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HRRS-Nummer: HRRS 2014 Nr. 674

Bearbeiter: Holger Mann

Zitiervorschlag: BVerfG, 2 BvR 2699/10, Beschluss v. 26.06.2014, HRRS 2014 Nr. 674


BVerfG 2 BvR 2699/10 (1. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 26. Juni 2014 (OLG Nürnberg)

Klageerzwingungsverfahren (erfolglose Verfassungsbeschwerde gegen die Einstellung eines Ermittlungsverfahrens wegen tödlicher Schüsse von Polizeibeamten; Fall "Tennessee Eisenberg"; Recht auf Leben; staatliche Schutzpflicht; Anspruch auf Strafverfolgung Dritter nur in Ausnahmefällen; wirksame amtliche Ermittlungen; Annahme einer Notwehrlage; Konventionsrecht als Auslegungshilfe bei der Auslegung von Grundrechten).

Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG; Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG; Art. 3 Abs. 1 GG; Art. 1 EMRK; Art. 2 EMRK; § 32 StGB; § 172 StPO

Leitsätze des Bearbeiters

1. Wenngleich das Grundgesetz den Staat verpflichtet, Grundrechte des Einzelnen zu schützen, so besteht doch regelmäßig kein grundrechtlich begründeter Anspruch auf eine Strafverfolgung Dritter.

2. Anderes kann allerdings gelten, soweit der Einzelne nicht in der Lage ist, erhebliche Straftaten gegen seine höchstpersönlichen Rechtsgüter - wie etwa das Recht auf Leben - abzuwehren und ein Verzicht auf die effektive Verfolgung solcher Taten zu einer Erschütterung des Vertrauens in das Gewaltmonopol des Staates und zu einem allgemeinen Klima der Rechtsunsicherheit und der Gewalt führen kann.

3. Ein Anspruch auf eine effektive Strafverfolgung kann auch in Betracht kommen, wenn der Vorwurf im Raum steht, dass Amtsträger bei der Wahrnehmung hoheitlicher Aufgaben Straftaten begangen haben oder wenn sich die Opfer möglicher Straftaten in einem strukturell asymmetrischen Rechtsverhältnis zum Staat befindet und diesem - wie etwa im Maßregel- oder Strafvollzug - eine spezifische Fürsorge- und Obhutspflicht obliegt.

4. Aus Art. 2 i. V. m. Art. 1 der Europäischen Menschenrechtskonvention, deren Gewährleistungen bei der Auslegung der Grundrechte des Grundgesetzes zu berücksichtigen sind, folgt eine Pflicht der Unterzeichnerstaaten, wirksame amtliche Ermittlungen anzustellen, wenn ein Mensch durch Gewalteinwirkung zu Tode gekommen ist. Nach der maßgeblichen Auslegung der EMRK durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte müssen die Ermittlungen prompt, umfassend, unvoreingenommen, gründlich und außerdem geeignet sein, zur Identifizierung und Bestrafung der verantwortlichen Person zu führen. Konventionsrechtlich relevant sind Ermittlungsfehler allerdings nur dann, wenn sie den Untersuchungszweck gefährden.

5. Die Einstellung eines Ermittlungsverfahrens wegen tödlicher Schüsse von Polizeibeamten auf einen mit einem Küchenmesser Bewaffneten ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, wenn die Ermittlungen unter Ausschöpfung aller Ermittlungsmöglichkeiten ergeben haben, dass der Getötete, der die Beamten im Rahmen eines dynamischen Geschehens aus kurzer Entfernung mit dem Messer bedroht hatte, weder für verbale Aufforderungen noch für Zwangsmittel empfänglich war und sich von Warnschüssen und nicht tödlichen Schussverletzungen unbeeindruckt weiter drohend auf die Beamten zubewegt hatte.

Entscheidungstenor

Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.

Gründe

I.

