung in einer privaten Klinik für Psychiatrie; Verantwortlichkeit des Staates; Rechtmäßigkeit einer Freiheitsentziehung); Recht auf Achtung des Privatlebens; Schadensersatzansprüche aus unerlaubter Handlung (Verjährungsbeginn); Entschädigung; faires Verfahren im Arzthaftungsprozess (Beweiserleichterungen; Waffengleichheit); redaktioneller Hinweis.

Art. 5 EMRK; Art. 8 EMRK; Art. 41 EMRK; Art. 2 Abs. 2 GG; § 852 BGB

Leitsätze des Bearbeiters

1. Die Vertragsstaaten einschließlich ihrer Gerichte sind verpflichtet, nationales Recht im Sinne der von der EMRK geschützten Menschenrechte auszulegen und anzuwenden. Dabei ist zu beachten, dass die EMRK darauf abzielt, Rechte zu gewährleisten, die nicht nur theoretisch oder illusorisch bleiben, sondern praktizierbar und wirksam sind.

2. Eine Person wird dann nicht ihre Freiheit im Sinne des Art. 5 I EMRK entzogen, wenn sie der ihr widerfahrenden Behandlung wirksam zugestimmt hat. Das Recht auf Freiheit gemäß Art. 5 EMRK ist aber zu bedeutsam, als dass eine vorgeblich psychiatrisch behandlungsbedürftige Person allein deshalb den Schutz des Rechts verlieren könnte, weil sie sich zunächst der Unterbringung gebeugt hat. Versucht eine in einer privaten Psychiatrieklinik inhaftierte Person zu fliehen, kann nicht mehr von ihrer Zustimmung zur Unterbringung ausgegangen werden.

3. Zu den möglichen Gründe für die Zurechnung einer unfreiwilligen Unterbringung in einer privaten Psychiatrieklinik zum Staat.

4. Die Vertragsstaaten sind nach Art. 5 Abs. 1 EMRK verpflichtet, Maßnahmen zu ergreifen, die schutzbedürftigen Personen einen effektiven Schutz vor unrechtmäßigen Freiheitsentziehungen bieten. Dieser Schutz umfasst angemessene Maßnahmen, die Freiheitsentziehungen verhindern, von denen die staatlichen Behörden wissen oder von denen sie hätten wissen können. Die Vertragsstaaten sind verpflichtet, private Psychiatrieeinrichtungen regelmäßig und kompetent zu überwachen und zu kontrollieren. Die Existenz von Strafdrohungen allein macht die Überwachung nicht entbehrlich.

5. Ein Staat kann sich seiner Verpflichtungen nach der EMRK nicht vollständig entledigen, indem er sie privaten Einrichtungen oder Personen überträgt. Die Verantwortlichkeit der Vertragsstaaten ist gegeben, wenn die Verletzung eines von der EMRK gewährten Rechts oder einer von ihr gewährten Freiheit das Ergebnis einer Missachtung der Verpflichtungen darstellt, welche die Staaten gemäß Art. 1 EMRK übernommen haben, um jene Rechte und Freiheiten jedermann innerhalb ihrer Jurisdiktion zu sichern. Art. 2 und Art. 8 EMRK verlangen dem Vertragsstaat nicht nur ab, sich aktiver Eingriffe in die danach gewährten Rechte und Freiheiten zu enthalten, sondern sie verlangen auch, dass der Vertragsstaat Schritte unternimmt, um einen Schutz gegen Beeinträchtigungen zu bieten, die von staatlichen Stellen oder von Privatbürgern ausgehen.

SACHVERHALT

I. DIE UMSTÄNDE DES FALLES

10. Die am 30. August 1958 geborene Beschwerdeführerin ist in Niederselters (Deutschland) wohnhaft.

A) Hintergrund des Falles

11. Der Fall betrifft die Unterbringung der Beschwerdeführerin in mehreren psychiatrischen Einrichtungen, ihren Aufenthalt in einer Klinik, ihre medizinische Behandlung und ihre jeweiligen Schadensersatzansprüche.

12. Die Beschwerdeführerin ist heute zu 100% schwerbehindert und bezieht eine Erwerbsunfähigkeitsrente. Sie brachte vor, ständig an beträchtlichen Schmerzen, insbesondere an Armen und Beinen und an der Wirbelsäule, zu leiden. Sie verbrachte etwa zwanzig Jahre ihres Lebens in verschiedenen psychiatrischen Einrichtungen und anderen Kliniken.

1. Die Unterbringung der Beschwerdeführerin in verschiedenen psychiatrischen Einrichtungen

13. Von Januar bis Mai 1974 (sie war damals 15 Jahre alt) und von Oktober 1974 bis Januar 1975 (sie war damals 16 Jahre alt) wurde die Beschwerdeführerin auf Betreiben ihres Vaters sieben Monate lang in der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie der Universität in Frankfurt a. Main untergebracht.

14. Vom 29. Juli 1977 (damals war sie 18 Jahre alt) bis zum 5. April 1979 wurde sie auf Betreiben ihres Vaters auf der geschlossenen Station einer privaten psychiatrischen Klinik in Bremen, der Klinik Dr. Heines, untergebracht. Zwischen der Beschwerdeführerin und ihren Eltern bestanden schwere Konflikte, aufgrund deren ihr Vater annahm, sie leide an einer Psychose. Die Mutter der Beschwerdeführerin litt an einer paranoid-halluzinatorischen Psychose.

15. Die mittlerweile volljährige Beschwerdeführerin war nicht entmündigt worden, hatte nie eine Erklärung unterzeichnet, durch die sie in ihre Unterbringung eingewilligt hätte, und es gab auch keine Gerichtsentscheidung, durch die ihre Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus genehmigt worden wäre. Die Privatklinik Dr. Heines war nicht berechtigt, Patienten aufzunehmen, bei denen nach dem Gesetz des Landes Bremen über die Unterbringung von Geisteskranken, Geistesschwachen und Süchtigen eine Unterbringung vorlag (siehe Abschnitt ,,Einschlägiges innerstaatliches Recht", unten). Am 4. März 1979 wurde die Beschwerdeführerin nach einem Fluchtversuch von der Polizei gewaltsam in die Klinik zurückgebracht.

16. Während ihres Zwangsaufenthalts in der Klinik konnte die Beschwerdeführerin keine normalen sozialen Kontakte zu Personen außerhalb der Klinik pflegen. Die Beschwerdeführerin erkrankte im Alter von drei Jahren an Poliomyelitis. Die medizinische Behandlung in der Klinik führte bei ihr zu einem Postpoliosyndrom.

17. Vom 5. April 1979 bis zum 21. Mai 1980 war die Beschwerdeführerin in einem psychiatrischen Krankenhaus in Gießen untergebracht. Sie behauptete, dass sie durch Zufall durch eine Patientin des Krankenhauses gerettet worden sei, die sie aufgenommen habe.

18. Vom 21. Januar bis vom 20. April 1981 wurde sie in der Klinik Dr. Heines erneut medizinisch behandelt; zu dieser Zeit konnte sie nicht mehr sprechen und zeigte den Ärzten zufolge Anzeichen von Autismus.

2. Die Aufenthalte der Beschwerdeführerin in den verschiedenen Krankenhäusern und Kliniken

19. Am 7. Mai 1991 befand sich die Beschwerdeführerin zur Behandlung in der neurologischen und psychiatrischen Abteilung der Dr.-Horst-Schmidt-Kliniken.

20. Vom 3. September 1991 bis zum 28. Juli 1992 wurde die Beschwerdeführerin in der Universitätsklinik für psychosomatische Medizin und Psychotherapie in Mainz, einer Körperschaft des öffentlichen Rechts, stationär behandelt, wo sie wieder sprechen lernte.

21. Vom 22. Oktober bis zum 21. Dezember 1992 befand sich die Beschwerdeführerin zur Behandlung in der orthopädischen Abteilung einer Klinik in Frankfurt/Main und vom 4. Februar bis zum 18. März 1993 in der orthopädischen Abteilung einer Klinik in Isny.

22. Am 18. April 1994 erstatte Dr. Lempp, Arzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie an der Universität Tübingen und Mitglied des Untersuchungsausschusses der Bundesregierung, auf Ersuchen der Beschwerdeführerin ein Gutachten. Darin wurde festgestellt, dass bei der Beschwerdeführerin ,,zu keinem Zeitpunkt eine Psychose aus dem schizophrenen Formenkreis vorlag" und dass ihr auffälliges Verhalten insbesondere durch die problematische familiäre Situation bedingt war.

23. Am 6. Oktober 1999 erstatte Dr. Köttgen, Fachärztin für Psychiatrie, ebenfalls auf Ersuchen der Beschwerdeführerin ein zweites Gutachten. In Übereinstimmung mit Dr. Lempp kam sie zu der Feststellung, dass die Beschwerdeführerin im Kindes- und Jugendalter nie an einer Erkrankung aus dem schizophrenen Formenkreis gelitten, sondern sich damals mitten in einer pubertären Krise befunden habe. Aufgrund der seinerzeit gestellten falschen Diagnose seien ihr über lange Jahre Medikamente verabreicht worden, deren negative Folgewirkungen bereits damals bekannt gewesen seien. Wegen der Poliomyelitis der Beschwerdeführerin wäre äußerste Vorsicht angezeigt gewesen. Diesbezüglich sei die Situation in der Klinik Dr. Heines anscheinend besonders dramatisch gewesen: Freiheitsentzug ohne richterlichen Beschluss, keine Rechtsgrundlage für die Unterbringung, eine zu hohe Dosierung der Medikamente, die auch dazu diente, die Beschwerdeführerin zu befragen, sowie Methoden, die zur ,,schwarzen Pädagogik" zu zählen seien.

B) Die von der Beschwerdeführerin betriebenen innerstaatlichen Gerichtsverfahren

1. Verfahren vor den Gerichten in Bremen

24. Am 12. Februar 1997 beantragte die Beschwerdeführerin auf der Grundlage des Gutachtens des Dr. Lempp beim Landgericht Bremen Prozesskostenhilfe und reichte gegen die Klinik Dr. Heines Schadensersatzklage ein, weil einerseits ihre Unterbringung in der Zeit vom 29. Juli 1977 bis zum 5. April 1979 und vom 21. Januar 1981 bis zum 20. April 1981 nach deutschem Recht rechtswidrig und andererseits die medizinische Behandlung wegen ihrer Poliomyelitis kontraindiziert gewesen sei. Die Zwangseinweisung und die medizinische Behandlung, der sie unterzogen worden war, hätten sowohl ihre physische als auch seelische Gesundheit zerstört.

25. Trotz ihrer wiederholten früheren Ersuchen erhielt die Beschwerdeführerin erst zu dieser Zeit, am 24. Februar 1997, Zugang zu ihrer Krankenakte der Klinik Dr. Heines.

a) Das Urteil des Landgerichts Bremen vom 9. Juli 1998

26. Am 9. Juli 1998 gab das Landgericht Bremen nach einer mündlichen Verhandlung der Schadensersatzklage der Beschwerdeführerin statt, weil ihre Unterbringung nach deutschem Recht rechtswidrig gewesen sei.

27. Die volljährige Beschwerdeführerin sei weder entmündigt gewesen noch sei ihre Unterbringung nach dem Gesetz des Landes Bremen vom 16. Oktober 1962 über die Unterbringung von Geisteskranken, Geistesschwachen und Süchtigen (Unterbringungsgesetz - siehe ,,Einschlägiges innerstaatliches Recht", unten) vom Amtsgericht angeordnet worden.

28. Dem Landgericht zufolge wäre eine solche Unterbringung nur rechtmäßig gewesen, wenn die Beschwerdeführerin ihre Einwilligung erteilt hätte, was nicht der Fall war. Einerseits habe sie das am Tag ihrer Einweisung in die Klinik ausgefüllte Aufnahmeformular nicht unterzeichnet. Andererseits habe sie keine konkludente Einwilligung zu ihrer Unterbringung und Behandlung in der Klinik erteilt. Allein aus der Tatsache, dass sie am Tag ihrer Einweisung in Begleitung ihres Vaters in die Klinik gekommen sei, ergebe sich keine wirksame Einwilligung. Aufgrund des Vortrags der Privatklinik sei es nicht auszuschließen gewesen, dass die Beschwerdeführerin damals nicht in der Lage gewesen sei, die Bedeutung und Tragweite der Unterbringung zu erkennen (,,es ist (...) vielmehr nicht auszuschließen, dass die Klägerin zum damaligen Zeitpunkt die Bedeutung und Tragweite der Unterbringung nicht erkennen konnte"). Dies ergebe sich insbesondere daraus, dass der Beschwerdeführerin seit ihrer Aufnahme sehr starke Medikamente verabreicht worden seien.

29. In diesem Zusammenhang gelangte das Landgericht zu folgender Schlussfolgerung:

,,Selbst wenn man doch von einer anfänglichen Einwilligung der Klägerin ausgehen wollte, wäre diese durch die unstreitig erfolgten Ausbruchsversuche der Klägerin und die erforderlich gewordenen Fesselungen hinfällig geworden. Spätestens zu diesen, von der Beklagten nicht näher vorgetragenen Zeitpunkten, wäre die Einholung einer gerichtlichen Anordnung erforderlich gewesen."

30. Das Landgericht befand, dass auch hinsichtlich des zweiten Unterbringungszeitraums (vom 21. Januar bis 20. April 1981) keine Einwilligung der Beschwerdeführerin vorlag, da bei ihr Anzeichen von Autismus vorlagen und sie vorübergehend ihre Fähigkeit zu sprechen verloren hatte. Auch für diesen Zeitraum wäre also eine richterliche Anordnung erforderlich gewesen.

31. Da die Beschwerdeführerin somit in jedem Fall Anspruch auf Schadensersatz hatte, prüfte das Landgericht nicht die Frage, ob die medizinische Behandlung angemessen gewesen war oder nicht.

32. Das Landgericht war auch der Meinung, dass die Schadensersatzforderung der Beschwerdeführerin nicht verjährt sei. Nach § 852 Abs. 1 BGB (siehe Abschnitt ,,Einschlägiges innerstaatliches Recht", unten) habe die dreijährige Verjährungsfrist für Ansprüche aus unerlaubter Handlung erst zu laufen begonnen, als die Verletzte von dem Schaden und der dafür verantwortlichen Person Kenntnis erlangte. Das Gericht wies darauf hin, dass man erst dann davon ausgehen könne, dass ein Geschädigter diese Kenntnis habe, wenn er in der Lage sei, eine hinreichend Erfolg versprechende Schadensersatzklage einzureichen. Erst dann sei ihm, auch im Hinblick auf seinen Gesundheitszustand, eine Klage zuzumuten. Das Gericht nahm auf die einschlägige Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs Bezug.

33. Zwar sei der Beschwerdeführerin möglicherweise bereits bewusst gewesen, dass sie gegen ihren Willen in der Klinik untergebracht worden war, doch stehe fest, dass sie während ihrer langen Aufenthalte in der psychiatrischen Klinik sehr starke Medikamente habe einnehmen müssen. Selbst nach Verlassen der Klinik sei sie noch behandelt und auch immer als psychisch krank angesehen worden. Die Beschwerdeführerin habe auch unter ,,schweren körperlichen Ausfallerscheinungen" und insbesondere einem Verlust der Sprechfähigkeit während mehr als 11 Jahren (von 1980 bis 1991/1992) gelitten. Sie konnte erst nach Ende der medizinischen Behandlungen und nach Vorlage des Gutachtens von Dr. Lempp vom 18. April 1994 - der zum ersten Mal der Meinung war, dass sie niemals an Schizophrenie gelitten habe - ihre Situation hinreichend überblicken und sich ihrer eventuellen Schadensersatzansprüche und der Möglichkeit, Klage zu erheben, bewusst werden. Ihr Prozesskostenhilfeantrag vom 12. Februar 1997 habe die dreijährige Verjährungsfrist unterbrochen. Ihr Anspruch sei daher nicht verjährt.

b) Das Urteil des Hanseatischen Oberlandesgerichts in Bremen vom 22. Dezember 2000

34. Am 22. Oktober 2000 hob das Hanseatische Oberlandesgericht in Bremen auf die Berufung der Klinik das Urteil des Landgerichts Bremen auf und wies die Klage der Beschwerdeführerin ab.

35. Das Oberlandesgericht widersprach der Feststellung des Landgerichts, dass der Beschwerdeführerin während ihres Aufenthalts und ihrer Behandlung in der Klinik die Freiheit unrechtmäßig entzogen worden sei. Bezüglich dieses strittigen Punktes sei keine Beweisaufnahme durchgeführt worden. Das Oberlandesgericht stellte fest, dass die Beschwerdeführerin in der Berufungsinstanz eingeräumt habe, in ihren Aufenthalt in der Klinik im Jahre 1981 ,,bedingt freiwillig" eingewilligt zu haben.

36. Das Oberlandesgericht ließ die Frage offen, ob die Beschwerdeführerin wegen unrechtmäßiger Freiheitsentziehung oder einer durch die medizinische Behandlung verursachten körperlichen Schädigung einen Schadensersatzanspruch aus unerlaubter Handlung habe. Ein solcher Anspruch sei nach § 852 Abs. 1 BGB, der eine dreijährige Verjährungsfrist vorsieht, in jedem Fall verjährt. Das Oberlandesgericht war der Auffassung, dass sich die Beschwerdeführerin unabhängig von dem von Dr. Lempp erstellten Gutachten stets der Tatsache bewusst gewesen sei, dass sie - wie behauptet - gegen ihren Willen untergebracht war. Sie sei sich auch der Tatsache bewusst gewesen, dass sie gegen ihren Willen Psychopharmaka eingenommen habe. Daher sei sie trotz ihrer körperlichen Ausfallerscheinungen auch in der Lage gewesen, vor Gericht Klage zu erheben. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs genüge das Bewusstsein, einen Schaden erlitten zu haben; nicht erforderlich sei die Kenntnis des Schadens in seiner Gesamtheit.

37. Außerdem befand das Oberlandesgericht, dass der Beschwerdeführerin auch keine Schadensersatzansprüche aus Vertrag wegen der medizinischen Behandlung zustünden. Dem Oberlandesgericht zufolge hatte die Beschwerdeführerin nicht hinlänglich nachgewiesen, dass sie sich konkret gegen ihre Unterbringung in dem psychiatrischen Krankenhaus zur Wehr gesetzt hatte. Ferner könne ein Behandlungsvertrag zwischen der Beschwerdeführerin und der Klinik auch stillschweigend zustande gekommen sein (konkludenter Vertrag). Es könne nicht angenommen werden, dass dieser Vertrag durch jeden krankheitsbedingten Fluchtversuch der Beschwerdeführerin beendet worden sei ("Es kann nicht angenommen werden, daß dieser konkludent geschlossene Vertrag durch jeden krankheitsbedingten Fluchtversuch beendet worden ist."). Tatsächlich habe die Klinik, wenn sie diese Fluchtversuche unterbunden habe, damit ihrer Fürsorgepflicht entsprochen. Nach dem Gutachten von Dr. Rudolf, einem von dem Oberlandesgericht bestellten Psychiater, sei die Beschwerdeführerin damals schwer krank und behandlungsbedürftig gewesen.

38. Ungeachtet dessen wies das Oberlandesgericht darauf hin, dass die Klinik den Vortrag der Beschwerdeführerin, sie sei gegen ihren Willen untergebracht worden, bestritten habe, so dass offen bleibe, ob dieser Vortrag überhaupt zutreffe.

39. Selbst wenn man nicht von einem zwischen der damals volljährigen Beschwerdeführerin und der Klinik geschlossenen Vertrag ausgehen könne, so habe doch in jedem Fall ein Vertrag zwischen der Klinik und dem Vater der Beschwerdeführerin vorgelegen, der zum Nutzen der Beschwerdeführerin konkludent geschlossen worden sei. Dieser Vertrag habe zumindest vom 29. Juli 1977 bis zum Versuch der Aufnahme in einer anderen psychiatrischen Einrichtung im Januar 1978 bestanden.

40. Im Übrigen erachtete das Oberlandesgericht die Behandlung der Beschwerdeführerin nicht für fehlerhaft und die Dosierung der Medikamente nicht für zu hoch. Diesbezüglich hielt das Oberlandesgericht das Gutachten des Dr. Rudolf für überzeugend. Bei der Würdigung des Gutachtens des Sachverständigen, der seine Auffassung sowohl schriftlich als auch mündlich während der Verhandlung dargelegt hatte, prüfte das Gericht eingehend die zum Teil anderen Schlussfolgerungen, zu denen Dr. Lempp und Dr. Köttgen in ihren auf Ersuchen der Beschwerdeführerin bestellten Gutachten gekommen waren.

2. Verfahren vor den Gerichten in Mainz und Koblenz

41. Die Beschwerdeführerin befasste auch das Landgericht Mainz mit einer Schadensersatzklage gegen die Ärzte, die sie in der Universitätsklinik Mainz behandelt hatten, und gegen die Klinik selbst. Sie sei wegen psychosomatischer Symptome behandelt worden, während sie in Wirklichkeit an einem Postpoliosyndrom gelitten habe. Da die Krankenakte über die Behandlung der Beschwerdeführerin in dieser Klinik zeitweise verschwunden war, stellte die Klinik eine etwa 100 Seiten umfassende Notakte zusammen, die der Anwalt der Beschwerdeführerin dann einsehen durfte.

42. Mit Urteil vom 5. Mai 2000 wies das Landgericht Mainz die Klage der Beschwerdeführerin ab. Es befand, dass dem Gutachten zufolge, das von Dr Ludolph, Chefarzt an der neurologischen Klinik der Universität Ulm, erstellt worden war, nicht genügend Anhaltspunkte dafür vorlägen, dass ihr Postpoliosyndrom und ihre gleichzeitigen psychischen Erkrankungen nicht richtig behandelt worden wären.

43. Im Verlauf des Berufungsverfahrens vor dem Oberlandesgericht Koblenz wurde die Originalkrankenakte der Beschwerdeführerin gefunden und ihrem Anwalt Einsicht gewährt.

44. Mit Urteil vom 30. Oktober 2001 bestätigte das Oberlandesgericht Koblenz sein eigenes Versäumnisurteil vom 15. Mai 2001, das wegen des Versäumnisses der Klägerin, an der Verhandlung teilzunehmen, ergangen war. Das Gericht bestätigte das Urteil des Landgerichts Mainz. Unter Hinzuziehung des Sachverständigengutachtens des Dr. Ludolph und zwei anderer orthopädischer Sachverständigengutachten kam das Gericht zu dem Schluss, dass die Beschwerdeführerin weder vorsätzlich noch fahrlässig einer falschen medizinischen Behandlung unterzogen worden sei. Die Tatsache, dass eines der Gutachten unter Mithilfe von Assistenzärzten des von dem Gericht beauftragten Sachverständigen erstellt worden sei, bedeute nicht, dass es vor Gericht nicht verwendet werden dürfe. Der zuständige Sachverständige habe für das Gutachten die volle Verantwortung übernommen und sei vor Gericht persönlich befragt worden. Selbst unter der Annahme, dass ein Behandlungsfehler vorliege, habe die Beschwerdeführerin, der insoweit die Beweislast obliege, überdies nicht den Nachweis dafür erbracht, dass ein kausaler Zusammenhang zwischen dem Behandlungsfehler und ihrer gesundheitlichen Schädigung bestehe. Insbesondere sei es, da keinesfalls ein schwerwiegender Behandlungsfehler vorläge, nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs nicht erforderlich, Beweiserleichterungen zu gewähren.

3. Verfahren vor dem Bundesgerichtshof

45. Die Beschwerdeführerin legte gegen das Urteil des Hanseatischen Oberlandesgerichts in Bremen vom 22. Dezember 2000, gegen das Urteil des Landgerichts Mainz vom 5. Mai 2000 und gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Koblenz vom 30. Oktober 2001 beim Bundesgerichtshof Revision ein.

46. Am 15. Januar 2002 beschloss der Bundesgerichtshof, die Revision der Beschwerdeführerin gegen das Urteil des Hanseatischen Oberlandesgerichts in Bremen nicht zur Entscheidung anzunehmen.

47. Am 5. Februar 2002 wiesen die fünf für die Entscheidung in der Rechtssache der Beschwerdeführerin zuständigen Richter des Bundesgerichtshofs deren Antrag auf Prozesskostenhilfe bezüglich deren Revision gegen die Urteile der Gerichte in Mainz und Koblenz ab, weil die Revision keine hinreichende Aussicht auf Erfolg habe. Am 25. März 2002 verwarfen dieselben fünf Richter des Bundesgerichtshofs die Revision der Beschwerdeführerin gegen die Urteile der Gerichte in Mainz und Koblenz als unzulässig, da die Beschwerdeführerin ihre Revision nicht innerhalb der gesetzlichen Frist begründet hatte.

4. Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht

48. Am 2. Februar 2002 legte die Beschwerdeführerin gegen die Entscheidung des Hanseatischen Oberlandesgerichts in Bremen vom 22. Dezember 2000 und die Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 15. Januar 2002 Verfassungsbeschwerde ein. Unter Bezugnahme auf die einschlägigen Bestimmungen des Grundgesetzes behauptete sie, in ihren Rechten auf Freiheit und Menschenwürde sowie in ihrem Recht auf ein faires Verfahren verletzt worden zu sein. Sie führte an, dass ihre körperliche Unversehrtheit verletzt worden sei. Sie legte die Bedingungen ihres Aufenthalts in den verschiedenen psychiatrischen Einrichtungen sowie die Verhandlungen vor den Bremer Gerichten und die durch diese ergangenen Urteile detailliert dar und erläuterte, warum sie der Auffassung war, dass ihre Rechte nicht gewahrt worden seien.

49. Am 19. Februar 2002 erhob die Beschwerdeführerin Verfassungsbeschwerde gegen das Urteil des Landgerichts Mainz vom 5. Mai 2000, das Urteil des Oberlandesgerichts Koblenz vom 30. Oktober 2001 und den Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 5. Februar 2002, mit dem ihr Antrag auf Prozesskostenhilfe abgewiesen worden war. Sie behauptete, in ihrem Recht auf ein faires Verfahren verletzt und durch eine falsche medizinische Behandlung geschädigt worden zu sein. Sie schilderte detailliert ihre Behandlung in der Universitätsklinik Mainz und ihre Verfahren vor den Gerichten in Mainz und Koblenz sowie die Gründe, derentwegen sie der Auffassung war, damit in ihren verfassungsmäßigen Rechten verletzt worden zu sein.

50. Mit Entscheidung vom 6. März 2002 lehnte das Bundesverfassungsgericht die Annahme der Verfassungsbeschwerden der Beschwerdeführerin zur Entscheidung ab, da diese keine grundsätzliche Bedeutung hätten, weil die aufgeworfenen Fragen in seiner eigenen Rechtsprechung bereits geklärt seien. Außerdem sei es nicht Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts, sich mit Rechtsirrtümern zu befassen, die den zuständigen Zivilgerichten unterlaufen sein sollen. Aus den Rügen der Beschwerdeführerin ergebe sich keine Verletzung ihrer verfassungsmäßigen Rechte.

II. DAS EINSCHLÄGIGE INNERSTAATLICHE RECHT UND DIE INNERSTAATLICHE PRAXIS

A) Bestimmungen über die Unterbringung von Personen in einem psychiatrischen Krankenhaus

1.. Die zur Zeit der Unterbringung der Beschwerdeführerin in der Klinik in Bremen im Jahre 1977 geltenden Bestimmungen.

51. Zur Zeit der ersten Unterbringung der Beschwerdeführerin in der Klinik in Bremen wurde die Unterbringung von Personen in einem psychiatrischen Krankenhaus im Wesentlichen durch das Gesetz des Landes Bremen vom 16. Oktober 1962 über die Unterbringung von Geisteskranken, Geistesschwachen und Süchtigen (Unterbringungsgesetz) geregelt

52. Nach § 1 Abs. 2 erfasste dieses Gesetz Fälle, in denen eine Unterbringung gegen den Willen oder ohne die Einwilligung der betroffenen Person erfolgte.

53. § 2 dieses Gesetzes bestimmte, dass die Unterbringung rechtmäßig war, wenn der Betroffene durch sein Verhalten gegen sich oder andere die öffentliche Sicherheit oder Ordnung erheblich gefährdete und die Gefahr nicht auf andere Weise abgewendet werden konnte.

54. § 3 setzte fest, dass die Unterbringung auf schriftlichen Antrag der zuständigen Verwaltungsbehörde durch das Amtsgericht anzuordnen war.

55. § 7 legte fest, dass dem Antrag auf Unterbringung einer Person ein durch einen Amtsarzt oder einen Spezialisten für Geisteskrankheiten erstelltes Gutachten über die Geisteskrankheit des Betroffenen beizufügen war. Darin war anzugeben, ob und inwiefern der Beschwerdeführer durch sein Verhalten sich selbst oder anderen gegenüber ernsthaft die öffentliche Sicherheit oder Ordnung gefährdete.

56. Nach § 8 des Gesetzes hatte das Amtsgericht dem Betroffenen einen Rechtsanwalt beizuordnen, wenn es zur Wahrnehmung seiner Interessen geboten erschien.

57. Nach § 9 hatte das Gericht den Betroffenen vor einer Entscheidung grundsätzlich anzuhören. Von einer persönlichen Anhörung konnte in Ausnahmefällen abgesehen werden, wenn die Anhörung für den Gesundheitszustand des Betroffenen nachteilig oder eine Verständigung mit ihm nicht möglich war. In diesem Fall hatte das Gericht dem Betroffenen, sofern er nicht bereits entmündigt worden war, einen Verfahrenspfleger zu bestellen.

58. Gegen die Entscheidung des Amtsgerichts war die sofortige Beschwerde zulässig (§ 10 [sic! - richtig wäre § 13] des Gesetzes). Nach einem Zeitraum von - im Prinzip - einem Jahr musste das Amtsgericht über die Fortdauer der Unterbringung entscheiden. Die weitere Unterbringung konnte nur aufgrund eines neuen, durch einen ärztlichen Sachverständigen erstellten Gutachtens angeordnet werden (§§ 15 und 16 des Gesetzes).

2. Weitere Entwicklungen

59. Am 9. Juli 1979 trat ein neues Gesetz des Landes Bremen über Hilfen und Schutzmaßnahmen bei psychischen Krankheiten in Kraft. Das Gesetz des Landes Bremen von 1962 über die Unterbringung von Geisteskranken, Geistesschwachen und Süchtigen wurde durch dieses Gesetz ersetzt, um die Patientenrechte zu stärken.

60. Gemäß § 34 dieses Gesetzes wurde insbesondere eine Kommission eingerichtet, die psychiatrische Krankenhäuser besucht. Diese Kommission besucht ohne Vorankündigung mindestens einmal jährlich die psychiatrischen Krankenhäuser, in denen Personen aufgrund eines gemäß § 17 dieses Gesetzes ergangenen Gerichtsbeschlusses untergebracht sind. Diese Besuchskommission soll insbesondere prüfen, ob die Rechte der Untergebrachten gewahrt werden, und den Patienten die Möglichkeit geben, Beschwerden vorzutragen. Einige Jahre nach Inkrafttreten des genannten Gesetzes weitete die Besuchskommission ihre Besuche auf alle psychiatrischen Krankenhäuser aus, unabhängig davon, ob in diesen Krankenhäusern Patienten aufgrund eines Gerichtsbeschlusses untergebracht waren. Diese Besuche, die über den im Wortlaut von § 34 des genannten Gesetzes vorgesehenen Auftrag hinausgingen, erfolgten mit Zustimmung der betreffenden Einrichtrungen.

B) Verwaltungsvorschriften über die Führung von Privatkliniken

61. Nach § 30 der Gewerbeordnung in der seit dem 16. Februar 1979 geltenden Fassung bedürfen Unternehmer von Privatkrankenanstalten und Privatnervenkliniken einer Konzession der zuständigen Behörde. Die Konzession ist nur dann zu versagen, wenn Tatsachen vorliegen, welche die Unzuverlässigkeit in Bezug auf die Leitung der Anstalt dartun.

C) Strafrechtliche Vorschriften

62. Nach § 239 Abs. 1 StGB wird eine Person, die einen Menschen der Freiheit beraubt, mit Freiheitsstrafe von bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. Nach Abs. 3 wird mit Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu zehn Jahren bestraft, wer einen Menschen länger als eine Woche der Freiheit beraubt oder durch die Tat oder eine während der Tat begangene Handlung eine schwere Gesundheitsschädigung des Opfers verursacht. Nach §§ 223 bis 226 des Strafgesetzbuchs (StGB) wird Körperverletzung mit Freiheitsstrafe bis zu zehn Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. Wer einen Menschen rechtswidrig mit Gewalt zu einer Handlung, Duldung oder Unterlassung nötigt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft (§ 240 Abs. 1 StGB).

D) Zivilrechtliche Vorschriften und Rechtsprechung zu Schadensersatzforderungen

63. Schadensersatzansprüche aus unerlaubter Handlung werden durch § 823 des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) geregelt. Nach § 823 Abs. 1 BGB ist eine Person, die vorsätzlich oder fahrlässig den Körper, die Gesundheit oder die Freiheit eines anderen verletzt, dem Opfer zum Ersatz des daraus entstehenden Schadens verpflichtet. Nach Abs. 2 trifft die gleiche Verpflichtung denjenigen, der vorsätzlich oder fahrlässig gegen ein den Schutz eines anderen bezweckendes Gesetz wie z. B. §§ 223 bis 226, 239 und 240 StGB verstößt. Nach § 847 Abs. 1 BGB (in der bis zum 31. Juli 2002 gültigen Fassung, die auf vor diesem Datum entstandene Schäden anzuwenden war) kann im Falle der Verletzung des Körpers oder der Gesundheit sowie im Falle der Freiheitsentziehung auch Schmerzensgeld verlangt werden. Nach § 852 StGB in der zur maßgeblichen Zeit geltenden Fassung verjähren Schadensersatzansprüche aus unerlaubter Handlung in drei Jahren von dem Zeitpunkt an, in welchem der Verletzte von dem Schaden und der Person des Ersatzpflichtigen Kenntnis erlangt.

64. Zu der maßgeblichen Zeit sah das Bürgerliche Gesetzbuch Schadensersatzansprüche bei positiver Verletzung eines zwischen einem Arzt und seinem Patienten geschlossenen Vertrags noch nicht ausdrücklich vor. Nach der gefestigten Rechtsprechung der Zivilgerichte konnte ein Betroffener gleichwohl Schadensersatzansprüche geltend machen, wenn der von ihm mit einem anderen geschlossene Vertrag von diesem vorsätzlich oder fahrlässig positiv verletzt worden und ihm dadurch ein Schaden entstanden war.

RECHTLICHE WÜRDIGUNG

I. DIE PROZESSUALE EINREDE DER REGIERUNG

65. Die Regierung wiederholte ihre im Stadium der Zulässigkeitsprüfung vorgetragene Einrede der Wiederaufnahme des Verfahrens vor dem Gerichtshof und behauptete, dass der Gerichtshof nach der Unzulässigkeitsentscheidung eines Ausschusses dazu nicht berechtigt gewesen sei. Der Gerichtshof sei dazu auch nicht befugt, wenn ein offenkundiger Tatsachenirrtum oder Fehler bei der Bewertung der einschlägigen Zulässigkeitsvoraussetzungen vorliege. Ein derartiger Irrtum sei im vorliegenden Fall jedenfalls nicht erkennbar.

66. Die Beschwerdeführerin hat sich zu diesem Punkt nicht geäußert.

67. Der Gerichtshof stellt fest, dass die Regierung ihre prozessuale Einrede der rechtskräftig entschiedenen Sache (res judicata) im Stadium der Zulässigkeitsprüfung ausführlich vorgetragen hat. In seiner Zulässigkeitsentscheidung vom 26. Oktober 2004 befand der Gerichtshof:

Der Gerichtshof räumt ein, dass weder die Konvention noch die Verfahrensordnung des Gerichtshofs eine Wiederaufnahme des Verfahrens vor dem Gerichtshof vorsehen (s. Rechtssache Karel Des Fours Walderode ./. Tschechische Republik (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 40057/98, EuGHMR 2004, 18. Mai 2004 und Rechtssache Harrach ./. Tschechische Republik (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 77532/01, 18. Mai 2004). Dennoch hat das Gericht unter außergewöhnlichen Umständen, wenn ein offenkundiger Tatsachenirrtum oder Fehler bei der Bewertung der einschlägigen Zulässigkeitsvoraussetzungen vorliegt, im Interesse der Rechtspflege die sich aus der Rechtsnatur ergebende Befugnis, einen für unzulässig erklärten Fall wieder aufzunehmen und die Irrtümer richtig zu stellen (siehe u. a. Rechtssache V.S. und T.H. ./. Tschechische Republik, Individualbeschwerde Nr. 26347/95, Kommissionsentscheidung vom 10. September 1996, Rechtssache Appietto ./. Frankreich (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 56927/00, Nr. 8, 26. Februar 2002, sowie Rechtssachen Karel Des Fours Walderode, a.a.O., und Harrach, a.a.O). Der Einwand der Regierung ist daher zurückzuweisen."

Der Gerichtshof ist der Auffassung, dass keine Veranlassung besteht, von dieser Entscheidung abzuweichen.

II. BEHAUPTETE VERLETZUNG VON ARTIKEL 5 ABS. 1 DER KONVENTION IN BEZUG AUF DIE UNTERBRINGUNG DER BESCHWERDEFÜHRERIN IN EINER PRIVATEN KLINIK VON JULI 1977 BIS APRIL 1979

68. Die Beschwerdeführerin behauptete, durch den Zwangsaufenthalt in der Klinik Dr. Heines in Bremen unter Verletzung von Artikel 5 Abs. 1 der Konvention ihrer Freiheit beraubt gewesen zu sein; dieser lautet, soweit entscheidungserheblich:

,,1. Jede Person hat das Recht auf Freiheit und Sicherheit. Die Freiheit darf nur in den folgenden Fällen und nur auf die gesetzlich vorgesehene Weise entzogen werden:

...

e) die rechtmäßige Freiheitsentziehung ... bei psychisch Kranken ..."

A) War der Beschwerdeführerin die Freiheit entzogen worden?

69. Die Beschwerdeführerin brachte vor, dass ihr in der Klinik Dr. Heines gegen ihren Willen die Freiheit entzogen worden sei. Mit Bezug auf die Feststellungen des Landgerichts Bremen betonte sie, dass sie ihre Unterbringung in dieser Klinik abgelehnt habe; dort sei sie in eine geschlossene Station eingewiesen worden und habe mit niemandem in Kontakt kommen können.

70. Dies wurde von der Regierung bestritten. Die Regierung brachte vor, dass bei der Beschwerdeführerin keine Freiheitsentziehung vorgelegen habe, denn sie habe in ihren Aufenthalt in der Klinik Dr. Heines eingewilligt. Andernfalls wäre die Beschwerdeführerin 1981 sicherlich nicht freiwillig in diese Klinik zurückgekehrt.