1. Die Beschwerdeführer sind die Eltern eines 24-Jährigen, der im April 2009 bei einem Polizeieinsatz von mehreren Schüssen getroffen und hierdurch tödlich verletzt wurde, nachdem er zuvor mehrere Polizeibeamte mit einem vorgehaltenen Küchenmesser bedroht hatte. Vorangegangen waren wiederholte Aufforderungen der Polizeibeamten, das Messer niederzulegen, die Abgabe eines Warnschusses sowie zwei Durchschüsse im Knie- und Armbereich. Die Beschwerdeführer sind überzeugt, dass der Tod ihres Sohnes weder gerechtfertigt noch entschuldigt werden könne, und begehren die Durchführung eines Strafverfahrens gegen zwei Polizeibeamte.

2. Die Staatsanwaltschaft Regensburg hat das unter anderem wegen Totschlags geführte Ermittlungsverfahren gegen die am Einsatz beteiligten Polizeibeamten im Dezember 2009 eingestellt, weil nach dem Ermittlungsergebnis zugunsten der beschuldigten Beamten von einer Rechtfertigung der Tötung durch Notwehr im Sinne des § 32 StGB auszugehen und der Einsatz von Schusswaffen auch nach dem bayerischen Polizeirecht zulässig gewesen sei. Der Beschwerde nach § 172 Abs. 1 StPO gab der Generalstaatsanwalt in Nürnberg keine Folge.

3. Die hiergegen erhobenen Anträge auf gerichtliche Entscheidung nach § 172 Abs. 2 StPO wies das Oberlandesgericht Nürnberg mit Beschluss vom 19. Oktober 2010 zurück. Für die Erhebung einer öffentlichen Klage wegen Totschlags, gefährlicher Körperverletzung, fahrlässiger Tötung oder fahrlässiger Körperverletzung fehle es an einem hinreichenden Tatverdacht. Zur Überzeugung des Gerichts stehe fest, dass die Polizeibeamten, die die letztlich tödlichen Schüsse abgegeben hätten, durch Notwehr beziehungsweise Nothilfe gerechtfertigt gewesen seien. Nach den Ermittlungen sei von einem Geschehensablauf auszugehen, bei dem der Sohn der Beschwerdeführer zunächst seinen Mitbewohner und, nach dessen Notruf, die eingetroffenen Polizeikräfte mit einem vorgehaltenen Küchenmesser mit beinahe 20 cm Klingenlänge bedroht habe. Er sei weder durch verbale Aufforderungen, das Messer wegzulegen, noch durch den Einsatz von Pfefferspray oder einen Warnschuss von seinem feindseligen Verhalten abzubringen gewesen. Selbst zwei Durchschüsse im Knie- und Armbereich hätten ihn nicht beeindruckt. Da die Distanz zu den Polizeibeamten bei Abgabe der tödlichen Schüsse auf nur noch wenige Meter geschrumpft gewesen sei, die der Getötete binnen Sekundenbruchteilen hätte überwinden können, und da zumindest einem der Beschuldigten ein weiteres Zurückweichen nicht mehr möglich gewesen sei, sei der Einsatz von Schusswaffen nicht zu beanstanden. Die hiergegen von den Beschwerdeführern vorgebrachten Einwände, insbesondere hinsichtlich der sachverständigen Tatrekonstruktion, führten zu keiner abweichenden Beurteilung. An der Erforderlichkeit und der Gebotenheit des Schusswaffeneinsatzes sei nicht zu zweifeln. Mildere Mittel zur Abwehr der konkreten Gefahr für Leib und Leben hätten nicht zur Verfügung gestanden; eine Einschränkung der Notwehrbefugnisse sei auch nicht anzunehmen gewesen. Die durchgeführten Ermittlungen genügten auch den Anforderungen, wie sie der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte für Fälle eines von Hoheitsträgern verursachten Todes aufgestellt habe. Weitergehende Ermittlungsansätze seien von den Beschwerdeführern nicht aufgezeigt worden.

II.

1. Mit ihrer Verfassungsbeschwerde rügen die Beschwerdeführer eine Verletzung ihrer Grundrechte aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG sowie Art. 3 Abs. 1 GG.