71. Der Gerichtshof erinnert daran, dass von der besonderen Situation der betroffenen Person auszugehen ist und vielerlei Faktoren wie die Art, die Dauer, die Wirkungen und Form der Durchführung der fraglichen Maßnahme, die sich in einer bestimmten Rechtssache ergeben, zu berücksichtigen sind, um festzustellen, ob eine Freiheitsentziehung vorliegt (siehe u. a. Rechtssachen Guzzardi ./. Italien, Urteil vom 6. November 1980, Serie A, Bd. 39, S. 33, Nr. 92, Nielsen ./. Daenmark, Urteil vom 28. November 1998, Serie A, Bd. 144, S. 24, Nr. 67, und H. M. ./. die Schweiz, Individualbeschwerde Nr. 39187/98, EuGHMR 2002-II, Nr. 42).

72. Der Gerichtshof stellt fest, dass die tatsächliche Lage der Beschwerdeführerin in der Klinik zwar weitgehend nicht bestritten wurde, das Landgericht Bremen aber der Auffassung war, dass der Beschwerdeführerin in der Klinik die Freiheit entzogen worden sei, weil sie weder ausdrücklich noch konkludent in den Klinikaufenthalt eingewilligt habe. Das Hanseatische Oberlandesgericht in Bremen vertrat hingegen die Auffassung, dass die Beschwerdeführerin entweder stillschweigend einen Behandlungsvertrag mit der Klinik geschlossen habe oder, alternativ, ein Vertrag zwischen ihrem Vater und der Klinik vorgelegen habe, der zum Nutzen der Beschwerdeführerin konkludent geschlossen worden sei. Der Gerichtshof muss den jeweiligen Tatsachenfeststellungen der innerstaatlichen Gerichte Rechnung tragen, ist im Hinblick auf die Frage, ob der Beschwerdeführerin die Freiheit im Sinne von Artikel 5 Abs. 1 der Konvention entzogen war, aber nicht an deren rechtliche Schlussfolgerungen gebunden (siehe Rechtssache H. L. ./. Vereinigtes Königreich, Individualbeschwerde Nr. 45508/99, EuGHMR 2004-IX, Nr. 90).

73. Im Hinblick auf die tatsächliche Lage der Beschwerdeführerin in der Klinik in Bremen stellt der Gerichtshof fest, dass es unbestritten ist, dass sie auf einer geschlossenen Station dieser Klinik untergebracht worden war. Sie wurde von dem Klinikpersonal ununterbrochen kontrolliert und überwacht und durfte die Klinik während ihres gesamten etwa zwanzigmonatigen Aufenthalts nicht verlassen. Nachdem die Beschwerdeführerin einen Fluchtversuch unternommen hatte, waren Fesselungen erforderlich geworden, um ihren Aufenthalt in der Klinik sicherzustellen. Nach einem gelungenen Fluchtversuch musste sie von der Polizei zurückgebracht werden. Sie konnte auch keine normalen sozialen Kontakte außerhalb der Klinik pflegen. Deshalb ist objektiv davon auszugehen, dass ihr die Freiheit entzogen worden ist.

74. Der Begriff der Freiheitsentziehung im Sinne von Artikel 5 Abs. 1 beinhaltet gleichwohl nicht nur das objektive Merkmal der Unterbringung einer Person an einem räumlich begrenzten Ort für eine nicht unerhebliche Dauer. Bei einer Person kann nur von einer Freiheitsentziehung ausgegangen werden, wenn sie darüber hinaus subjektiv in die fragliche Unterbringung nicht wirksam eingewilligt hat (siehe sinngemäß Rechtssache H. M. ./. die Schweiz, a. a. O., Nr. 46). Der Gerichtshof stellt fest, dass sich die Parteien in der vorliegenden Rechtssache nicht darüber einig sind, ob die Beschwerdeführerin in ihren Klinikaufenthalt eingewilligt hatte.

75. Im Hinblick auf die jeweiligen Tatsachenfeststellungen der nationalen Gerichte und die Faktoren, die von den Parteien nicht bestritten werden, stellt der Gerichtshof fest, dass die Beschwerdeführerin zum Zeitpunkt ihrer Aufnahme in die Klinik volljährig und nicht entmündigt war. Deshalb waren ihre Einwilligungsfähigkeit oder ihre Fähigkeit, die Aufnahme in das Krankenhaus und die Behandlung abzulehnen, unterstellt worden. Es ist unbestritten, dass sie das am Tag ihrer Einweisung ausgefüllte Formular zur Aufnahme in die Klinik nicht unterzeichnet hat. Zwar ist sie in Begleitung ihres Vaters in der Klinik erschienen. Allerdings ist das Recht auf Freiheit in einer demokratischen Gesellschaft zu bedeutend, als dass eine Person den Schutz aus der Konvention allein aus dem Grund verwirkt, dass sie sich in die Freiheitsentziehung gefügt haben mag (siehe Rechtssache De Wilde, Ooms und Versyp ./. Belgien, Urteil vom 18. Juni 1971, Serie A, Bd. 12, S. 36, Nr. 65, sowie Rechtssache H. L. ./. Vereinigtes Königreich, a. a. O., Nr,. 90).

76. Im Hinblick auf den fortdauernden Aufenthalt der Beschwerdeführerin in der Klinik erachtet der Gerichtshof die unbestrittene Tatsache, dass die Beschwerdeführerin mehrere Fluchtversuche unternommen hat, als entscheidenden Faktor in der vorliegenden Rechtssache. Sie musste gefesselt werden, um sie an der Flucht zu hindern, und nach einem gelungenen Fluchtversuch von der Polizei in die Klinik zurückgebracht werden. Unter diesen Umständen kann der Gerichtshof eine Tatsachengrundlage für die Annahme, die Beschwerdeführerin habe, soweit ihre Einwilligungsfähigkeit unterstellt wird, in ihren fortdauernden Aufenthalt in der Klinik eingewilligt, nicht erkennen. Wenn hilfsweise davon ausgegangen würde, dass die Beschwerdeführerin nach der Behandlung mit starken Medikamenten nicht mehr einwilligungsfähig war, könnte jedenfalls ihre wirksame Einwilligung in den Klinikaufenthalt nicht unterstellt werden.

77. In der Tat ergibt sich aus einem Vergleich dieses Sachverhalts mit dem der (vorgenannten) Rechtssache H. L. ./. Vereinigtes Königreich, dass eine Bestätigung dieser Feststellung unumgänglich ist. Dieser Fall betraf die Unterbringung einer volljährigen aber einwilligungsunfähigen Person in einer psychiatrischen Klinik, die sie nie zu verlassen versucht hatte; hier hatte der Gerichtshof eine Freiheitsentziehung festgestellt. In vorliegender Rechtssachen ist um so mehr eine Freiheitsentziehung festzustellen. Die fehlende Einwilligung der Beschwerdeführerin ist auch als das entscheidende Merkmal anzusehen, durch das dieser Fall sich von der Rechtssache H. M. ./. die Schweiz (a. a. O., Nr. 46) unterscheidet. Dort wurde erkannt, dass die Unterbringung eines alten Menschen in einem Pflegeheim zur Gewährleistung der nötigen medizinischen Versorgung keine Freiheitsentziehung war. Gleichwohl war die rechtsfähige Beschwerdeführerin, die in der Lage war, ihre Meinung zu äußern, noch unschlüssig, ob sie in dem Pflegeheim bleiben wollte. Die Klinik konnte daraufhin den Schluss ziehen, dass sie keine Einwände erhoben hatte.

78. Der Gerichtshof kommt deshalb zu dem Ergebnis, dass der Beschwerdeführerin die Freiheit im Sinne von Artikel 5 Abs. 1 der Konvention entzogen worden war.

B) Verantwortlichkeit des belangten Staates

1. Die Stellungnahmen der Parteien

1. Die Beschwerdeführerin

79. Die Beschwerdeführerin vertrat die Ansicht, dass ihre Freiheitsentziehung dem Staat anzulasten sei, da staatliche Stellen auf verschiedene Weise an ihrer Unterbringung beteiligt gewesen seien. Obwohl es sich bei der Klinik Dr. Heines um eine private Klinik gehandelt habe, sei der Staat in ihren Aufenthalt und ihre Behandlung in der Klinik involviert gewesen, da sie über die gesetzliche Krankenversicherung krankenversichert gewesen sei. Dies habe zwischen der Klinik und der Versicherungsgesellschaft sowie zwischen der Klinik und ihr selbst ein öffentlich-rechtliches Verhältnis begründet. Darüber hinaus sei die Klinik in das öffentliche Gesundheitssystem integriert gewesen. Die Klinik sei auch von einer Ärztin, die für eine staatliche Einrichtung tätig gewesen sei und ihre Aufnahme in die Klinik arrangiert habe, darauf hingewiesen worden, dass für ihre Unterbringung in der Klinik ein gerichtlicher Beschluss erforderlich sei. Außerdem sei sie am 4. März 1979 nach einem Fluchtversuch von der Polizei gewaltsam in die Klinik zurückgebracht worden.

80. Die Beschwerdeführerin vertrat ferner die Auffassung, dass die Willkür, mit der das Hanseatische Oberlandesgericht in Bremen die einschlägigen Bestimmungen des Bürgerlichen Gesetzbuchs ausgelegt habe, einer Verletzung von Art. 5 Abs. 1 der Konvention gleichkomme.

81. Erstens stelle die Auslegung von § 852 Abs. 1 BGB durch das Oberlandesgericht eine unverhältnismäßige Einschränkung ihrer Schadensersatzrechte dar. Es sei davon auszugehen, dass sie im Sinne dieser Bestimmung erst Kenntnis von einem durch eine bestimmte Person verursachten Schaden gehabt habe, als sie erfahren habe, dass das Verhalten der Ärzte rechtswidrig gewesen und der durch die ärztliche Behandlung entstandene Schaden auf eine falsche Behandlung und nicht auf ihren eigenen Gesundheitszustand zurückzuführen sei. Sie sei immer als geisteskrank angesehen und noch lange nach ihrer Entlassung aus der Klinik Dr. Heines medizinisch behandelt worden. Zur fraglichen Zeit habe sie während eines Zeitraums von mehr als 10 Jahren sogar die Fähigkeit zu sprechen verloren. Man könne daher bei ihr nicht von einer entsprechenden Kenntnis ausgehen, und ihr sei keine Klageerhebung zuzumuten gewesen, solange sie keine Einsicht in ihre Krankenakte habe nehmen können. Diese sei ihr erst am 24. Februar 1997, nach Anstrengung des Verfahrens vor dem Landgericht Bremen, gewährt worden. Zur Stützung dieser Sicht berief die Beschwerdeführerin sich auf eine Entscheidung des Landgerichts Marburg vom 19. Juli 1995 (Az. 5 O 33/90). In dieser Entscheidung befand das Landgericht, dass die Verjährungsfrist nach § 852 BGB erst zu laufen beginnt, wenn der Verletzte Zugang zu seiner Krankenakte hat. Erst ab diesem Zeitpunkt sei der Betroffene in der Lage zu beurteilen, ob ein Behandlungsfehler vorgelegen habe.

82. Zweitens zog die Beschwerdeführerin die von dem Oberlandesgericht hinsichtlich ihres etwaigen Schadensersatzanspruchs wegen positiver Vertragsverletzung geäußerte Annahme, sie habe einen konkludenten Vertrag mit der Klinik geschlossen, in Zweifel. Sie brachte vor, diese Auslegung sei vollkommen unverständlich und damit willkürlich. Dasselbe gelte auch für die Annahme, sie habe gemäß einem von ihrem Vater zu ihren Gunsten mit der Klinik geschlossenen Vertrag möglicherweise in ihre Behandlung eingewilligt. Sie betonte, dass sie sich, wie durch ihre Krankenakte belegt werde, gegen ihre Aufnahme in die Klinik, gegen ihren fortgesetzten Aufenthalt dort und ihre medizinische Behandlung zur Wehr gesetzt habe. In jedem Fall hätten ihre diversen Versuche, aus der Klinik zu fliehen, als Beendigung des angeblichen Behandlungsvertrags ausgelegt werden müssen. Selbst wenn man vom Bestehen eines derartigen Vertrages ausgehe, hätte dieser die Freiheitsberaubung, die gewaltsame Verabreichung von nicht indizierten Medikamenten und die Fixierungen nicht gerechtfertigt.

83. Die Beschwerdeführerin vertrat weiterhin die Ansicht, dass Deutschland nach Art. 5 Abs. 1 der Konvention positiv dazu verpflichtet gewesen wäre, sie vor einer Freiheitsentziehung durch Private zu schützen, und diese Verpflichtung nicht erfüllt habe. Sie wies darauf hin, dass für ihre Unterbringung ein Gerichtsbeschluss notwendig gewesen wäre, da sie bereits volljährig gewesen sei. Sie beanstandete, dass die Gesundheitsbehörden aufgrund ihrer Aufsichtsbefugnisse die Einhaltung dieser Voraussetzung hätten ausreichend überprüfen können. Sie betonte, dass sie während ihres Aufenthalts in der Klinik, in der sie u. a. durch die gewaltsame Verabreichung von Medikamenten an einer Flucht gehindert worden sei, nicht in der Lage gewesen sei, Hilfe von außen zu erhalten. Das Telefon sei vom Klinikpersonal überwacht worden, und sie sei nur von ihrem Vater besucht worden, der nichts unternommen habe, um ihre Entlassung zu erwirken. Sie wies darauf hin, dass der mögliche Schutz, der in psychiatrischen Einrichtungen untergebrachten Personen durch die Schaffung von Besuchskommissionen nach § 34 des Gesetzes über Hilfen und Schutzmaßnahmen bei psychischen Krankheiten (siehe Nrn. 59 und 60, oben) gewährt wurde, in ihrem Fall unwirksam gewesen sei . Das genannte Gesetz, dessen Verabschiedung belege, dass der Staat ein entsprechendes Schutzbedürfnis anerkannt habe, sei erst am 9. Juli 1979 in Kraft getreten, also nach ihrer ersten Unterbringung in der Klinik Dr. Heines. Das Gesetz habe die Gesundheitsbehörden auch nicht dazu ermächtigt, psychiatrische Einrichtungen wie die Klinik Dr. Heines zu überprüfen, denn diese Klinik sei nicht berechtigt gewesen, Personen aufgrund eines gerichtlichen Unterbringungsbeschlusses aufzunehmen. Nur ein Ombudsmann, zu dem die Patienten freien Zugang gehabt hätten, hätte die Patientenrechte angemessen schützen können. Schließlich hätten weder die Bestimmungen des deutschen Zivilrechts noch die Abhilfemöglichkeiten des Strafrechts sie vor unrechtmäßiger Freiheitsentziehung angemessen geschützt. Zwar sähen sie rückwirkende Sanktionen vor, könnten die Freiheitsentziehung selbst oder deren Fortsetzung aber nicht verhindern. Angesichts des ernsten Charakters einer Verletzung des Rechts auf Freiheit könnte dies nicht als hinreichender Schutzmechanismus angesehen werden.

b) Die Regierung

84. Die Regierung trug vor, dass die Beschwerdeführerin kein Opfer einer staatlicherseits zu verantwortenden Freiheitsentziehung gewesen sei. Die Beschwerdeführerin sei in einer privaten Klinik untergebracht worden, und es habe weder einen gerichtlichen Beschluss noch irgendeine andere Entscheidung einer staatlichen Stelle gegeben, durch die eine Unterbringung angeordnet worden wäre. Staatliche Behörden seien auch nicht durch eine Aufsicht an der Unterbringung beteiligt gewesen. Eine solche Aufsicht sei gesetzlich nur für solche Einrichtungen vorgesehen, die berechtigt seien, Patienten aufzunehmen, deren Einweisung in ein psychiatrisches Krankenhaus gerichtlich angeordnet wird. Bei der Klinik Dr. Heines habe es sich nicht um eine solche Einrichtung gehandelt. Die Klinik sei nicht verpflichtet gewesen, den staatlichen Stellen Mitteilung über die Behandlung der Beschwerdeführerin in der Klinik zu machen; dem hätte bereits die ärztliche Schweigepflicht entgegengestanden.

85. Die Regierung brachte weiter vor, dass eine Verletzung von Art. 5 Abs. 1 der Konvention durch unrichtige Anwendung des nationalen Rechts nicht vorliege. Die Beschwerdeführerin habe nicht versucht, gegen die für ihre Unterbringung in der Klinik Dr. Heines verantwortlichen Personen strafrechtlich vorzugehen. Ihre zivilrechtliche Schadensersatzklage gegen die Klinik sei vom Hanseatischen Oberlandesgericht in Bremen abgewiesen worden. Selbst unter der Annahme, dass Art. 5 der Konvention bei der Auslegung der auf diesen Fall anzuwendenden deutschen zivilrechtlichen Vorschriften durch das Oberlandesgericht in Erwägung zu ziehen sei, könne dessen Auslegung nicht als willkürlich angesehen werden. Der den Vertragsstaaten zugebilligte Ermessensspielraum sei zu berücksichtigen.

86. Einerseits könne die Berechnung der dreijährigen Verjährungsfrist nach § 852 Abs. 1 BGB (siehe Nr. 63, oben) durch das Hanseatische Oberlandesgericht in Bremen, innerhalb derer die Beschwerdeführerin ihre Ansprüche aus unerlaubter Handlung hätte geltend machen müssen, nicht als unangemessen angesehen werden. Die Beschwerdeführerin habe die Klage gegen die Klinik Dr. Heines 1997 eingereicht, d. h. achtzehn Jahre nach Ende ihrer ersten Behandlung in der Klinik. Gemäß § 852 Abs. 1 BGB beginne die Verjährung wegen eines Anspruchs aus unerlaubter Handlung zu laufen, wenn der Betroffene erfahre, dass ihm von einer bestimmten Person ein Schaden zugefügt wurde. Das Hanseatische Oberlandesgericht in Bremen habe richtigerweise festgestellt, dass die Beschwerdeführerin bereits während ihrer Unterbringung in der Klinik Kenntnis davon hatte, dass sie dort - angeblich - gegen ihren Willen festgehalten wurde. Dies werde nicht nur durch die Gutachten belegt, nach denen sie zur fraglichen Zeit tatsächlich nicht an Schizophrenie gelitten habe. Sie sei auch in der Lage gewesen, den Beruf der technischen Zeichnerin zu erlernen und die Fahrerlaubnis zu erwerben. Daher sei sie intellektuell dazu in der Lage gewesen, von dem entscheidungserheblichen Sachverhalt Kenntnis zu haben. Folglich habe das Hanseatische Oberlandesgericht in Bremen davon ausgehen können, dass die Beschwerdeführerin spätestens nach ihrer Entlassung aus der Klinik im Jahre 1981 die erforderliche Kenntnis gehabt habe und es ihr auch zuzumuten gewesen sei, ihre Klage aus unerlaubter Handlung gegen die Klinik einzureichen. In jedem Fall sei es in diesem Zusammenhang um Tatsachenfragen gegangen, bezüglich derer die zuständigen nationalen Gerichte zu entscheiden hätten.

87. Andererseits habe das Hanseatische Oberlandesgericht in Bremen auch bezüglich des möglichen Schadensersatzanspruches der Beschwerdeführerin wegen positiver Vertragsverletzung nicht willkürlich angenommen, dass die Beschwerdeführerin mit der Klinik einen konkludenten Behandlungsvertrag geschlossen habe. Sie habe sich gegen die Aufnahme in die Klinik und ihre medizinische Behandlung nicht gewehrt. Das Gericht sei auch nicht willkürlich zu der Feststellung gelangt, dass dieser Vertrag durch die diversen Versuche, aus der Klinik zu fliehen, nicht beendet worden sei. Die zusätzliche Feststellung dieses Gerichts, nach der möglicherweise ein zwischen dem Vater der Beschwerdeführerin zum Nutzen der Beschwerdeführerin mit der Klinik geschlossener Vertrag vorliege, der die Klinik nicht dazu berechtigt hätte, die Beschwerdeführerin gegen ihren Willen zu behandeln, sei daher für die Entscheidung dieses Gerichts nicht maßgeblich gewesen.