2. Der angegriffene Beschluss verletze sie in ihrem Anspruch auf effektiven Schutz durch das Strafrecht, den sie aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG ableiten wollen. Der Beschluss werde insbesondere den Anforderungen des Bundesverfassungsgerichts an ein Wiederaufnahmeverfahren in Strafsachen nicht gerecht, die auf das Klageerzwingungsverfahren übertragen werden müssten. Das Oberlandesgericht habe voreilig eine Notwehrlage und damit eine Rechtfertigung des Schusswaffengebrauchs angenommen; zudem fehle es an Feststellungen, wie genau der Verstorbene das Messer im Zeitpunkt des Angriffs gehalten habe und weshalb ein Polizeieinsatz gegen einen Einzelnen mit der Abgabe von 16 Schüssen und zwölf Körpertreffer habe enden müssen. Dem vom Bundesverfassungsgericht angenommenen Anspruch auf effektive strafrechtliche Verfolgung von Kapitaldelikten zur Vermeidung eines sonst drohenden Klimas der Rechtsunsicherheit und Gewalt müsse Rechnung getragen werden.

3. Dass das Oberlandesgericht das Handeln der Beschuldigten insgesamt und ohne Einschränkung als durch Notwehr gerechtfertigt angesehen habe, sei willkürlich und verstoße gegen Art. 3 Abs. 1 GG. Selbst wenn zum Zeitpunkt des Notrufs durch den Mitbewohner des Getöteten ein gegenwärtiger Angriff vorgelegen habe, sei er bei Eintreffen der Polizei jedenfalls beendet gewesen. Dass der Verstorbene einen Angriff auf die Polizeibeamten unternommen habe, der eine tödlich wirkende Notwehrhandlung rechtfertigte, sei nicht anzunehmen; es könne ausgeschlossen werden, dass es nach den ersten Körpertreffern keine Möglichkeit gegeben hätte, den Verstorbenen zu überwältigen. Unverständlich sei zudem, weshalb nach den auch von den Sachverständigen bestätigten Einschränkungen der Mobilität des Verstorbenen aufgrund des Knie- und Armdurchschusses noch eine Lebensgefahr für die Polizeibeamten habe bestehen können. Zur Gefahrenabwehr hätte es genügt, wenn alle übrigen Bewohner des Hauses, etwa mittels Megaphon, zum Verlassen des Gebäudes aufgefordert worden wären und die Polizeikräfte sich selbst von dem schwer Verletzten zurückgezogen hätten. Überdies habe das Oberlandesgericht die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, wonach bei einer Rechtfertigung der Vorsatztat immer noch eine fahrlässige Tötung in Betracht kommen könne, außer Acht gelassen.

III.

Die Annahme der Verfassungsbeschwerde hat offensichtlich keine grundsätzliche Bedeutung, da über die Beantwortung der verfassungsrechtlichen Fragen keine ernsthaften Zweifel bestehen (§ 93a Abs. 2 lit. a BVerfGG). Sie ist auch nicht zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechte angezeigt (§ 93a Abs. 2 lit. b BVerfGG), weil sie keine Aussicht auf Erfolg hat (vgl. BVerfGE 90, 22 <25 f.>). Die Verfassungsbeschwerde ist jedenfalls unbegründet.

1. Dem Grundgesetz lässt sich grundsätzlich kein Anspruch auf Strafverfolgung Dritter entnehmen (a). Etwas anderes kann bei erheblichen Straftaten gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die sexuelle Selbstbestimmung und die Freiheit der Person der Fall sein (b), bei Delikten von Amtsträgern (c) oder bei Straftaten, bei denen sich die Opfer in einem besonderen Obhutsverhältnis zur öffentlichen Hand befinden (d).