88. Die Regierung wies ferner darauf hin, dass Deutschland die positive Verpflichtung, die Beschwerdeführerin vor einer angeblichen Freiheitsentziehung durch Private zu schützen, nicht verletzt habe. Zunächst einmal sei fraglich, ob Art. 5 der Konvention überhaupt eine solche positive Verpflichtung beinhalte. In jedem Fall biete das deutsche Recht einer Person vielfältige Möglichkeiten, sich gegen Eingriffe in ihre Freiheitsrechte zu schützen. Erstens müsse eine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus durch einen Richter angeordnet werden. Zweitens hätten die Gesundheitsbehörden weitreichende Aufsichtsbefugnisse, um die Durchführung dieser Gerichtsbeschlüsse zu überwachen. Drittens seien durch § 34 des am 9. Juli 1979 in Kraft getretenen Gesetzes über Hilfen und Schutzmaßnahmen bei psychischen Krankheiten (siehe Nrn. 59 und 60, oben) Besuchskommissionen gebildet worden, deren Aufgabe es sei, die Freiheitsentziehung der nach diesem Gesetz in psychiatrische Krankenhäuser eingewiesenen Personen zu überprüfen. Damit sei ein weiterer innovativer Präventionsmechanismus geschaffen worden. Viertens werde eine Person, die eine andere Person ihrer Freiheit beraubt, nach § 239 StGB mit Freiheitsstrafe bis zu 10 Jahren bestraft (siehe Nr. 62, oben). Eine von einer unrechtmäßigen Freiheitsentziehung betroffene Person habe gemäß §§ 823 und 847 BGB auch einen Anspruch auf Schadensersatz und Schmerzensgeld (siehe Nr. 63, oben). Darüber hinaus bedürfe der Betrieb einer Privatkrankenanstalt nach § 30 der Gewerbeordnung (siehe Nr. 61, oben) einer staatlichen Genehmigung. Im Rahmen der Prüfung des Antrags der Klinik Dr. Heines auf Erteilung und Erweiterung dieser Genehmigung hätten die zuständigen staatlichen Stellen die Zuverlässigkeit der Klinikleitung sowie die ausreichende medizinische Versorgung der Patienten geprüft.

2. Würdigung durch den Gerichtshof

89. Der Gerichtshof erinnert daran, dass die Frage, ob eine Freiheitsentziehung dem Staat anzulasten ist, mit der Auslegung und Anwendung von Artikel 5 Abs. 1 der Konvention in Zusammenhang steht und Fragen zur Begründetheit der Rechtssache aufwirft, die nicht nur als vorab zu entscheidende Fragen angesehen werden können (siehe entsprechend Rechtssache Nielsen, a. a. O. S. 22, Nr. 57). Er stimmt mit den Parteien dahingehend überein, dass Deutschland in dieser Rechtssache für die Unterbringung der Beschwerdeführerin in der Privatklinik in Bremen aufgrund von drei Gesichtspunkten nach der Konvention zur Verantwortung gezogen werden könnte. Erstens könnte die Freiheitsentziehung dem Staat wegen der unmittelbaren Mitwirkung der Behörden an der Unterbringung der Beschwerdeführerin angelastet werden. Zweitens könnte eine Verletzung von Artikel 5 Abs. 1 durch den Staat insoweit festgestellt werden, als seine Gerichte in den von der Beschwerdeführerin betriebenen Schadensersatzverfahren die zivilrechtlichen Bestimmungen über ihren Anspruch nicht im Sinne von Artikel 5 ausgelegt haben. Drittens könnte der Staat seine positiven Verpflichtungen, die Beschwerdeführerin vor Eingriffen durch Private in ihre Freiheitsrechte zu schützen, verletzt haben.

a) Mitwirkung der Behörden an der Unterbringung der Beschwerdeführerin

90. Der Gerichtshof stellt fest, dass es zwischen den Parteien nicht strittig ist, dass die Unterbringung der Beschwerdeführerin in einer privaten Klinik in Bremen weder durch gerichtlichen Beschluss noch durch Beschluss einer anderen staatlichen Stelle genehmigt worden ist. Ebenso bestand zumindest zur entscheidungserheblichen Zeit kein Mechanismus zur behördlichen Kontrolle der Rechtmäßigkeit und Bedingungen der Unterbringung von in der genannten Klinik behandelten Personen.

91. Der Gerichtshof stellt gleichwohl fest, dass die Polizei die Beschwerdeführerin am 4. März 1979 nach ihrer Flucht aus der Klinik gewaltsam zurückgebracht hatte. Somit haben die Behörden an der Unterbringung der Beschwerdeführerin in der Klinik aktiv mitgewirkt. Der Gerichtshof stellt fest, dass keine Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass die ausdrückliche Weigerung der Beschwerdeführerin, in die Klinik zurückzukehren, bewirkt hat, dass die Rechtmäßigkeit der Unterbringung der Beschwerdeführerin in einem Privatkrankenhaus seitens der Polizei oder einer anderen Behörde überprüft worden ist. Obwohl die Behörden die Unterbringung der Beschwerdeführerin in der Klinik erst gegen Ende ihres Aufenthalts veranlasst hatten, waren sie verantwortlich, weil deren Unterbringung ansonsten an diesem Tag beendet gewesen wäre.

b) Mangelnde Auslegung des innerstaatlichen Rechts im Sinne von Artikel 5

92. Im vorliegenden Fall behauptete die Beschwerdeführerin, dass ihre Rechte aus Artikel 5 Abs. 1 der Konvention insoweit verletzt worden seien, als das Hanseatische Oberlandesgericht in Bremen im Hinblick auf die von ihr angestrengte Schadensersatzklage die zivilrechtlichen Bestimmungen zu ihrem Anspruch nicht im Sinne dieses Artikels ausgelegt habe. Insoweit steht ihre Beschwerde in engem Zusammenhang mit den Fragen, ob der Staat seine positiven Verpflichtungen aus Artikel 5 Abs. 1 der Konvention (siehe Nrn. 100 bis 108, unten) erfüllt hat und die Beschwerdeführerin ein faires Verfahren im Sinne von Artikel 6 Abs. 1 der Konvention gehabt hat (siehe Nrn. 130 bis 136, unten).

93. Der Gerichtshof erinnert daran, dass es nicht seine Aufgabe ist, sich mit Tatsachen- oder Rechtsirrtümern zu befassen, die den nationalen Gerichten unterlaufen sein sollen, und die Auslegung des innerstaatlichen Rechts zunächst den nationalen Behörden, insbesondere den Gerichten, obliegt. Der Gerichtshof ist gleichwohl aufgerufen zu prüfen, ob die Wirkungen einer solchen Auslegung mit der Konvention vereinbar sind (siehe u. a. Rechtssache Platakou ./. Griechenland, Individualbeschwerde Nr. 38460/97, EuGHMR 2001-I, Nr. 37). Wenn die Vertragsstaaten, und insbesondere ihre Gerichte, die nach der Konvention geschützten Rechte garantieren, sind sie verpflichtet, das innerstaatliche Recht dem Geist dieser Rechte entsprechend anzuwenden. Wenn dies nicht geschieht, kann sich eine Verletzung des fraglichen Artikels der Konvention ergeben, die dem Staat anzulasten ist. Insoweit weist der Gerichtshof erneut darauf hin, dass mit der Konvention nicht Rechte theoretischer oder illusorischer Natur sondern praktische und wirksame Rechte garantiert werden sollen (siehe entsprechend Rechtssache Artico ./. Italien, Urteil vom 13. Mai 1980, Serie A, Bd. 37, S. 15 u. 16, Nr. 33, sowie Rechtssache Von Hannover./. Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 59320/00, EuGHMR 2004-VI, Nr. 71).

94. Im vorliegenden Fall ist eine Prüfung gerechtfertigt, ob die Auslegung des Hanseatischen Oberlandesgerichts in Bremen, aufgrund deren es die Schadensersatzklage der Beschwerdeführerin abgewiesen hat, unter zwei Gesichtspunkten dem Geist des Artikels 5 entspricht. Zunächst hat das Oberlandesgericht bei der Prüfung der Schadensersatzansprüche aus unerlaubter Handlung § 852 Abs. 1 BGB in Bezug auf den Zeitpunkt, ab dem die Verjährung zu laufen begann, restriktiv ausgelegt. Dies führte dazu dass, die Forderung der Beschwerdeführerin verjährt war. Im Gegensatz zum Landgericht befand das Oberlandesgericht insbesondere, dass die Beschwerdeführerin hinreichende Kenntnis gehabt habe, um bereits während ihres Klinikaufenthalts eine Schadensersatzklage einzureichen, da ihr bewusst gewesen sei, dass ihr - wie sie behauptete - die Freiheit gegen ihren Willen entzogen worden war.

95. Bei der Entscheidung darüber, ob bei einer derartigen Auslegung des innerstaatlichen Rechts davon ausgegangen werden kann, dass sie dem Geist des Artikels 5 Abs. 1 der Konvention entspricht, hält der Gerichtshof es für hilfreich, den Ansatz der nationalen Gerichte den Grundsätzen gegenüberzustellen, die aufgrund der Konvention zur Berechnung der sechsmonatigen Frist nach Artikel 35 Abs. 1 entwickelt worden sind. Er erinnert daran, dass diese Regel unter Berücksichtigung der besonderen Umstände des Falls ohne übermäßigen Formalismus anzuwenden ist (siehe u. a. Rechtssache Toth ./. Österreich, Urteil vom 12. Dezember 1991, Serie A, Bd. 224, S. 22 bis 23, Nr. 82) Es können insbesondere besondere Umstände wie die psychische Verfassung des Beschwerdeführers vorliegen, die ihn daran hinderten, innerhalb der vorgeschriebenen Frist Beschwerde zu erheben, und den Ablauf der Verjährung unterbrechen oder hemmen können (siehe Rechtssache K. ./. Irland, Individualbeschwerde Nr. 10416/83, Kommissionsentscheidung vom 17. Mai 1984, Decisions and Reports (DR) 38, S. 160, sowie Rechtssache H. ./. Vereinigtes Königreich und Irland, Individualbeschwerde Nr. 9833/82, Kommissionsentscheidung vom 7. März 1985, (DR) 42, S. 57).

96. Insoweit ist der Gerichtshof der Auffassung, dass das Oberlandesgericht dem Recht auf Freiheit nach Artikel 5 Abs. 1 der Konvention bei der Auslegung der Verjährungsvorschriften nicht hinreichend Rechnung getragen hat. Insbesondere hat das Oberlandesgericht die Situation der Beschwerdeführerin während ihrer Unterbringung, in der sie tatsächlich nicht in der Lage war, vor Gericht Klage zu erheben, nicht berücksichtigt. Im Gegensatz zum Landgericht hat es auch ihren Schwierigkeiten nach der Entlassung aus der Klinik nicht Rechnung getragen. Die Beschwerdeführerin hatte während ihres Klinikaufenthalts und lange nach ihrer Entlassung starke Medikament erhalten. Es ist unbestritten, dass sie damals unter schweren körperlichen Ausfallerscheinungen gelitten und insbesondere mehr als elf Jahre lang (von 1980 bis 1991/1992) ihre Sprechfähigkeit verloren hatte. Sie war auch als psychisch krank angesehen worden, bis sie 1994 und 1999 schließlich zwei gegenteilige Sachverständigengutachten einholte. Darüber hinaus ist darauf hinzuweisen, dass der Beschwerdeführerin bis zur Erhebung der Klage vor dem Landgericht Bremen Einsichtnahme in die Krankenakte über ihre Behandlung in der Klinik verwehrt worden war. Insoweit berücksichtigt der Gerichtshof auch, dass aufgrund einer von der Beschwerdeführerin beigebrachten Entscheidung des Landgerichts Marburg die Verjährungsfrist nach § 852 BGB erst zu laufen beginnt, wenn der Verletzte Zugang zu seiner Krankenakte hat.

97. Zweitens ist die Prüfung gerechtfertigt, ob die Auslegung des Hanseatischen Oberlandesgerichts in Bremen hinsichtlich der Schadensersatzansprüche der Beschwerdeführerin aus Vertrag dem Geiste des Artikels 5 entspricht. Durch Abweisung dieser Klagen hat das Oberlandesgericht unterstellt, dass die Beschwerdeführerin stillschweigend einen Behandlungsvertrag mit der Klinik geschlossen habe. Insoweit verweist der Gerichtshof auf seine vorstehenden Feststellungen zu der Frage, ob der Beschwerdeführerin die Freiheit entzogen worden war (siehe Nrn. 71 bis 78, oben). Wenn man die Einwilligungsfähigkeit der Beschwerdeführerin unterstellt, ist keinerlei Tatsachengrundlage für die Annahme gegeben, dass die Beschwerdeführerin, die sich gegen ihren Aufenthalt eindeutig zur Wehr gesetzt und mehrere Fluchtversuche unternommen hat, in ihren Aufenthalt und ihre Behandlung in der Klinik eingewilligt und damit einen konkludenten Vertrag geschlossen hatte. Wäre die Beschwerdeführerin andernfalls nach der sofort einsetzenden Behandlung mit starken Medikamenten nicht mehr einwilligungsfähig gewesen, könnte ihr jedenfalls der wirksame Abschluss eines konkludenten Vertrags nicht unterstellt werden. In Anbetracht dessen hätte ein zwischen dem Vater der Beschwerdeführerin und der Klinik zum Nutzen der achtzehnjährigen Beschwerdeführerin konkludent geschlossener Vertrag, den das Oberlandesgericht hilfsweise unterstellt hatte, die Unterbringung gegen den Willen der Beschwerdeführerin nicht rechtfertigen können; dies wird von der Regierung nicht bestritten.

98. Folglich ist die Feststellung des Oberlandesgerichts, dass unter diesen Umständen eine vertragliche Beziehung bestanden habe, aufgrund deren die Beschwerdeführerin ihren Aufenthalt und ihre Behandlung in der Klinik genehmigt habe, als willkürlich anzusehen. Deshalb kann nicht davon ausgegangen werden, dass das Oberlandesgericht die innerstaatlichen zivilrechtlichen Bestimmungen, die den Schutz des durch Artikel 5 Abs. 1 garantierten Rechts auf Freiheit bezwecken, im Geiste dieses Rechts angewandt hat. Der Gerichtshof kommt schließlich nicht umhin, einen gewissen Widerspruch zwischen den Feststellungen des Oberlandesgerichts hinsichtlich der Ansprüche der Beschwerdeführerin aus Vertrag und bezüglich derer aus unerlaubter Handlung festzustellen. Bei der Prüfung der Ansprüche aus Vertrag hatte das Oberlandesgericht unterstellt, dass die Beschwerdeführerin in ihren Aufenthalt in der Klinik eingewilligt habe, sie also bereit gewesen sei, dort zu bleiben. Das Oberlandesgericht führte in Bezug auf die Ansprüche der Beschwerdeführerin aus unerlaubter Handlung gleichwohl aus, dass diese bereits bei ihrer Unterbringung in der Klinik Kenntnis davon gehabt habe, dass ihr dort gegen ihren Willen die Freiheit entzogen worden war.

99. Der Gerichtshof kommt zu dem Ergebnis, dass das Hanseatische Oberlandesgericht in Bremen, wie von den übergeordneten Gerichten bestätigt, die zivilrechtlichen Bestimmungen über die Schadensersatzansprüche der Beschwerdeführerin aus Vertrag und aus unerlaubter Handlung nicht im Sinne von Artikel 5 ausgelegt hat. Deshalb gab es einen Eingriff in das nach Artikel 5 Abs. 1 der Konvention garantierte Recht der Beschwerdeführerin auf Freiheit, der dem belangten Staat anzulasten ist.

c) Einhaltung der dem Staat obliegenden positiven Verpflichtungen

100. Der Gerichtshof ist der Auffassung, dass die besonderen Umstände der Rechtssache der Beschwerdeführerin auch eine Prüfung der Frage rechtfertigen, ob ihre Freiheitsentziehung dem belangten Staat anzulasten ist, weil dieser eine positive Verpflichtung verletzt hat, die Beschwerdeführerin vor Eingriffen in ihre Freiheit durch Private zu schützen.

101. Nach der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs greift die Verantwortlichkeit eines Staates ein, wenn die Verletzung eines der Rechte und Grundfreiheiten, wie sie in der Konvention definiert sind, sich daraus ergibt, dass der betreffende Staat seiner Verpflichtung nach Artikel 1 nicht nachgekommen ist, allen seiner Hoheitsgewalt unterstehenden Personen diese Rechte und Grundfreiheiten in seinem innerstaatlichen Recht zuzusichern (siehe u. a. Rechtssache Costello-Roberts ./. Vereinigtes Königreich, Urteil vom 25. März 1993, Serie A, Bd. 247-C, S. 57, Nr. 26, sowie Rechtssache Wos ./. Polen (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 22860/02, 1. März 2005, Nr. 60). Folglich befand der Gerichtshof ausdrücklich, dass Artikel 2 (siehe u. a. Rechtssache L.C.B. ./. Vereinigtes Königreich, Urteil vom 19. Juni 1998, Urteils- und Entscheidungssammlung 1998-III, S. 1403, Nr. 36), Artikel 3 (siehe u. a. o. a. Rechtssache Costello-Roberts, S. 57 und 58; Nrn. 26 und 28) und Artikel 8 der Konvention (siehe u. a. Rechtssache X und Y ./. die Niederlande, Urteil vom 26. März 1995, Serie A, Nr. 91, S. 11, Nr. 23, und Rechtssache Costello-Roberts, a.a.O.) dem Staat vorschreiben, nicht nur von einer tätigen Verletzung der fraglichen Rechte durch seine Vertreter abzusehen, sondern auch angemessene Maßnahmen zum Schutz gegen einen Eingriff in diese Rechte durch seine Amtsträger oder Private zu ergreifen.

102. Insoweit ist der Gerichtshof der Auffassung, dass Artikel 5 Abs. 1 Satz 1 der Konvention auch so auszulegen ist, dass er dem Staat eine positive Pflicht auferlegt, die Freiheit seiner Bürger zu schützen. Jede Schlussfolgerung, die dahin geht, dass dem so nicht sei, würde nicht nur der Rechtsprechung des Gerichtshofs, insbesondere zu Artikel 2, 3 und 8 der Konvention, widersprechen. Sie würde darüber hinaus eine große Lücke beim Schutz vor willkürlicher Freiheitsentziehung hinterlassen, die im Widerspruch zu der Bedeutung der persönlichen Freiheit in einer demokratischen Gesellschaft stehen würde. Der Staat ist daher verpflichtet, Maßnahmen zum wirksamen Schutz besonders schutzbedürftiger Personen zu ergreifen sowie angemessene Vorkehrungen zu treffen, um eine Freiheitsentziehung zu verhindern, die den Behörden bekannt ist oder bekannt sein sollte (siehe entsprechend Rechtssache Z und andere .I. Vereinigtes Königreich [GC], Individualbeschwerde Nr. 29392/95, EuGHMR 2001-V, Nr. 73, sowie Rechtssache Ilascu und andere .I. Moldau und Russland [GC], Individualbeschwerde Nr. 48787/99, EuGHMHR 2004-VII, Nrn. 332-352, 464).