a) Art. 2 Abs. 2 Satz 1 und 2 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG verpflichten den Staat, sich dort schützend und fördernd vor das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die Freiheit und die sexuelle Selbstbestimmung des Einzelnen zu stellen und sie vor rechtswidrigen Eingriffen von Seiten Dritter zu bewahren (vgl. BVerfGE 39, 1 <42>; 46, 160 <164>; 121, 317 <356>; BVerfGK 17, 1 <5>), wo die Grundrechtsberechtigten selbst nicht dazu in der Lage sind. Ein Anspruch auf bestimmte, vom Einzelnen einklagbare Maßnahmen ergibt sich daraus jedoch grundsätzlich nicht. Insbesondere kennt die Rechtsordnung in der Regel keinen grundrechtlich radizierten Anspruch auf eine Strafverfolgung Dritter (vgl. BVerfGE 51, 176 <187>; 88, 203 <262 f.>; BVerfGK 17, 1 <5>; BVerfG, Beschluss der 4. Kammer des Zweiten Senats vom 9. April 2002 - 2 BvR 710/01 -, NJW 2002, S. 2861 <2861 f.>).

b) Die wirksame Verfolgung von Gewaltverbrechen und vergleichbaren Straftaten stellt eine Konkretisierung der staatlichen Schutzpflicht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 und 2 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG dar (vgl. BVerfGK 17, 1 <5>). Vor diesem Hintergrund besteht ein Anspruch auf eine effektive Strafverfolgung dort, wo der Einzelne nicht in der Lage ist, erhebliche Straftaten gegen seine höchstpersönlichen Rechtsgüter - Leben, körperliche Unversehrtheit, sexuelle Selbstbestimmung und Freiheit der Person - abzuwehren und ein Verzicht auf die effektive Verfolgung solcher Taten zu einer Erschütterung des Vertrauens in das Gewaltmonopol des Staates und einem allgemeinen Klima der Rechtsunsicherheit und Gewalt führen kann. In solchen Fällen kann, gestützt auf Art. 2 Abs. 2 Satz 1 und 2 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG, ein Tätigwerden des Staates und seiner Organe verlangt werden (vgl. BVerfGE 39, 1 <36 ff.>; 49, 89 <141 f.>; 53, 30 <57 f.>; 77, 170 <214>; 88, 203 <251>; 90, 145 <195>; 92, 26 <46>; 97, 169 <176 f.>; 109, 190 <236>). Bei Kapitaldelikten kann ein solcher Anspruch auf der Grundlage von Art. 6 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 2 Abs. 2 Satz 1 und Art. 1 Abs. 1 GG auch nahen Angehörigen zustehen.

c) Ein Anspruch auf eine effektive Strafverfolgung kann auch dort in Betracht kommen, wo der Vorwurf im Raum steht, dass Amtsträger bei Wahrnehmung hoheitlicher Aufgaben Straftaten begangen haben, weil ein Verzicht auf eine effektive Verfolgung solcher Taten zu einer Erschütterung des Vertrauens in die Integrität staatlichen Handelns führen kann. In diesen Fällen muss bereits der Anschein vermieden werden, dass gegen Amtswalter des Staates weniger effektiv ermittelt wird oder dass insoweit erhöhte Anforderungen an eine Anklageerhebung gestellt werden.

d) Ein Anspruch auf effektive Strafverfolgung kann ferner in den Fällen in Betracht kommen, in denen sich die Opfer möglicher Straftaten in einem "besonderen Gewaltverhältnis" zum Staat befinden und diesem eine spezifische Fürsorge- und Obhutspflicht obliegt. In dergestalt strukturell asymmetrischen Rechtsverhältnissen, die den Verletzten nur eingeschränkte Möglichkeiten lassen, sich gegen strafrechtlich relevante Übergriffe in ihre Rechtsgüter aus Art. 2 Abs. 2 GG zu wehren (z.B. im Maßregel- oder Strafvollzug), obliegt den Strafverfolgungsbehörden eine besondere Sorgfaltspflicht bei der Durchführung von Ermittlungen und der Bewertung der gefundenen Ergebnisse.

e) Die (verfassungsrechtliche) Verpflichtung zur effektiven Strafverfolgung bezieht sich auf das Tätigwerden aller Strafverfolgungsorgane. Ihr Ziel muss es sein, eine wirksame Anwendung der zum Schutz des Lebens, der körperlichen Integrität, der sexuellen Selbstbestimmung und der Freiheit der Person erlassenen Strafvorschriften sicherzustellen. Es muss insoweit gewährleistet werden, dass Straftäter für von ihnen verschuldete Verletzungen dieser Rechtsgüter auch tatsächlich zur Verantwortung gezogen werden.