103. Im Hinblick auf Personen, die einer psychiatrischen Behandlung bedürfen, stellt der Gerichtshof fest, dass der Staat verpflichtet ist, seinen Bürgern das Recht auf körperliche Unversehrtheit aus Artikel 8 der Konvention zuzusichern. Zu diesem Zweck bestehen staatlich geführte Krankenhäuser und private Kliniken nebeneinander. Der Staat kann sich nicht gänzlich seiner Verantwortung entledigen, indem er seine Verpflichtungen in diesem Bereich auf private Stellen oder Private überträgt (siehe entsprechend Rechtssache Van der Mussele ./. Belgien, Urteil vom 23. November 1983, Serie A Bd. 70, S. 14-15, Nrn 28-30 sowie die o. a. Rechtssache Wos, Nr. 60). Der Gerichtshof erinnert daran, dass der Staat in der vorstehend bezeichneten Rechtssache Costello-Roberts (S. 58, Nrn. 27 u. 28) aufgrund seiner Verpflichtung, Schülern die aus Artikel 3 und 8 der Konvention garantierten Rechte zuzusichern, für die Handlung des Schulleiters einer freien Schule verantwortlich gemacht wurde. Der Gerichtshof befindet, dass dem Staat im vorliegenden Fall ebenso stets die Pflicht oblag, private psychiatrische Kliniken zu überwachen und zu kontrollieren. Diese Einrichtungen, insbesondere solche, in denen Personen ohne Gerichtsbeschluss untergebracht sind, bedürfen nicht nur einer Konzession, sondern auch die Gründe für die Unterbringung und medizinischen Behandlung sind einer regelmäßigen fachkundigen Überprüfung zu unterziehen.

104. Der Gerichtshof stellt in Hinsicht auf den vorliegenden Fall fest, dass die Unterbringung einer nicht zur Einwilligung bereiten oder einwilligungsunfähigen Person in einem psychiatrischen Krankenhaus nach deutschem Recht hätte gerichtlich angeordnet werden müssen. In diesem Fall hatte die zuständige Gesundheitsbehörde auch Aufsichtsbefugnisse, um die Durchführung dieser Gerichtsbeschlüsse zu überwachen. Gleichwohl hatte die Klinik im Fall der Beschwerdeführerin den erforderlichen Gerichtsbeschluss trotz der fehlenden Einwilligung der Beschwerdeführerin nicht erwirkt. Deshalb hatte kein Amtsarzt je geprüft, ob die Beschwerdeführerin - was mehr als zweifelhaft war - im Sinne von Artikel 2 des Gesetzes des Landes Bremen über die Unterbringung von Geisteskranken, Geistesschwachen und Süchtigen die öffentliche Sicherheit oder Ordnung ernsthaft gefährdete. Folglich hat der Staat im Hinblick auf die etwa zwanzigmonatige Unterbringung der Beschwerdeführerin in der Klinik auch keine Rechtmäßigkeitskontrolle durchgeführt.

105. Zwar trifft es zu, dass das deutsche Recht reaktiv den mit bis zu zehn Jahren Freiheitsstrafe geahndeten Straftatbestand der Freiheitsentziehung als abschreckende Strafe vorsieht. Außerdem konnte ein Opfer nach den deutschen zivilrechtlichen Bestimmungen wegen unrechtmäßiger Freiheitsentziehung einen Schadensersatzanspruch aus unerlaubter Handlung geltend machen. Gleichwohl ist der Gerichtshof im Hinblick auf die Bedeutung des Rechts auf Freiheit nicht der Auffassung, dass solche rückwirkenden Maßnahmen für sich genommen einen wirksamen Schutz schutzbedürftiger Personen wie der Beschwerdeführerin gewährleisten. Der Gerichtshof stellt fest, dass insbesondere das Gesetz des Landes Bremen über die Unterbringung von Geisteskranken, Geistesschwachen und Süchtigen zahlreiche notwendige Vorkehrungen zum Schutz von Personen vorsah, die aufgrund eines Gerichtsbeschlusses in einer psychiatrischen Einrichtung untergebracht waren. Diese Schutzvorkehrungen wurden jedoch in den heikleren Fällen, in denen Personen ohne einen derartigen Beschluss in einer psychiatrischen Einrichtung untergebracht waren, nicht angewandt. Es ist zu bedenken, dass die Beschwerdeführerin nach ihrer Unterbringung und Behandlung mit starken Psychopharmaka nicht mehr in der Lage war, eigenständig Hilfe von außen zu erhalten.

106. Das Fehlen jeglicher effektiver staatlicher Kontrolle wird am Auffälligsten durch die Tatsache belegt, dass die Polizei die Beschwerdeführerin am 4. März 1979 gewaltsam an den Ort der Freiheitsentziehung, von dem sie geflohen war, zurückgebracht hatte. Somit hatten die Behörden - wie bereits oben ausgeführt - an der Unterbringung der Beschwerdeführerin in der Klinik mitgewirkt, und ihre Flucht und offenkundige Rückkehrunwilligkeit hatten zu keinerlei Überprüfung der Rechtmäßigkeit ihres Zwangsaufenthalts in der Klinik geführt. Dies lässt die große Missbrauchsgefahr in diesem Bereich erkennen, insbesondere in Fällen wie dem der Beschwerdeführerin, in dem Familienkonflikte und eine Pubertätskrise Ursache ihrer Schwierigkeiten und ihrer langen Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gewesen waren. Von daher ist der Gerichtshof nicht überzeugt, dass die von den staatlichen Stellen ausgeübte Aufsicht, die sich nur auf die Erteilung einer Konzession für die Führung einer Privatklinik nach § 30 der Gewerbeordnung beschränkte, ausreichte, um eine fachkundige regelmäßige Aufsicht zum Schutz vor Freiheitsentziehung in einer solchen Klinik sicherzustellen. Außerdem war § 30 der Gewerbeordnung zu Beginn der Unterbringung der Beschwerdeführerin in der Klinik als solcher nicht in Kraft.

107. Der Gerichtshof stellt fest, dass kurz nach dem Ende der Unterbringung der Beschwerdeführerin in der privaten Klinik durch § 34 des Gesetzes über Hilfen und Schutzmaßnahmen bei psychischen Krankheiten weitere Schutzvorkehrungen für Personen, die in psychiatrischen Krankenhäusern untergebracht sind, eingeführt wurden, um dem Mangel an ausreichenden Schutzvorkehrungen in diesem Bereich abzuhelfen. Insbesondere wurden Besuchskommissionen zum Besuch der psychiatrischen Einrichtungen, zur Prüfung, ob die Rechte der Patienten gewahrt werden, und um den Patienten die Möglichkeit geben, Beschwerden vorzutragen, eingerichtet. Diese Mechanismen griffen für die Beschwerdeführerin jedoch zu spät.

108. Der Gerichtshof kommt daher zu dem Schluss, dass der beklagte Staat seiner positiven Verpflichtung nicht nachgekommen ist, die Beschwerdeführerin von Juli 1977 bis April 1979 vor Eingriffen in ihre Freiheit durch Private zu schützen. Folglich ist Artikel 5 Abs. 1 Satz 1 der Konvention verletzt worden.

C) Wurde die Freiheitsentziehung ,,in der gesetzlich vorgeschriebenen Weise" vorgenommen, und war sie im Sinne des Artikels 5 Abs. 1 Buchst. e ,,rechtmäßig"?

109. Es war zwischen den Parteien nicht strittig, dass für die Unterbringung einer psychisch kranken Person gegen oder ohne ihre Willen - sofern eine derartige Unterbringung festgestellt worden war - nach § 3 des Gesetzes des Landes Bremen über die Unterbringung von Geisteskranken, Geistesschwachen und Süchtigen ein Gerichtsbeschluss erforderlich war.

110. Der Gerichtshof erinnert daran, dass die Frage, ob die Freiheitsentziehung der Beschwerdeführerin rechtmäßig und in der gesetzlich vorgeschriebenen Weise vorgenommen worden war, nur soweit zu beantworten ist, als Behörden, insbesondere Gerichte, an dem Eingriff in das Recht der Beschwerdeführerin auf Freiheit als solchem unmittelbar beteiligt waren (siehe Nrn. 90 bis 99, oben). Soweit der Eingriff sich allein aus den Handlungen Privater ergibt (siehe Nrn. 100 bis 108, oben), fällt er nicht unter Artikel 5 Abs. 1 Satz 2 der Konvention. In vorliegender Rechtssache zieht allein die Tatsache, dass der Staat seiner allgemeinen Pflicht nach Artikel 5 Abs. 1 Satz 1, das Recht der Beschwerdeführerin auf Freiheit zu schützen, nicht nachgekommen ist, eine Verletzung von Artikel 5 nach sich (siehe entsprechend o.a. Rechtssache Nielsen, Bericht der Kommission, S. 38, Nr. 102).

111. Die Rechtmäßigkeit der Freiheitsentziehung im Sinne von Artikel 5 Abs. 1 Buchst. e setzt die Übereinstimmung sowohl mit dem innerstaatlichen Recht als auch dem Zweck der nach Artikel 5 Abs. 1 Buchst. e zulässigen Beschränkungen voraus. Hinsichtlich der Übereinstimmung mit dem innerstaatlichen Recht erinnert der Gerichtshof daran, dass der Begriff ,,rechtmäßig" verfahrensmäßige und materielle Aspekte des innerstaatlichen Rechts umfasst und sich bis zu einem gewissen Grad mit der allgemeinen Anforderung aus Artikel 5 Abs. 1 überschneidet, die ,,gesetzlich vorgeschriebene Weise" einzuhalten (siehe u. a. Rechtssache Winterwerp ./. die Niederlande, Urteil vom 26. September 1979, Serie A, Bd. 33, S. 17, Nr. 39, und Rechtssache H. L. ./. Vereinigtes Königreich, a. a. O., Nr. 114).

112. Der Gerichtshof merkt an, dass der Beschwerdeführerin, wie oben festgestellt, die Freiheit gegen ihren Willen oder zumindest ohne ihr Einverständnis entzogen worden war. Unter diesen Umständen ist es unbestritten, dass die Unterbringung nach § 3 des Gesetzes des Landes Bremen über die Unterbringung von Geisteskranken, Geistesschwachen und Süchtigen (siehe Nr. 54, oben) nur mit Beschluss des zuständigen Amtsgerichts rechtmäßig gewesen wäre. Der Gerichtshof verweist insoweit auf die Feststellung des Landgerichts Bremen (siehe Nr. 29, oben):

,,Selbst wenn man von einer anfänglichen Einwilligung der Klägerin ausgehen wollte, wäre diese durch die unstreitig erfolgten Ausbruchsversuche der Klägerin und die erforderlich gewordenen Fesselungen hinfällig geworden. Spätestens zu diesen, von der Beklagten nicht näher vorgetragenen Zeitpunkten, wäre die Einholung einer gerichtlichen Anordnung erforderlich gewesen."

Da die Unterbringung der Beschwerdeführerin in einer privaten Klinik nicht durch Gerichtsbeschluss genehmigt worden war, war ihre Freiheitsentziehung im Sinne des Artikels 5 Abs. 1 Satz 2 der Konvention nicht rechtmäßig. Es ist daher nicht erforderlich zu entscheiden, ob bei der Beschwerdeführerin zuverlässig eine psychische Erkrankung der Art oder des Grades nachgewiesen worden war, die eine Zwangsunterbringung rechtfertigten.

113. Der Gerichtshof kommt zu dem Schluss, dass in der Unterbringung der Beschwerdeführerin in der Klinik Dr. Heines von Juli 1977 bis April 1979 eine Verletzung ihres nach Artikel 5 Abs. 1 der Konvention garantierten Rechts auf Freiheit zu sehen ist.

III. BEHAUPTETE VERLETZUNG VON ARTIKEL 5 ABS. 4 DER KONVENTION IN BEZUG AUF DIE UNTERBRINGUNG DER BESCHWERDEFÜHRERIN IN EINER PRIVATEN KLINIK VON JULI 1977 BIS APRIL 1979

114. Die Beschwerdeführerin rügte überdies, dass ihr kein wirksamer Rechtsbehelf zur Verfügung gestanden habe, um eine Entscheidung über die Rechtmäßigkeit ihrer Unterbringung in der Klinik zu erwirken. Sie berief sich auf Artikel 5 Abs. 4 der Konvention, der wie folgt lautet:

"Jede Person, die festgenommen oder der die Freiheit entzogen ist, hat das Recht zu beantragen, dass ein Gericht innerhalb kurzer Frist über die Rechtmäßigkeit der Freiheitsentziehung entscheidet und ihre Entlassung anordnet, wenn die Freiheitsentziehung nicht rechtmäßig ist."

115. Die Beschwerdeführerin wies unter Bezugnahme auf ihr Vorbringen zu Artikel 5 Abs. 1 der Konvention darauf hin, dass es keine hinreichenden Schutzmechanismen gegeben habe, um sicherzustellen, dass Personen, die annahmen, ihnen sei gegen ihren Willen die Freiheit entzogen worden, Zugang zu einem Gericht erhielten, um eine Entscheidung über die Rechtsmäßigkeit der Freiheitsentziehung zu erwirken. Insoweit sei Artikel 5 Abs. 4 verletzt.

116. Die Regierung hat sich zu der Frage nicht geäußert.

117. Der Gerichtshof erinnert daran, dass es bei den gerichtlichen Verfahren nach Artikel 5 Abs. 4 darauf ankommt, dass die betroffene Person Zugang zu einem Gericht hat und ihr persönlich oder erforderlichenfalls durch eine Art Vertretung Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben wird. Andernfalls sind ihr die in Freiheitsentziehungsangelegenheiten geltenden wesentlichen Verfahrensgarantien nicht gewährt worden. Bei Freiheitsentziehung wegen psychischer Erkrankung kann sich gegebenenfalls die Notwendigkeit besonderer Verfahrensgarantien erweisen, um die Interessen von Personen zu schützen, die wegen ihrer geistigen Behinderung nicht in vollem Umfang im eigenen Namen handeln können (siehe u. a. Rechtssache Winterwerp, a. a. O., S. 24, Nr. 60).

118. Der Gerichtshof stellt fest, dass das Gesetz des Landes Bremen über die Unterbringung von Geisteskranken, Geistesschwachen und Süchtigen (siehe Nrn. 51 bis 58, oben) grundsätzlich ausdrücklich bestimmte, dass die Freiheitsentziehung einer Person wegen psychischer Erkrankung wiederkehrend gerichtlich zu überprüfen ist. Im Rahmen dieses Verfahrens konnte dem Betroffenen zur Wahrnehmung seiner Interessen ein Rechtsanwalt beigeordnet werden, und er musste vor Gericht entweder persönlich oder über einen Vertreter angehört werden. Gleichwohl war die Beschwerdeführerin, die während ihrer Unterbringung in der Klinik offenbar keine Hilfe von Außen erhalten konnte, im vorliegenden Fall nicht in der Lage, ein derartiges gerichtliches Überprüfungsverfahren anzustrengen. Von daher ist es in der Tat fraglich, ob es hinreichende Schutzmechanismen gegeben hat, die garantiert hätten, dass die Beschwerdeführerin wirksamen Zugang zu einem Gericht erhielt, um die Rechtmäßigkeit der Freiheitsentziehung überprüfen zu lassen. Die in dieser Hinsicht aufgeworfenen Fragen entsprechen jedoch im Wesentlichen denen, die im Hinblick auf die positive Verpflichtung des Staates, die Beschwerdeführerin vor Eingriffen in ihre Freiheit zu schützen, aufgeworfen wurden. Unter Berücksichtigung seiner vorstehenden Feststellungen im Hinblick darauf, dass der Staat diesen positiven Verpflichtungen nach Artikel 5 Abs. 1 der Konvention (Nrn. 100 bis 108, oben) nicht nachgekommen ist, ist der Gerichtshof daher der Auffassung, dass eine eigene Frage nach Artikel 5 Abs. 4 der Konvention nicht aufgeworfen wird.

IV. BEHAUPTETE VERLETZUNG VON ARTIKEL 5 ABS. 5 DER KONVENTION IN BEZUG AUF DIE UNTERBRINGUNG DER BESCHWERDEFÜHRERIN IN EINER PRIVATEN KLINIK VON JULI 1977 BIS APRIL 1979

119. Die Beschwerdeführerin trug vor, dass die enge Auslegung der für ihren Entschädigungsanspruch maßgeblichen innerstaatlichen Bestimmungen durch das Hanseatische Oberlandesgericht in Bremen, ihr das Recht genommen habe, wegen der Freiheitsentziehung Schadensersatz geltend zu machen. Sie berief sich auf Artikel 5 Abs. 5 der Konvention, der wie folgt lautet:

,,Jede Person, die unter Verletzung dieses Artikels von Festnahme oder Freiheitsentziehung betroffen ist, hat Anspruch auf Schadensersatz."

120. Die Beschwerdeführerin trug unter Bezugnahme auf ihr Vorbringen zu Artikel 5 Abs. 1 der Konvention vor, dass die Auslegung der maßgeblichen Bestimmungen über die Verjährungsfrist durch das Hanseatische Oberlandesgericht in Bremen eine unverhältnismäßige Einschränkung ihres Schadensersatzanspruchs darstelle. Das Oberlandesgericht habe ihr praktisch das Recht verwehrt, wegen der unrechtmäßigen Freiheitsentziehung Schadensersatz geltend zu machen. Dies gelte ebenfalls für die Feststellung des Oberlandesgerichts, sie habe durch den angeblich mit der Klinik konkludent geschlossenen Vertrag in ihre Unterbringung oder ihre medizinische Behandlung eingewilligt.

121. Die Regierung vertrat auch unter Bezugnahme auf ihr Vorbringen zu Artikel 5 Abs. 1 der Konvention die Auffassung, dass die Beschwerdeführerin nicht von einer Freiheitsentziehung nach Artikel 5 Abs. 1 der Konvention betroffen gewesen sei. Würde man jedoch von einer Freiheitsentziehung ausgehen, so hätte sie nach deutschem Recht aber Anspruch auf Schadensersatz. Die Feststellungen des Hanseatischen Oberlandesgerichts in Bremen, insbesondere im Hinblick auf die Berechnung der maßgeblichen Frist und die Annahme eines konkludent geschlossenen Vertrags über die Behandlung der Beschwerdeführerin, könnten nicht als unangemessen angesehen werden. Daher sei ihre Schadensersatzforderung nicht willkürlich abgewiesen worden.

122. Der Gerichtshof erinnert daran, dass Artikel 5 Abs. 5 der Konvention einen unmittelbaren Entschädigungsanspruch bewirkt, sofern die nationalen Gerichte oder die Konventionsorgane festgestellt haben, dass einem Beschwerdeführer unter Verletzung von Artikel 5 Absätze 1 bis 4 der Konvention die Freiheit entzogen worden war (siehe u. a. Rechtssache Brogan und andere ./. Vereinigtes Königreich, Urteil vom 29. November 1988, Serie A, Bd. 145, S. 35, Nr. 67). Im vorliegenden Fall hat der Gerichtshof in der Tat erkannt, dass die Beschwerdeführerin unter Verletzung von Artikel 5 Abs. 1 der Konvention in der Klinik festgehalten worden war. Gleichwohl stellt der Gerichtshof fest, dass die Beschwerdeführerin ihre Rüge nach Artikel 5 Abs. 1 ihrem wesentlichen Inhalt nach wiederholt, wenn sie die Auslegung der Bestimmungen zum Schadensersatz durch das nationale Gericht beanstandet. Der Gerichtshof ist im Hinblick auf seine vorstehenden Feststellungen zu dem Umstand, dass das Oberlandesgericht die geltenden zivilrechtlichen Bestimmungen nicht im Sinne von Artikel 5 Abs. 1 der Konvention ausgelegt hat (siehe Nrn. 92 bis 9, oben), der Auffassung, dass eine eigene Frage nach Artikel 5 Abs. 5 der Konvention nicht aufgeworfen wird.

V. BEHAUPTETE VERLETZUNG VON ARTIKEL 5 ABSÄTZE 1, 4 UND 5 DER KONVENTION IN BEZUG AUF DEN AUFENTHALT DER BESCHWERDEFÜHRERIN IN EINER PRIVATEN KLINIK VON JANUAR BIS APRIL 1981

123. Die Beschwerdeführerin rügte, sie sei auch während ihres zweiten Aufenthalts in der Klinik Dr. Heines von Januar bis April 1981 ihrer Freiheit beraubt gewesen. Sie berief sich auf Artikel 5 Abs. 1 der Konvention, der, soweit entscheidungserheblich, wie folgt lautet:

,,Jede Person hat das Recht auf Freiheit und Sicherheit. Die Freiheit darf nur in den folgenden Fällen und nur auf die gesetzlich vorgesehene Weise entzogen werden:

...

e) die rechtmäßige Freiheitsentziehung ... bei psychisch Kranken ..."

Sie trug darüber hinaus vor, sie habe keinen hinreichenden Zugang zu einem Gericht erhalten, um eine Entscheidung über die Rechtmäßigkeit ihrer Freiheitsentziehung in der Klinik, die gegen Artikel 5 Abs. 4 der Konvention verstieß, zu erwirken; Artikel 5 Abs. 4 lautet:

,,Jede Person, die festgenommen oder der die Freiheit entzogen ist, hat das Recht zu beantragen, dass ein Gericht innerhalb kurzer Frist über die Rechtmäßigkeit der Freiheitsentziehung entscheidet und ihre Entlassung anordnet, wenn die Freiheitsentziehung nicht rechtmäßig ist."

Sie brachte überdies vor, dass die Auslegung der für ihren Entschädigungsanspruch maßgeblichen innerstaatlichen Bestimmungen durch das Hanseatische Oberlandesgericht in Bremen eine unverhältnismäßige Beschränkung ihres Anspruchs darstelle, die ihr praktisch das Recht genommen habe, wegen der unrechtmäßigen Freiheitsentziehung Schadensersatz geltend zu machen. Sie berief sich auf Artikel 5 Abs. 5 der Konvention, der wie folgt lautet:

,,Jede Person, die unter Verletzung dieses Artikels von Festnahme oder Freiheitsentziehung betroffen ist, hat Anspruch auf Schadensersatz."

124. Die Beschwerdeführerin behauptete, auch während ihres Aufenthalts in der Klinik Dr. Heines im Jahre 1981 ihrer Freiheit beraubt gewesen zu sein. Sie sei durch ihren Hausarzt einwiesen worden, da sie nach ihrem abrupten Absetzen aller Medikamente an starken Entzugserscheinungen gelitten habe. Von daher habe sie in die Freiheitsentziehung in dieser Klinik nicht eingewilligt.

125. Dies wurde von der Regierung bestritten. Sie brachte vor, dass sich die Beschwerdeführerin, wie das Hanseatische Oberlandesgericht in Bremen korrekt festgestellt habe, ohne Zwang in die Klinik begeben habe. Sie habe die Fortführung ihrer medizinischen Behandlung dort gewünscht, weil sich ihr Gesundheitszustand beträchtlich verschlechtert habe. Daher liege offensichtlich keine Freiheitsentziehung vor.

126. Der Gerichtshof stellt fest, dass bezüglich des zweiten Klinikaufenthalts bei der Beschwerdeführerin nur eine Freiheitsentziehung angenommen werden könnte, wenn sie in ihren Aufenthalt und ihre Behandlung in der Klinik nicht eingewilligt hätte. Im Hinblick auf die jeweiligen Tatsachenfeststellungen der innerstaatlichen Gerichte stellt der Gerichtshof fest, dass die Beschwerdeführerin aus eigenem Antrieb in der Klinik erschienen war. Diese Feststellung wird nicht durch den Umstand in Frage gestellt, dass der Hausarzt der Beschwerdeführerin ihr wegen der starken Entzugserscheinungen, an denen sie nach ihrem abrupten Absetzen aller Medikamente gelitten hatte, möglicherweise dazu geraten hat. Allein durch die Tatsache, dass die Beschwerdeführerin sich zunächst in ihre Freiheitsentziehung gefügt haben mag, verwirkt sie aber noch nicht den Schutz aus Artikel 5 Abs. 1 hinsichtlich ihres gesamten Klinikaufenthalts (siehe entsprechend Rechtssache De Wilde, Ooms and Versyp, a. a. O. S. 36, Nr 65, und Rechtssache H.L. ./. Vereinigtes Königreich, a. a. O., Nr. 90).

127. Zwar war die Beschwerdeführerin nach den übereinstimmenden Feststellungen des Landgerichts und Oberlandesgerichts am Tag ihrer Aufnahme in die Klinik nicht in der Lage zu sprechen und zeigte Anzeichen von Autismus. Gleichwohl war die volljährige Beschwerdeführerin nicht entmündigt worden. Daher ist davon auszugehen, dass sie zumindest während ihrer Behandlung in der Klinik im Jahre 1981 noch wirksam einwilligungsfähig war. Darüber hinaus hält der Gerichtshof es für bedeutsam, dass die Beschwerdeführerin, der das Klinikregime und die dortigen Behandlungsmethoden aus ihrem ersten Aufenthalt von 1977 bis 1979 bekannt waren, in dem Verfahren vor dem Hanseatischen Oberlandesgericht Bremen selbst eingeräumt hatte, wegen des Behandlungsbedarfs in ihren Aufenthalt in der Klinik ,,bedingt freiwillig" eingewilligt zu haben. Überdies war entgegen den Feststellungen zur ersten Unterbringung der Beschwerdeführerin in der Klinik für 1981 kein Fluchtversuch aus der Klinik festgestellt worden.

128. Unter diesen Umständen bietet der tatsächliche Hintergrund des zweiten Aufenthalts der Beschwerdeführerin in der Klinik im Gegensatz zu ihrem ersten Aufenthalt keinen Raum für eine Schlussfolgerung, dass sie gegen ihren Willen oder ohne ihre Einwilligung in der Klinik untergebracht worden war. Daher liegt keine Freiheitsentziehung im Sinne des Artikels 5 Abs. 1 der Konvention vor. Folglich ist Artikel 5 Abs. 1 der Konvention nicht verletzt worden.

129. Aufgrund der Feststellung, dass bei der Beschwerdeführerin keine Freiheitsentziehung im Sinne des Artikels 5 vorlag, ist auch Artikel 5 Absätze 4 und 5 der Konvention nicht verletzt worden.

VI. BEHAUPTETE VERLETZUNG VON ARTIKEL 6 ABSATZ 1 DER KONVENTION IN BEZUG AUF BEIDE AUFENTHALTE DER BESCHWERDEFÜHRERIN IN EINER PRIVATEN KLINIK

130. Die Beschwerdeführerin brachte ferner vor, dass die enge Auslegung der für ihren Entschädigungsanspruch maßgeblichen Bestimmungen und die Bewertung eines ärztlichen Sachverständigengutachtens durch das Oberlandesgericht sie in ihrem aus Artikel 6 Abs. 1 geschützten Recht auf ein faires Verfahren verletzt hätten, der, soweit maßgeblich, lautet:

,,Jede Person hat ein Recht darauf, dass über Streitigkeiten in Bezug auf ihre zivilrechtlichen Ansprüche und Verpflichtungen ... von einem ... Gericht in einem fairen Verfahren ... verhandelt wird."

131. Die Beschwerdeführerin wies unter Bezugnahme auf ihre Vorbringen zu Art. 5 Abs. 1 der Konvention darauf hin, dass die Art der Anwendung und Auslegung der für ihren Entschädigungsanspruch maßgeblichen deutschen Rechtsvorschriften durch das Hanseatische Oberlandesgericht in Bremen einer Verletzung ihres nach Art. 6 Abs. 1 der Konvention garantierten Rechts auf ein faires Verfahren gleichkomme. Außerdem habe der von dem Oberlandesgericht angehörte Sachverständige sein Gutachten auf unzulängliche Art erstellt, weil er sie nicht untersucht habe. Sie rügte die Art und Weise, in der das Oberlandesgericht dessen in sich widersprüchliche Stellungnahme gewürdigt hatte.

132. Die Regierung vertrat die Auffassung, dass die Würdigung des erheblichen Sachverhalts und die Auslegung der maßgeblichen innerstaatlichen Rechtsvorschriften durch das Hanseatische Oberlandesgericht in Bremen nicht willkürlich gewesen seien und das Verfahren damit auch nicht unfair gewesen sei. Sie verwies in diesem Zusammenhang auf ihre Ausführungen zu Artikel 5 der Konvention. Sie trug weiterhin vor, dass der Beschwerdeführerin und ihrem Verfahrensbevollmächtigten reichlich Gelegenheit gegeben worden sei, den gerichtlich bestellten Sachverständigen zu befragen und zu seinem Gutachten mündlich und schriftlich Stellung zu nehmen; diese Möglichkeiten hätten sie auch wahrgenommen. Das Oberlandesgericht habe die Positionen der Parteien und die ihm vorliegenden drei Sachverständigengutachten - zwei waren von der Beschwerdeführerin eingereicht worden - in der Urteilsbegründung sorgfältig geprüft.

133. Soweit die Beschwerdeführerin die Art der Auslegung und Anwendung der für ihren Entschädigungsanspruch maßgeblichen deutschen Rechtsvorschriften durch das Hanseatische Oberlandesgericht in Bremen rügte, ist der Gerichtshof in Anbetracht seiner diesbezüglichen Feststellungen nach Artikel 5 Abs. 1 (siehe Nrn. 92 bis 99) der Auffassung, dass eine eigene Frage nach Artikel 6 Abs. 1 der Konvention nicht aufgeworfen wird.

134. Die Beschwerdeführerin trug darüber hinaus vor, dass ihr ein faires Verfahren verwehrt worden sei, weil sich in dem Verfahren die fehlende Kompetenz des von dem Oberlandesgericht angehörten Sachverständigen herausgestellt habe; zudem habe des Gericht dessen Stellungnahme nicht korrekt gewürdigt. Hierzu erinnert der Gerichtshof daran, dass es nicht seine Aufgabe ist, sich mit Tatsachen- oder Rechtsirrtümern zu befassen, die einem nationalen Gericht unterlaufen sein sollen, soweit die nach der Konvention geschützten Rechte und Freiheiten hierdurch nicht verletzt sind. Zwar garantiert Artikel 6 der Konvention das Recht auf ein faires Verfahren, stellt aber keine Regeln über die Zulässigkeit von Beweismitteln oder die Beweiswürdigung auf, die deshalb vor Allem durch innerstaatliches Recht zu regeln und Sache der nationalen Gerichte sind (siehe unter anderem Rechtssache Schenk ./. die Schweiz, Urteil vom 12. Juli 1988, Serie A, Bd. 140, S. 29, Nrn. 45 und 46, und Rechtssache García Ruiz ./. Spanien [GC], Individualbeschwerde Nr. 30544/96, EuGHMR 1999-I, Nr. 28).

135. Der Gerichtshof stellt fest, dass der von dem Oberlandesgericht bestellte psychiatrische Sachverständige ein überzeugendes ärztliche Gutachten erstellt hatte, das er in einer mündlichen Verhandlung, in der den Parteien auch Gelegenheit gegeben wurde, Fragen zu stellen, erläuterte. Die Feststellungen der beiden zuvor auf Ersuchen der Beschwerdeführerin erstatteten Sachverständigengutachten wurden von dem Gericht bei der Beweiswürdigung sorgfältig geprüft. Hinsichtlich der Rüge der Beschwerdeführerin, der Sachverständige habe sie nicht untersucht, stellt der Gerichtshof fest, dass es nicht Aufgabe des Sachverständigen gewesen sei, den Gesundheitszustand der Beschwerdeführerin im Zeitpunkt des Verfahrens sondern zur Zeit ihrer Aufenthalte in der Klinik vor über fünfzehn Jahren zu beurteilen. Daher kommt der Gerichtshof auf der Grundlage des ihm zur Verfügung stehenden Materials zu dem Schluss, dass die Wahl des Sachverständigen und die Würdigung seines Gutachtens mangelnde Fairness des Gerichtsverfahrens nicht erkennen lassen.

136. Daraus folgt, dass, soweit sich eigene Fragen nach Artikel 6 Abs. 1 der Konvention ergeben, auf die unter dem Blickwinkel des Artikels 5 Abs. 1 der Konvention noch nicht eingegangen worden ist, eine Verletzung von Artikel 6 nicht vorliegt.

VII. BEHAUPTETE VERLETZUNG VON ARTIKEL 8 DER KONVENTION IN BEZUG AUF BEIDE AUFENTHALTE DER BESCHWERDEFÜHRERIN IN EINER PRIVATEN KLINIK

137. Die Beschwerdeführerin trug vor, sie habe in der Sache auch eine Verletzung von Artikel 8 der Konvention gerügt, und zwar im Hinblick auf die Freiheitsbeschränkungen, die Fixierungen und die gegen ihren Willen durchgeführte ärztliche Behandlung während ihrer Aufenthalte in der Klinik Dr. Heines von 1977 bis 1979 und 1981. Dieser Sachverhalt sollte auch unter dem Aspekt einer Verletzung von Artikel 3 der Konvention geprüft werden.

138. Der Gerichtshof ist der Auffassung, dass die Rügen der Beschwerdeführerin allein aufgrund von Artikel 8 der Konvention zu prüfen sind, der soweit maßgeblich, lautet:

,,1. Jede Person hat ein Recht auf Achtung ihres Privat(...)lebens ...

2. Eine Behörde darf in die Ausübung dieses Rechts nur eingreifen, soweit der Eingriff gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist für die nationale oder öffentliche Sicherheit, für das wirtschaftliche Wohl des Landes, zur Aufrechterhaltung der Ordnung, zur Verhütung von Straftaten, zum Schutz der Gesundheit oder der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer."

139. Unter Verweis auf ihre Ausführungen zu Artikel 5 Abs. 1 der Konvention trug die Beschwerdeführerin vor, sie habe kontraindizierte Medikamente erhalten, die zu einem Postpoliosyndrom geführt hätten. Wenn sie sich geweigert habe, Medikamente einzunehmen, seien ihr diese gewaltsam verabreicht worden. Ihr seien Unmengen von Psychopharmaka und Neuroleptika verabreicht worden, und sie sei an Betten, Stühle und Heizkörper gefesselt worden. Sie sei jahrelang als geisteskrank angesehen worden, und die Behandlung habe ihre Gesundheit und sogar ihr Leben für immer zerstört. Sowohl die Freiheitsentziehungen als auch die Verletzung ihres Rechts auf körperliche Unversehrtheit seien dem Staat anzulasten. Überdies sei Deutschland seiner positiven Verpflichtung, sie vor diesen Eingriffen in ihr Recht auf Achtung des Privatlebens zu schützen, nicht nachgekommen.

140. Die Regierung betonte, dass die Beschwerdeführerin sich in ihrer bei dem Gerichtshof eingereichten Individualbeschwerde nicht explizit auf Artikel 3 oder 8 der Konvention berufen habe. Unter Hinweis auf ihre Ausführungen zu Artikel 5 vertrat sie die Auffassung, dass weder die angebliche Freiheitsentziehung der Beschwerdeführerin noch die behaupteten Behandlungsfehler während ihrer Unterbringung dem Staat zuzurechnen seien. Aus denselben Gründen habe der Staat - wie bereits zu Artikel 5 ausgeführt - auch seine positive Verpflichtung erfüllt, einen wirksamen Schutz der Rechte der Beschwerdeführerin nach Artikel 3 und 8 zu garantieren. Die Beschwerdeführerin habe insbesondere die Möglichkeit gehabt, gegen die sie behandelnden Ärzte wegen Körperverletzung oder Nötigung Strafanzeige zu erstatten oder vor den Zivilgerichten auf Schadensersatz zu klagen. Das Hanseatische Oberlandesgericht in Bremen habe bei der Abweisung ihres Schadensersatzanspruchs ihre Rechte aus Artikel 3 oder 8 nicht missachtet. Die Rechte der Beschwerdeführerin aus Artikel 3 und 8 aufgrund einer falschen medizinischen Diagnose oder Therapie seien jedenfalls nicht verletzt worden. Das Hanseatische Oberlandesgericht in Bremen habe nach seiner Beweisaufnahme festgestellt, dass ein Behandlungsfehler nicht erwiesen sei.

141. Angesichts der voneinander abweichenden sachlichen Hintergründe der zwangsweisen Unterbringung der Beschwerdeführerin in der Klinik Dr. Heines von 1977 bis 1979 zum einen und ihres dortigen Aufenthalts im Jahre 1981 zum anderen hält der Gerichtshof es für erforderlich, auf eine Unterscheidung zwischen diesen Zeiträumen abzustellen.

A) Unterbringung in der Klinik von 1977 bis 1979

1. Eingriff in das Recht der Beschwerdeführerin auf Achtung ihres Privatlebens

142. Soweit die Beschwerdeführerin vortrug, dass ihre Freiheit während ihrer ungewollten Unterbringung in der Klinik unter Verstoß gegen Artikel 8 der Konvention beschränkt worden sei, erinnert der Gerichtshof daran, dass Artikel 5 für das Recht auf Freiheit maßgebend ist, der insoweit als lex specialis zu Artikel 8 anzusehen ist (Umkehrschluss (argumentum e contrario) Rechtssache Winterwerp, a. a. O., S. 21, Nr. 51, und Rechtssache Ashingdane ./. Vereinigtes Königreich, Urteil vom 28. Mai 1985, Serie A, Bd. 93, S. 21, Nr. 44). Der Gerichtshof stellt fest, dass die Beschwerdeführerin mit der Rüge der Einschränkungen ihrer Bewegungsfreiheit ihre Rüge nach Artikel 5 Abs. 1 ihrem wesentlichen Inhalt nach wiederholt. Er ist daher der Auffassung, dass insoweit eine eigene Frage nach Artikel 8 nicht aufgeworfen wird.

143. Soweit die Beschwerdeführerin vortrug, dass sie während ihrer Freiheitsentziehung gegen ihren Willen medizinisch behandelt worden sei, erinnert der Gerichtshof daran, dass auch eine leichte Beeinträchtigung der körperlichen Unversehrtheit einer Person als Eingriff in das Recht auf Achtung des Privatlebens nach Artikel 8 anzusehen ist, wenn er gegen den Willen der betreffenden Person erfolgt (siehe u. a. Rechtssache X. ./. Österreich, Individualbeschwerde Nr. 8278/78, Kommissionsentscheidung vom 13. Dezember 1979, DR 18, S. 156, Rechtssache A. B. ./. die Schweiz, Individualbeschwerde Nr. 20872/92, Kommissionsentscheidung vom 22. Februar 1995, DR 80-B, S. 70, und entsprechend Rechtssache Herczegfalvy ./. Österreich, Urteil vom 24. September 1992, Serie A, Bd. 244, S. 26, Nr. 86).

144. Bei der Entscheidung darüber, ob die medizinische Behandlung der Beschwerdeführerin mit verschiedenen Medikamenten, durch die ihre körperliche Unversehrtheit beeinträchtigt wurde, gegen ihren Willen durchgeführt worden war, verweist der Gerichtshof auf seine Feststellungen zu Artikel 5 Abs. 1 der Konvention (siehe Nrn. 71 bis 78, oben). Da die Beschwerdeführerin sich nicht nur gegen ihren fortgesetzten Aufenthalt in der Klinik kontinuierlich zur Wehr gesetzt, sondern auch ihre medizinische Behandlung abgelehnt hatte, so dass ihr bisweilen Medikamente gewaltsam verabreicht werden mussten, ist der Gerichtshof der Auffassung, dass sie gegen ihren Willen ärztlich behandelt worden war. Der Gerichtshof stellt ferner fest, dass die Erkenntnisse von zumindest einem Sachverständigen (siehe Nr. 23, oben) darauf schließen ließen, dass die der Beschwerdeführerin in der Klinik verabreichten Medikamente kontraindiziert waren und bei ihr eine schwere Gesundheitsschädigung verursacht hatten. Der Gerichtshof hat gleichwohl nicht zu entscheiden, ob die Beschwerdeführerin nach den Regeln der Kunst (lege artis) behandelt worden war, da die Behandlung ungeachtet dessen gegen ihren Willen erfolgt war und schon von daher einen Eingriff in ihr Recht auf Achtung des Privatlebens darstellte.