Dies bedeutet nicht, dass der in Rede stehenden Verpflichtung stets nur durch Erhebung einer Anklage genügt werden kann. Vielfach wird es ausreichend sein, wenn die Staatsanwaltschaft als Herrin des Ermittlungsverfahrens und - nach ihrer Weisung - die Polizei die ihnen zur Verfügung stehenden Mittel personeller und sächlicher Art sowie ihre Befugnisse auch tatsächlich nach Maßgabe eines angemessenen Ressourceneinsatzes nutzen, um den Sachverhalt aufzuklären und Beweismittel zu sichern.

Die Erfüllung der Verpflichtung zur effektiven Strafverfolgung unterliegt der gerichtlichen Kontrolle (§§ 172 ff. StPO) und setzt eine detaillierte und vollständige Dokumentation des Ermittlungsverlaufs ebenso voraus wie eine nachvollziehbare Begründung der Einstellungsentscheidungen.

2. Die verfassungsrechtlichen Anforderungen an eine effektive Strafverfolgung genügen auch dem von Art. 2 in Verbindung mit Art. 1 EMRK statuierten Mindeststandard.

a) Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sind die Gewährleistungen der Europäischen Menschenrechtskonvention in ihrer Auslegung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte bei der Auslegung der Grundrechte des Grundgesetzes zu berücksichtigen, soweit dies nicht zu einer von der Konvention selbst nicht gewollten (vgl. Art. 53 EMRK) Einschränkung oder Minderung des Grundrechtsschutzes nach dem Grundgesetz führt (vgl. BVerfGE 74, 358 <370>; 83, 119 <128>; 111, 307 <317>; 120, 180 <200 f.>; 128, 326 <368>).

b) Aus Art. 2 EMRK in Verbindung mit der allgemeinen Verpflichtung des Staates aus Art. 1 EMRK, "allen (seiner) Hoheitsgewalt unterstehenden Personen die in Abschnitt I dieser Konvention bestimmten Rechte und Freiheiten" zuzusichern, folgt eine Pflicht der Signatarstaaten, wirksame amtliche Ermittlungen anzustellen, wenn ein Mensch durch Gewalteinwirkung zu Tode gekommen ist (vgl. EGMR, Entscheidung vom 2. September 1998, Nr. 22495/93, Yasa/Türkei, Rep. 1998-VI, S. 2411, Rn. 100; EGMR, Entscheidung vom 22. März 2005, Nr. 28290/95, Güngör/Türkei, Rn. 67). Das gilt insbesondere, wenn sich der Verdacht gegen Repräsentanten des Staates richtet (vgl. grundlegend EGMR, Entscheidung vom 27. September 1995, Nr. 18984/91, McCann u.a./Vereinigtes Königreich, Serie A 324, Rn. 161). Wirksame Ermittlungen müssen prompt, umfassend, unvoreingenommen und gründlich sein (vgl. EGMR, McCann u.a./Vereinigtes Königreich, a.a.O., Rn. 163) und darüber hinaus geeignet, zur Identifizierung und Bestrafung der verantwortlichen Person zu führen (vgl. EGMR, Entscheidung vom 20. Mai 1999, Nr. 21554/93, Ogur/Türkei, NJW 2001, S. 1991 <1994>; EGMR, Entscheidung vom 10. April 2012, Nr. 9829/07, Ali Günes/Türkei, NVwZ 2013, S. 1599, Rn. 45). Freilich stellt nicht jeder Ermittlungsfehler schon eine Verletzung von Art. 2 EMRK dar, sondern nur ein Fehler, der den Untersuchungszweck gefährdet, Todesursache und verantwortliche Personen festzustellen (vgl. EGMR, McCann u.a./Vereinigtes Königreich, a.a.O., Rn. 157 ff.; EGMR, Entscheidung vom 5. Oktober 1999, Nr. 33677/96, Grams/Deutschland, NJW 2001, S. 1989 <1989 f.>).