2. Verantwortung des Staates

145. Analog zu den Feststellungen zu Artikel 5 Abs. 1 der Konvention, auf die der Gerichtshof verweist, könnte der Eingriff in das Privatleben der Beschwerdeführerin dem Staat angelastet werden, weil dieser selbst an der medizinischen Behandlung an sich mitgewirkt hat, die Gerichte das innerstaatliche Recht nicht im Sinne von Artikel 8 ausgelegt haben oder er seine positiven Verpflichtungen nach Artikel 8 nicht erfüllt hat.

a) Mitwirkung der Behörden an der medizinischen Behandlung der Beschwerdeführerin

146. Unter Hinweis auf seine Feststellungen zu Artikel 5 Abs. 1 (siehe Nrn. 90 und 91, oben) stellt der Gerichtshof fest, dass die Polizei die Beschwerdeführerin am 4. März 1979 gewaltsam in die Klinik zurückgebracht und damit ihre weitere Behandlung dort ermöglicht hatte. Von da an haben die Behörden aktiv mitgewirkt und hatten deshalb die anschließende medizinische Behandlung der Beschwerdeführerin zu verantworten.

b) Mangelnde Auslegung des innerstaatlichen Rechts im Sinne von Artikel 8

147. Bei der Entscheidung darüber, ob das Oberlandesgericht die zivilrechtlichen Bestimmungen zu dem Schadensersatzanspruch der Beschwerdeführerin wegen ihrer medizinischen Behandlung im Sinne ihres Rechts auf Achtung des Privatlebens nach Artikel 8 ausgelegt hat, verweist der Gerichtshof wiederum auf seine Feststellungen zu Artikel 5 Abs. 1 (siehe Nrn. 92 bis 99). Er stellt insbesondere fest, dass das Oberlandesgericht bei der Auslegung der Bestimmungen über die Verjährungsfrist im Hinblick auf die Erhebung der Schadensersatzklage, unter anderem hinsichtlich einer möglichen Unterbrechung oder Hemmung der laufenden Verjährung, den schlechten Gesundheitszustand der Beschwerdeführerin während und nach ihrer Behandlung in der Klinik nicht hinreichend berücksichtigt hatte. Was die Feststellungen des Oberlandesgerichts betrifft, dass die Beschwerdeführerin in der Klinik einen Behandlungsvertrag geschlossen hatte, ist der Gerichtshof der Auffassung, dass die Beschwerdeführerin sich nicht nur gegen ihre Unterbringung in der Klinik sondern auch gegen ihre medizinische Behandlung gewehrt hatte und ihr mehrfach Medikamente gewaltsam verabreicht worden waren. Unter diesen Umständen kann der Gerichtshof, soweit er die Einwilligungsfähigkeit der Beschwerdeführerin unterstellt, eine nachvollziehbare Tatsachengrundlage für die Schlussfolgerung des Oberlandesgerichts, die Beschwerdeführerin habe fortwährend in ihre medizinische Behandlung eingewilligt und damit wirksam einen Vertrag geschlossen und ihn nicht aufgelöst, nicht erkennen.

148. Daher hatte das Oberlandesgericht, wie von den übergeordneten Gerichten bestätigt, die zivilrechtlichen Bestimmungen über den Schadensersatzanspruch der Beschwerdeführerin aus unerlaubter Handlung oder aus Vertrag nicht im Sinne von Artikel 8 ausgelegt. Daraus folgt, dass es einen Eingriff in das Recht der Beschwerdeführerin auf Achtung des Privatlebens gab, der dem belangten Staat anzulasten war.

c) Einhaltung der dem Staat obliegenden positiven Verpflichtungen

149. Es bleibt festzulegen, ob der Eingriff in das Recht der Beschwerdeführerin auf Achtung ihres Privatlebens auch dem belangten Staat anzulasten ist, weil dieser seiner positiven Verpflichtung nicht nachgekommen ist, die Beschwerdeführerin vor derartigen Eingriffen durch Private zu schützen. Der Gerichtshof weist unter Bezugnahme auf seine ständige Rechtsprechung darauf hin, dass dem Staat aus Artikel 8 eine positive Verpflichtung erwächst, angemessene und geeignete Maßnahmen zu ergreifen, um die Rechte von Personen auf Achtung ihres Privatlebens zu gewährleisten und zu schützen (siehe unter anderem Rechtssache X und Y ./. die Niederlande, a. a. O., S. 11, Nr. 23, sowie Rechtssache Hatton und andere ./. Vereinigtes Königreich [GC], Individualbeschwerde Nr. 36022/97, EuGHMR 2003-VIII, Nr. 98).

150. Der Gerichtshof verweist wiederum auf seine Feststellungen zu Artikel 5 Abs. 1 (siehe Nrn. 100 bis 108, oben) und ist der Meinung, dass dem Staat aufgrund seiner Verpflichtung, das Recht seiner Bürger auf körperliche und psychische Unversehrtheit zu schützen, die Pflicht oblag, private psychiatrische Einrichtungen zu überwachen und zu kontrollieren. Er stellt fest, dass das deutsche Recht auch bei Beeinträchtigungen der körperlichen Unversehrtheit einer Person rückwirkende Sanktionen vorsah und Körperverletzung nach §§ 223 bis 226 StGB mit bis Freiheitsstrafe zu zehn Jahren bestraft wurde. Die durch die Beeinträchtigung ihrer körperliche Unversehrtheit verletzte Person konnte außerdem materiellen und immateriellen Schadensersatz aus unerlaubter Handlung geltend machen. Gleichwohl ist der Gerichtshof wie auch in Fällen von Freiheitsentziehung der Auffassung, dass solche rückwirkenden Maßnahmen für sich genommen nicht ausreichen, um zu gewährleisten, dass die körperliche Unversehrtheit von Personen, die so schutzbedürftig sind wie die Beschwerdeführerin, angemessenen geschützt wird. Die vorstehenden Feststellungen zu der fehlenden wirksamen staatlichen Kontrolle privater psychiatrischer Einrichtungen zu der maßgeblichen Zeit (siehe Nrn. 103 bis 108, oben) treffen auch im Hinblick auf den Schutz von Einzelnen vor Verletzungen ihres Rechts auf körperliche Unversehrtheit zu. Der Gerichtshof kommt daher zu dem Schluss, dass der belangte Staat seiner positiven Verpflichtung, die Beschwerdeführerin vor Eingriffen in ihr nach Artikel 8 Abs. 1 garantiertes Recht auf Achtung ihres Privatlebens zu schützen, nicht nachgekommen ist.

3. Rechtfertigungsgrund nach Artikel 8 Abs. 2 der Konvention

151. Mit Bezug auf seine Feststellungen zu Artikel 5 Abs. 1 (siehe Nr. 110, oben) weist der Gerichtshof erneut darauf hin, dass nur untersucht werden muss, ob der Eingriff in das Recht der Beschwerdeführerin auf Achtung ihres Privatlebens nach Artikel 8 Abs. 2 gerechtfertigt war, soweit die Behörden, insbesondere die Gerichte, an diesem Eingriff aktiv mitgewirkt hatten. Soweit festgestellt wurde, dass der Staat seiner positiven Verpflichtung aus Artikel 8 Abs. 1, die Beschwerdeführerin vor Eingriffen durch Private in ihr Privatleben zu schützen, nicht nachgekommen ist, zieht dieser Ausspruch eine Verletzung von Artikel 8 nach sich.

152. Daher ist zu untersuchen, ob der Eingriff der nationalen Gerichte in das Recht der Beschwerdeführerin auf Achtung ihres Privatlebens im Sinne von Artikel 8 Abs. 2 gesetzlich vorgesehen war. Der Gerichtshof stellt fest, dass es zwischen den Parteien nicht strittig ist, dass für die Unterbringung einer geisteskranken Person zur medizinischen Behandlung ihrer Erkrankung ein Gerichtsbeschluss erforderlich war, wenn diese nicht zur Einwilligung bereit oder einwilligungsunfähig war (§ 3 des Gesetzes des Landes Bremen über die Unterbringung von Geisteskranken, Geistesschwachen und Süchtigen). Die Unterbringung der Beschwerdeführerin in der Klinik zu der medizinischen Behandlung von 1977 bis 1979 war durch keinen Gerichtsbeschluss angeordnet worden. Daher war der Eingriff in ihr Recht auf Achtung des Privatlebens im Sinne von Artikel 8 Abs. 2 nicht gesetzlich vorgesehen.

153. Folglich ist Artikel 8 der Konvention verletzt worden.

B) Aufenthalt in der Klinik im Jahre 1981

154. Der Gerichtshof stellt fest, dass die medizinische Behandlung der Beschwerdeführerin während ihres zweiten Aufenthalts in der Klinik im Jahre 1981 in ihr Recht aus Artikel 8 auf Achtung des Privatlebens eingreifen würde, wenn sie gegen ihren Willen durchgeführt worden wäre. Unter Hinweis auf seine Feststellungen zu Artikel 5 Abs. 1 (siehe Nrn. 126 bis 128, oben) stellt der Gerichtshof jedoch fest, dass nicht erwiesen ist, dass die Beschwerdeführerin in ihren Aufenthalt und ihre medizinische Behandlung in der Klinik im Jahre 1981 nicht wirksam eingewilligt hat. Selbst wenn unterstellt wird, dass nur davon ausgegangen werden könnte, dass sie in eine sorgfältige Behandlung nach den zur maßgeblichen Zeit bestehenden medizinischen Standards eingewilligt hat, stellt der Gerichtshof fest, dass das Oberlandesgericht auf der Grundlage der ihm vorliegenden Materialien zu dem Schluss kam, dass sie nicht einer falschen medizinischen Behandlung unterzogen worden sei. Zur Untermauerung seiner Schlussfolgerung hatte das Oberlandesgericht sich auf ein gebührend begründetes Gutachten des von ihm bestellten Sachverständigen gestützt und sich auch mit den teilweise abweichenden Schlussfolgerungen in zwei von der Beschwerdeführerin beigebrachten Sachverständigengutachten befasst. Daher gab es keinen Eingriff in das Recht der Beschwerdeführerin auf Achtung ihre Privatlebens im Sinne von Artikel 8.

155. Folglich ist Artikel 8 der Konvention nicht verletzt worden.

VIII. BEHAUPTETE VERLETZUNG VON ARTIKEL 6 ABS. 1 DER KONVENTION IN BEZUG AUF DIE MEDIZINISCHE BEHANDLUNG DER BESCHWERDEFÜHRERIN IN DER UNIVERSITÄTSKLINIK MAINZ

156. Die Beschwerdeführerin rügte, dass die Verfahren vor dem Landgericht Mainz und dem Oberlandesgericht Koblenz unfair gewesen seien, weil diese Gerichte ein untaugliches Sachverständigengutachten nicht korrekt gewürdigt und es abgelehnt hätten, Beweiserleichterungen zu gewähren. Sie berief sich auf Artikel 6 Abs. 1 der Konvention, der, soweit entscheidungserheblich, lautet:

,,Jede Person hat ein Recht darauf, dass über Streitigkeiten in Bezug auf ihre zivilrechtlichen Ansprüche und Verpflichtungen ... von einem ... Gericht in einem fairen Verfahren ... verhandelt wird."

157. Die Beschwerdeführerin behauptete, ihr Verfahren sei deshalb unfair gewesen, weil der Gutachter Dr. Ludolph auf die an ihn gerichteten Fragen nicht angemessen eingegangen sei und sich zu Fragestellungen geäußert habe, bezüglich derer er über keine Sachkenntnis habe verfügen können. Die zuständigen Gerichte hätten das Gutachten, das unter Mithilfe von Assistenzärzten erstellt worden sei, nicht sorgfältig gewürdigt. Da die Krankenakte, deren Einsichtnahme sie bereits im Jahre 1993 beantragt habe, sieben Jahre lang zurückgehalten worden sei, habe dieser Verfahrensmangel vor dem Hanseatischen Oberlandesgericht in Bremen nicht geheilt werden können. Wegen des Grundsatzes der Waffengleichheit hätten ihr wegen des Kausalzusammenhangs zwischen falscher medizinischer Behandlung und der gesundheitlichen Schädigung Beweiserleichterungen gewährt werden müssen.

158. Die Regierung brachte vor, das in der Verhandlung vorgetragene Gutachten sei nicht widersprüchlich gewesen. Die Beschwerdeführerin habe genügend Möglichkeiten gehabt, den Gutachter zu befragen, denn dieser sei geladen worden, um seinen Bericht in der Verhandlung zu erläutern, man habe ihn befragen können, und er sei aufgefordert worden, zwei ergänzende Gutachten zu erstellen. Es sei unerheblich, dass das Gutachten unter Mithilfe von zwei Assistenzärzten erstellt worden sei, denn der Sachverständige habe das Gutachten überprüft und die Verantwortung dafür übernommen. Die Gerichte hätten zudem das Sachverständigengutachten in ihren Entscheidungen korrekt gewürdigt. Außerdem sei das Verfahren auch nicht deshalb unfair gewesen, weil die Krankenakte der Beschwerdeführerin über ihre Behandlung in der Universitätsklinik Mainz zeitweilig verschwunden war. Der Anwalt der Beschwerdeführerin habe Einsicht in eine mehr als 100 Seiten umfassende ,,Notakte" erhalten, die von der Klinik zusammengestellt worden sei. Später habe er in die Originalakte Einsicht nehmen können, die während des Verfahrens vor dem Oberlandesgericht Koblenz gefunden wurde. Das Oberlandesgericht Koblenz habe richtig festgestellt, dass es auch nicht erforderlich gewesen sei, Beweiserleichterungen zu gewähren, denn die Originalkrankenakte sei vom Oberlandesgericht berücksichtigt worden.

159. Soweit die Beschwerdeführerin die Art und Weise, in der der ärztliche Sachverständige sein Gutachten erstellt und dargelegt hatte, und die Art, in der die Gerichte diese Beweise gewürdigt hatten, rügte, erinnert der Gerichtshof daran, dass Artikel 6 keine Regeln über die Zulässigkeit von Beweismitteln oder die Art ihrer Würdigung aufstellt, die deshalb in erster Linie durch innerstaatliches Recht und die nationalen Gerichte zu regeln sind. Der Gerichtshof ist zwar nicht aufgefordert, die Sachverhalts- und Beweiswürdigung der nationalen Gerichte durch seine eigene zu ersetzen, sondern seine Aufgabe ist festzustellen, ob das Verfahren, einschließlich der Art und Weise, in der die Beweise gewürdigt wurden, im Sinne von Artikel 6 Abs. 1 insgesamt ,,fair" war (siehe u. a. Rechtssache Dombo Beheer BV ./. die Niederlande, Urteil vom 27. Oktober 1993, Serie A, Bd. 274, S. 18 u. 19, Nr. 31, sowie Rechtssache García Ruiz, a. a. O., Nr. 28).

160. Der Gerichtshof stellt fest, dass das Oberlandesgericht Koblenz sich mit der Rüge der Beschwerdeführerin, das Gutachten des Dr. Ludolph sei unter Mithilfe von Assistenzärzten erstellt worden, ausdrücklich auseinandergesetzt und befasst hat. Das Oberlandesgericht hatte den Sachverständigen angehört, und der Beschwerdeführerin war Gelegenheit gegeben worden, den Sachverständigen in der Verhandlung zu befragen. Das Oberlandesgericht hatte sich überdies nicht nur auf das Sachverständigengutachten des Dr. Ludolph gestützt, sondern zwei weitere ärztliche Sachverständige herangezogen. Vor diesem Hintergrund ist der Gerichtshof der Auffassung, dass die Beschwerdeführerin nicht wirksam vortragen kann, dass ihr Verfahren insoweit unfair gewesen sei.

161. Soweit die Beschwerdeführerin rügte, dass die zuständigen Gerichte ihr keine Beweiserleichterungen gewährt hätten, weil ihre Originalkrankenakte zeitweise verschwunden war, ist der Gerichtshof aufgefordert zu prüfen, ob der Grundsatz der Waffengleichheit als ein Aspekt des nach Artikel 6 Abs. 1 der Konvention garantierten Rechts auf ein faires Verfahren beachtet worden ist. Der Gerichtshof weist erneut darauf hin, dass der Grundsatz der Waffengleichheit voraussetzt, dass in einem Rechtsstreit, in dem es um widerstreitende Privatinteressen geht, jeder Partei angemessen Gelegenheit gegeben werden muss, ihren Fall einschließlich ihrer Beweismittel unter Voraussetzungen darzustellen, die sie gegenüber der Gegenpartei nicht wesentlich benachteiligen (siehe u. a. Rechtssache Dombo Beheer BV, a. a. O., S. 19, Nr. 33, und Rechtssache Hämäläinen u. a../. Finnland, Entscheidung Nr. 351/02 vom 26. Oktober 2004).

162. Der Gerichtshof stellt fest, dass die Originalkrankenakte der Beschwerdeführerin zwar erst nach Beginn des Verfahrens vor dem Oberlandesgericht gefunden werden konnte, der Anwalt der Beschwerdeführerin aber bereits in dem erstinstanzlichen Verfahren Einsicht in eine mehr als 100 Seiten umfassende ,,Notakte" erhalten hatte. Die Beschwerdeführerin hat nicht nachgewiesen, dass sie aufgrund der Tatsache, dass sie in dem Verfahren vor dem Landgericht Mainz nicht in die Originalkrankenakte Einsicht nehmen konnte, gegenüber den Beklagten benachteiligt worden ist. Der Gerichtshof stellt überdies fest, dass das Oberlandesgericht das Ersuchen der Beschwerdeführerin, Beweiserleichterungen zu gewähren, geprüft hatte. Das Oberlandesgericht berief sich insoweit auf die ständige Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs und führte aus, dass es nicht erforderlich gewesen sei, Beweiserleichterungen zu gewähren, da keinesfalls ein schwerwiegender Behandlungsfehler vorläge. Dem Gerichtshof sind die allgemeinen Schwierigkeiten bewusst, denen ein Patient begegnet, wenn er dem ihn behandelnden Arzt einen Kunstfehler nachweisen will. Er stellt unter Berücksichtigung aller dem Oberlandesgericht vorliegenden Materialien gleichwohl fest, dass dessen Begründung, von der üblichen Verteilung der Beweislast nicht abzuweichen, nicht als willkürlich angesehen werden kann und die Beschwerdeführerin als Klägerin nicht erheblich benachteiligt hat. Folglich lässt der Sachverhalt die Nichteinhaltung des Grundsatzes der Waffengleichheit nicht erkennen.

163. Der Gerichtshof kommt zu dem Ergebnis, dass Artikel 6 Absatz 1 der Konvention nicht verletzt worden ist.

IX. BEHAUPTETE VERLETZUNG VON ARTIKEL 8 DER KONVENTION IN BEZUG AUF DIE BEHANDLUNG DER BESCHWERDEFÜHRERIN IN DER UNIVERSITÄTSKLINIK MAINZ

164. Die Beschwerdeführerin brachte vor, die Freiheitsbeschränkungen, die Beeinträchtigungen ihrer körperlichen Unversehrtheit und die Verweigerung einer angemessenen Behandlung in der Universitätsklinik Mainz stellten sowohl eine Verletzung des in Artikel 8 der Konvention garantierten Rechts auf Achtung ihres Privatlebens als auch eine Verletzung von Artikel 3 der Konvention dar.

165. Der Gerichtshof ist der Auffassung, dass diese Rügen allein nach Artikel 8 der Konvention zu prüfen sind, der, soweit maßgeblich, lautet:

,,1. Jede Person hat ein Recht auf Achtung ihres Privat(...)lebens ...

2. Eine Behörde darf in die Ausübung dieses Rechts nur eingreifen, soweit der Eingriff gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist für die nationale oder öffentliche Sicherheit, für das wirtschaftliche Wohl des Landes, zur Aufrechterhaltung der Ordnung, zur Verhütung von Straftaten, zum Schutz der Gesundheit oder der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer."

166. Zur Stützung ihrer Rügen wiederholte die Beschwerdeführerin die Vorbringen, die sie bereits im Zusammenhang mit ihrer Behandlung in der Klinik Dr. Heines in Bremen gemacht hatte.

167. Die Regierung wies darauf hin, dass das Landgericht Mainz durch Beiziehung eines medizinischen Sachverständigen festgestellt hatte, dass die Beschwerdeführerin in der Universitätsklinik Mainz richtig behandelt worden sei; diese Feststellung sei von dem Oberlandesgericht Koblenz bestätigt worden. Folglich seien die Rechte der Beschwerdeführerin aus Artikel 3 und 8 nicht verletzt worden.

168. Der Gerichtshof erinnert daran, dass auch eine leichte Beeinträchtigung der körperlichen Unversehrtheit einer Person als Eingriff in das Recht auf Achtung des Privatlebens nach Artikel 8 anzusehen ist, wenn er gegen den Willen der betreffenden Person erfolgt (siehe oben angeführte Rechtsprechung, Nr. 143). Er stellt fest, dass es keine Anhaltspunkte dafür gibt, dass die Beschwerdeführerin in der Universitätsklinik Mainz ohne ihre Einwilligung behandelt worden ist. Selbst wenn unterstellt wird, dass nur davon ausgegangen werden könnte, dass sie in eine sorgfältige Behandlung nach den zur maßgeblichen Zeit bestehenden medizinischen Standards eingewilligt hat, stellt der Gerichtshof fest, dass die nationalen Gerichte durch Beiziehung ärztlicher Sachverständiger begründeten Anlass hatten festzustellen, dass die Beschwerdeführerin weder vorsätzlich noch fahrlässig einer falschen medizinischen Behandlung unterzogen worden ist. Daher gab es keinen Eingriff in das Recht der Beschwerdeführerin auf Achtung ihre Privatlebens im Sinne von Artikel 8.

170. Folglich ist Artikel 8 der Konvention nicht verletzt worden.

X. ANWENDUNG VON ARTIKEL 41 DER KONVENTION

170. Artikel 41 der Konvention lautet:

,,Stellt der Gerichtshof fest, dass diese Konvention oder die Protokolle dazu verletzt worden sind, und gestattet das innerstaatliche Recht der Hohen Vertragspartei nur eine unvollkommene Wiedergutmachung für die Folgen dieser Verletzung, so spricht der Gerichtshof der verletzten Partei eine gerechte Entschädigung zu, wenn dies notwendig ist."

171. Die Beschwerdeführerin erhob Anspruch auf Entschädigung für materiellen und immateriellen Schaden sowie die Erstattung ihrer Kosten und Auslagen.

A. Schaden

172. Die Beschwerdeführerin verlangte insgesamt 1.449.259,66 EURO als Entschädigung für immateriellen Schaden. Dieser Betrag setzt sich aus 1.211.530,90 EURO Ausfall des geschätzten Einkommens einer Ingenieurin, des Berufs, den sie vor Beginn ihrer Behandlungen hätte ergreifen wollen, abzüglich ihrer Erwerbsunfähigkeitsrente zusammen. Sie rechnete 237.728,76 EURO Ruhegeld, das sie bis zum vollendeten 84. Lebensjahr bezogen hätte, hinzu. Die Beschwerdeführerin verlangte ferner insgesamt 1.548,36 EURO für Zahnarzthonorar und Hilfsmittel, die nicht von ihrer Krankenkasse erstattet worden waren. Wahlweise forderte sie insgesamt 1.126.970, 30 EURO für materiellen Schaden, dem sie das geschätzte Einkommen und Ruhegeld einer technischen Zeichnerin, des von ihr 1990 erlernten Berufs, zu Grunde gelegt hatte. Ferner verlangte sie Ersatz für alle künftigen materiellen Schäden aus der Behandlung in der Klinik Dr. Heines in Bremen und in der Universitätsklinik Mainz, soweit die Sozialversicherung nicht dafür aufkommt.

173. Die Beschwerdeführerin forderte ferner eine Entschädigung für immateriellen Schaden, der aus schwerwiegenden Verletzungen der Artikel 3, 5, 6 und 8 der Konvention entstanden war. Sie wies auf den schweren gesundheitlichen Schaden hin, der ihr durch die zwangsweise medizinische Behandlung und die Behandlungsfehler zugefügt worden sei, die dazu geführt hätten, dass sie heute zu 100 % schwerbeschädigt sei und ständig an beträchtlichen Schmerzen an Armen und Beinen und an der Wirbelsäule leide. Ihre Freiheitsentziehung und erniedrigende Behandlung, insbesondere in der Klinik in Bremen, und ihre medizinische Behandlung hätten bei ihr auch Gefühle von Angst und Hilflosigkeit hervorgerufen und ihr Leben für immer zerstört. Da sich ihr Gesundheitszustand wegen der falschen medizinischen Behandlung, der sie in ihrer Jugend unterzogen worden sei, ständig verschlechtere, werde sie künftig noch einsamer und von der Hilfe anderer abhängig sein. Sie verlangte unter dieser Rubrik mindestens 500.000 EURO.

174. Was den Anspruch der Beschwerdeführerin auf die materiellen Schäden angeht, trug die Regierung vor, dass die Beschwerdeführerin einen kausalen Zusammenhang zwischen der behaupteten Konventionsverletzung und dem ihr entgangenen geschätzten Einkommen und Ruhegeld nicht nachgewiesen habe.

175. Überdies hielt sie den von der Beschwerdeführerin für immateriellen Schaden geltend gemachten Betrag für überzogen. Sie wies darauf hin, dass die Beschwerdeführerin nach den Feststellungen der nationalen Gerichte in den betreffenden psychiatrischen Einrichtungen nicht vorsätzlich oder sorgfaltswidrig falsch behandelt worden sei.

176. Was den Anspruch der Beschwerdeführerin im Hinblick auf den materiellen Schaden angeht, weist der Gerichtshof erneut darauf hin, dass zwischen dem von der Beschwerdeführerin geltend gemachten materiellen Schaden und der festgestellten Konventionsverletzung ein eindeutiger Kausalzusammenhang bestehen muss und dann ggf. auf Ersatz für entgangenes Einkommen oder den Verlust anderer Einnahmequellen erkannt wird (siehe u. a. Rechtssache Barberà, Messegué und Jabardo ./. Spanien (Artikel 50), Urteil vom 13. Juni 1994, Serie A, Bd. 285-C, S. 57 und 58, Nrn. 16 bis 20, und Rechtssache Çakici ./. Türkei [GC], Individualbeschwerde Nr. 23657/94, EuGHMR 1999-IV, Nr. 127). Im vorliegenden Fall merkt der Gerichtshof an, dass er im Hinblick auf den Aufenthalt der Beschwerdeführerin in der Klinik Dr. Heines von 1977 bis 1979 eine Verletzung der Artikel 5 Abs. 1 und 8 festgestellt hat. Er stellt fest, dass die Beschwerdeführerin den Beruf einer Ingenieurin oder technischen Zeichnerin vor ihrer Unterbringung in der Klinik weder erlernt noch ausgeübt hatte, so dass durch die Freiheitsentziehung keine bestehende Einnahmequelle zerstört worden ist. Dem Gerichtshof ist bewusst, dass der zwangsweise Aufenthalt der Beschwerdeführerin in der Klinik, die medizinische Behandlung, der sie dort unterzogen wurde, und die gesundheitlichen Folgen ihre beruflichen Chancen stark beeinträchtigt haben. Er kann jedoch keine Mutmaßungen darüber anstellen, welchen Beruf die Beschwerdeführerin ergriffen hätte und wie hoch ihr Einkommen ohne ihren Aufenthalt in der Klinik von 1977 bis 1979 später gewesen wäre. Folglich ist ein eindeutiger kausaler Zusammenhang mit dem der Beschwerdeführerin entgangenen geschätzten Einkommen und Ruhegeld, die auf dieser Grundlage berechnet wurden, nicht nachgewiesen worden. Der Gerichtshof kann auf der Grundlage der ihm vorliegenden Materialien auch keinen eindeutigen kausalen Zusammenhang zwischen der Unterbringung der Beschwerdeführerin in der Klinik Dr. Heines und ihrer Forderung nach dem Ersatz für Zahnarzthonorar und Hilfsmittel, die nicht von ihrer Krankenkasse erstattet worden waren, erkennen.

177. Was die Forderung der Beschwerdeführerin nach dem Ersatz für alle künftigen materiellen Schäden aus der Behandlung in der Klinik Dr. Heines in Bremen und in der Universitätsklinik Mainz betrifft, erklärt der Gerichtshof, dass er in Bezug auf ihre Behandlung in der Klinik Dr. Heines im Jahre 1981 und in der Universitätsklinik Mainz keine Konventionsverletzung festgestellt hat. Daher kann sich insoweit kein Schadensersatzanspruch ergeben. Im Hinblick auf den wegen der Behandlung in der Klinik Dr. Heines von 1977 bis 1979 geltend gemachten Anspruch ist der Gerichtshof der Auffassung, dass er weder Mutmaßungen über den genauen Umfang des wegen ihrer Unterbringung in dieser Klinik zu erwartenden materiellem Schadens noch darüber anstellen kann, ob zwischen diesem künftigen Schaden und ihrer Behandlung in dieser Klinik ein kausaler Zusammenhang besteht. Deshalb spricht der Gerichtshof keinen Ersatz für materielle Schäden zu.

178. Was den Anspruch der Beschwerdeführerin im Hinblick auf den immateriellen Schaden angeht, verweist der Gerichtshof auf seine vorstehenden Feststellungen schwerer Verletzungen der Artikel 5 Abs. 1 und 8 der Konvention in vorliegender Rechtssache. Er stellt noch einmal fest, dass die Beschwerdeführerin ohne Rechtsgrundlage in der Klinik untergebracht und dort in einem recht jugendlichen Alter mehr als zwanzig Monate lang behandelt wurde. Die Beeinträchtigungen der körperlichen Unversehrtheit der Beschwerdeführerin durch ihre zwangsweise medizinische Behandlung waren besonders schwerwiegend. Sie hatten eine schwere irreversible Gesundheitsschädigung verursacht und ihr sogar die Möglichkeit genommen, ein selbstbestimmtes Berufs- und Privatleben zu führen. Der Gerichtshof weist darauf hin, dass der Fall der Beschwerdeführerin im Hinblick auf die Bemessung der immateriellen Schäden von Rechtssachen wie H. L. ./. Vereinigtes Königreich (a. a. O., Nrn. 148 bis 150) zu unterscheiden ist. In der vorliegenden Rechtssache ist es äußerst zweifelhaft - und dies ist auch von keiner Partei unterstellt worden - dass der Beschwerdeführerin nach dem geltenden Recht überhaupt gegen ihren Willen die Freiheit hätte entzogen werden können, weil sie die öffentliche Sicherheit oder Ordnung erheblich gefährdete (§ 2 des Gesetzes des Landes Bremen über die Unterbringung von Geisteskranken, Geistesschwachen und Süchtigen, siehe Nr. 53, oben). Unter Berücksichtigung vergleichbarer Individualbeschwerden in seiner Rechtsprechung, in denen die körperliche und psychische Unversehrtheit der Beschwerdeführer auch erheblich beeinträchtigt worden war (siehe z. B. Rechtssache A. ./. Vereinigtes Königreich, Individualbeschwerde Nr. 25599/94, EuGHMR 1998-VI, Nr. 34, sowie Rechtssache Peers ./. Griechenland, Individualbeschwerde Nr. 28524/95, EuGHMR 2001-III, Nr. 88) entscheidet der Gerichtshof nach Billigkeit und spricht der Beschwerdeführerin 75.000 EURO als Entschädigung für den immateriellen Schaden zuzüglich ggf. zu berechnender Steuern zu.

B. Kosten und Auslagen

179. Die Beschwerdeführerin, gestützt auf urkundliche Nachweise, verlangte insgesamt 32.785,10 EURO für Kosten und Auslagen. Sie forderte die Erstattung der Kosten und Auslagen, die in den innerstaatlichen Gerichtsverfahren für die Dienste ihrer Rechtsanwälte, medizinische Sachverständigengutachten sowie Hotel- und Reisekosten in den vor dem Landgericht Bremen (21.198,51 EURO) und dem Landgericht Mainz (4.260,82 EURO) eröffneten Verfahren entstanden waren. Sie verlangte überdies eine Einmalzahlung von 2.500 EURO für ihren Eigenaufwand in diesen Verfahren einschließlich der Auslagen für die eigenhändige Abfassung der Verfassungsbeschwerde. Sie forderte ferner 4.825,77 EURO für Kosten und Auslagen, die für die Dienste des Rechtsanwalts, der sie in dem Verfahren vor dem Gerichtshof vertreten hatte, entstanden waren.

180. Die Regierung sah diese Beträge als unverhältnismäßig an.

181. Nach der Spruchpraxis des Gerichtshofs werden Kosten und Auslagen nur zugebilligt, wenn sie der verletzten Partei entstanden sind, um eine Konventionsverletzung zu verhindern oder ihr abzuhelfen, um diese vom Gerichtshof feststellen zu lassen und eine Entschädigung zu erhalten. Darüber hinaus ist nachzuweisen, dass die Kosten tatsächlich und notwendigerweise entstanden und der Höhe nach angemessen sind (siehe u. a. Rechtssache Venema ./. die Niederlande, Individualbeschwerde Nr. 35731/97, EuGHMR 2002-X, Nr. 117).

182. Im Hinblick auf die der Beschwerdeführerin in dem innerstaatlichen Gerichtsverfahren entstandenen Kosten und Auslagen stellt der Gerichtshof fest, dass er nur eine Konventionsverletzung in Bezug auf das vor dem Landgericht Bremen eröffnete Verfahren festgestellt hat. Er erkennt an, dass die Kosten und Auslagen in diesem Verfahren entstanden sind, um einer Verletzung von Artikel 5 und 8 der Konvention abzuhelfen. Obwohl die Beschwerdeführerin keine Belege für ihren Eigenaufwand in dem Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht vorgelegt hat, erkennt der Gerichtshof an, dass ihr auch entsprechende Auslagen entstanden sein müssen (vgl. Rechtssache Migon ./. Polen, Individualbeschwerde Nr. 24244/94 vom 25. Juni 2002, Nr. 95, sowie Rechtssache H.L. /. Vereinigtes Königreich, a. a. O., Nr. 152). In Anbetracht seiner Rechtsprechung und aufgrund eigener Beurteilung der Angemessenheit ihrer Kosten und Auslagen spricht der Gerichtshof der Beschwerdeführerin unter dieser Rubrik 15.000 EURO zuzüglich gegebenenfalls zu berechnender Steuern zu.

183. Was die Kosten und Anwaltskosten der Beschwerdeführerin für das Verfahren vor diesem Gerichtshof betrifft, spricht der Gerichtshof der Beschwerdeführerin im Hinblick auf seine Rechtsprechung und aufgrund eigener Berechnung 4.000 EURO abzüglich der 685 EURO, die sie im Wege der Prozesskostenhilfe vom Europarat erhalten hat, zuzüglich der für den vorstehend genannten Betrag gegebenenfalls zu berechnenden Steuern zu.

C. Verzugszinsen

184. Der Gerichtshof hält es für angemessen, für die Berechnung der Verzugszinsen den Spitzenrefinanzierungssatz der Europäischen Zentralbank zuzüglich 3 Prozentpunkten zugrunde zu legen.

AUS DIESEN GRÜNDEN ENTSCHEIDET DER GERICHTSHOF EINSTIMMIG WIE FOLGT:

1. Die prozessuale Einrede der Regierung wird zurückgewiesen.

2. Artikel 5 Abs. 1 der Konvention ist im Hinblick auf die Unterbringung der Beschwerdeführerin in einer privaten Klinik von 1977 bis 1979 verletzt worden.

3. Eine eigene Frage nach Artikel 5 Abätze 4 und 5 der Konvention hinsichtlich der Unterbringung der Beschwerdeführerin in einer privaten Klinik von 1977 bis 1979 wird nicht aufgeworfen.

4. Artikel 5 der Konvention ist im Hinblick auf den Aufenthalt der Beschwerdeführerin in einer privaten Klinik im Jahre 1981 nicht verletzt worden.

5. Soweit eine eigene Frage nach Artikel 6 Abs. 1 der Konvention hinsichtlich beider Aufenthalte der Beschwerdeführerin in einer privaten Klinik aufgeworfen wird, ist Artikel 6 Abs. 1 der Konvention nicht verletzt worden.

6. Artikel 8 der Konvention ist im Hinblick auf den Aufenthalt der Beschwerdeführerin in einer privaten Klinik von 1977 bis 1979 verletzt worden.

7. Artikel 8 der Konvention ist hinsichtlich des Aufenthalts der Beschwerdeführerin in einer privaten Klinik im Jahre 1981 nicht verletzt worden.

8. Artikel 6 Abs. 1 der Konvention ist im Hinblick auf die medizinische Behandlung der Beschwerdeführerin in der Universitätsklinik Mainz nicht verletzt worden.

9. Artikel 8 der Konvention ist hinsichtlich der medizinischen Behandlung der Beschwerdeführerin in der Universitätsklinik Mainz nicht verletzt worden.

10.

a) Der beklagte Staat hat der Beschwerdeführerin binnen drei Monaten nach dem Tag, an dem das Urteil nach Artikel 44 Abs. 2 der Konvention endgültig wird, folgende Beträge zu zahlen:

i) 75.000 EURO (fünfundsiebzigtausend Euro) für den immateriellen Schaden;

ii) 18.315 EURO (achtzehntausenddreihundertundfünfzehn Euro) für Kosten und Auslagen;

iii) die für die vorstehend genannten Beträge ggf. zu berechnenden Steuern.

b) Nach Ablauf der vorgenannten Frist von drei Monaten fallen für die obengenannten Beträge bis zur Auszahlung einfache Zinsen in Höhe eines Zinssatzes an, der dem Spitzenrefinanzierungssatz (marginal lending rate) der Europäischen Zentralbank im Verzugszeitraum zuzüglich drei Prozentpunkten entspricht.

11. Im Übrigen wird die Forderung der Beschwerdeführerin nach gerechter Entschädigung zurückgewiesen.

...


[Redaktioneller Hinweis: Nichtamtliche deutsche Übersetzung aus dem Englischen durch das Bundesministerium der Justiz, Berlin. Zur Maxime der konkreten und wirksamen Auslegung und dem Verbot der Umgehung staatlicher Rechtsbindungen durch den Einsatz von Privatpersonen bei der Strafverfolgung vgl. m.w.N. Gaede StV 2004, 46 ff.]

HRRS-Nummer: HRRS 2005 Nr. 632

Externe Fundstellen: NJW 2006, 1577

Bearbeiter: Karsten Gaede