3. Der angegriffene Beschluss des Oberlandesgerichts Nürnberg vom 19. Oktober 2010 genügt diesen Anforderungen.

a) Er verkennt weder die Bedeutung des Grundrechts auf Leben noch die Anforderungen an die effektive Strafverfolgung. In seinem über 30seitigen Beschluss setzt sich das Oberlandesgericht detailliert mit den Ermittlungsergebnissen sowie den im Beschwerde- und Klageerzwingungsverfahren von den Beschwerdeführern vorgebrachten Einwendungen auseinander und kommt dabei zu jedenfalls vertretbaren Ergebnissen. Nicht zu beanstanden ist namentlich, dass das Oberlandesgericht die Dynamik und den Gesamteindruck des Geschehens, die Bedrohung durch den für Zwangsmittel ersichtlich unempfindlichen und mit verbalen Aufforderungen nicht mehr erreichbaren bewaffneten Getöteten zugunsten der Beschuldigten in Rechnung gestellt und die Risiken eines weitere Zuwartens oder Ausweichens aufzeigt hat. Die Beschwerdeführer tragen auch keinerlei Anhaltspunkte für unterbliebene Ermittlungsmaßnahmen oder weitergehende Ermittlungsmöglichkeiten vor. Der von ihnen beanstandete Umstand, dass die konkrete Position des Messers nicht aufgeklärt worden sei, erscheint nicht geeignet, die rechtliche Beurteilung in Zweifel zu ziehen.

b) Der angegriffene Beschluss des Oberlandesgerichts Nürnberg vom 19. Oktober 2010 verletzt auch nicht den allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) in seiner Gestalt als Willkürverbot. Die Grenze zur Willkür ist erst dort überschritten, wo Auslegung und Anwendung des einfachen Rechts unter Berücksichtigung der das Grundgesetz beherrschenden Gedanken nicht mehr verständlich sind und sich daher der Schluss aufdrängt, dass sie auf sachfremden Erwägungen beruhen (vgl. etwa BVerfGE 81, 132 <137>, stRspr).

Das ist hier nicht der Fall. Das Oberlandesgericht hat bei der Zurückweisung des Antrags auf Klageerzwingung keine sachfremden Erwägungen angestellt. Die Annahme einer Notwehr- beziehungsweise Nothilfesituation kann nach den von den Beschwerdeführern im Kern nicht beanstandeten Ermittlungsergebnissen jedenfalls nicht als von vornherein unvertretbar angesehen werden. Soweit die Beschwerdeführer die Heranziehung der Beschuldigteneinlassungen und Zeugenaussagen pauschal mit dem Hinweis auf die eingeschränkte Mobilität des später Verstorbenen angreifen, wird zudem nicht deutlich, inwieweit dies angesichts einer Distanz von höchstens 2,5 m die Annahme eines unmittelbar bevorstehenden Angriffs hätte ausschließen müssen, zumal sich der Getötete von Warnschüssen oder Aufforderungen unbeeindruckt auf die Polizeibeamten zubewegt hatte. Das Oberlandesgericht hat sich mit dem Tatgeschehen, soweit es rekonstruierbar war, detailliert auseinandergesetzt. Dabei sind weder lückenhafte noch tendenziöse, auf die Schonung der beschuldigten Hoheitsträger ausgerichtete Vorermittlungen erkennbar geworden.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

HRRS-Nummer: HRRS 2014 Nr. 674

Bearbeiter: Holger Mann