HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Aug./Sept. 2017
18. Jahrgang
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Hervorzuhebende Entscheidungen des BGH


I. Materielles Strafrecht - Allgemeiner Teil


Entscheidung

753. BGH 2 StR 219/16 – Urteil vom 24. Mai 2017 (LG Marburg)

Notwehr (Erforderlichkeit der Notwehrhandlung: Voraussetzungen für die Annahme eines verfügbaren milderen Mittels); Anforderungen an ein freisprechendes Urteil (erforderliche Darstellung eines Rechtfertigungsgrundes).

§ 32 StGB; § 267 Abs. 5 StPO

1. Eine in einer Notwehrlage verübte Tat ist gemäß § 32 Abs. 2 StGB gerechtfertigt, wenn sie zu einer sofortigen und endgültigen Abwehr des Angriffs führt und es sich bei ihr um das mildeste Abwehrmittel handelt, das dem Angegriffenen in der konkreten Situation zur Verfügung steht (vgl. BGH JR 2016, 598, 599). Ob dies der Fall ist, muss auf der Grundlage einer objektiven Betrachtung der

tatsächlichen Verhältnisse im Zeitpunkt der Verteidigungshandlung beurteilt werden. Danach kann auch der sofortige, das Leben des Angreifers gefährdende Einsatz einer Waffe durch Notwehr gerechtfertigt sein.

2. Der Angegriffene muss auf weniger gefährliche Verteidigungsmittel nur zurückgreifen, wenn deren Abwehrwirkung unzweifelhaft ist und ihm genügend Zeit zur Abschätzung der Lage zur Verfügung steht. Die mildere Einsatzform muss im konkreten Fall eine so hohe Erfolgsaussicht haben, dass dem Angegriffenen das Risiko eines Fehlschlags und der damit verbundenen Verkürzung seiner Verteidigungsmöglichkeiten zugemutet werden kann. Angesichts der geringen Kalkulierbarkeit des Fehlschlagrisikos dürfen an die in einer zugespitzten Situation zu treffende Entscheidung für oder gegen eine weniger gefährliche Verteidigungshandlung keine überhöhten Anforderungen gestellt werden. Können keine sicheren Feststellungen zu Einzelheiten des Geschehens getroffen werden, darf sich dies nicht zu Lasten des Angeklagten auswirken.


Entscheidung

749. BGH 1 StR 614/16 – Beschluss vom 8. Juni 2017 (LG Augsburg)

Unterlassungsstrafbarkeit (Garantenstellung aufgrund Gesetz: keine rückwirkende Begründung der Garantenpflicht); Abgrenzung von Wahndelikt und untauglichem Versuch (Vorenthalten und Veruntreuen von Arbeitsentgelt).

Art. 103 Abs. 2 GG; § 13 Abs. 1 StGB; § 266a StGB; § 22 StGB; § 23 StGB

1. Handlungspflichten im Sinne von § 13 Abs. 1 StGB müssen im Hinblick auf die Gewährleistungen des Art. 103 Abs. 2 GG im Zeitpunkt der geforderten Handlung rechtlich wirksam bestanden haben. Soweit die Handlungspflicht auf Gesetz beruht, kann sie als strafrechtlich bedeutsame Pflichten nicht rückwirkend begründet werden.

2. Stellt sich ein Angeklagter vor, ihm sei eine Verpflichtung zur Meldung und Beitragsabführung hinsichtlich Sozialabgaben zugekommen, ist dies aber tatsächlich nicht der Fall, liegt bei unterlassenen Angaben kein untauglicher Versuch des Betruges, sondern nur ein strafloses Wahndelikt vor.


Entscheidung

828. BGH 4 StR 617/16 – Beschluss vom 23. Mai 2017 (LG Essen)

Mittäterschaft (Abgrenzung zur Beihilfe); Beihilfe (Förderung mehrerer rechtlich selbstständiger Haupttaten); Hehlerei (Tateinheit bei räumlicher und zeitlicher Nähe); Betrug (Abgrenzung zwischen Beihilfe und Mittäterschaft: Auswirkungen auf die Konkurrenz zur Hehlerei).

§ 25 Abs. 2 StGB; § 27 Abs. 1 StGB; § 52 Abs. 1 StGB; § 259 Abs. 1 StGB; § 263 Abs. 1 StGB

1. Mittäterschaft liegt nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs – in Abgrenzung zur Beihilfe – dann vor, wenn ein Tatbeteiligter nicht bloß fremdes Tun fördern, sondern seinen Beitrag als Teil der Tätigkeit des anderen und umgekehrt dessen Tun als Ergänzung seines eigenen Tatanteils will. Bei Beteiligung mehrerer Personen, von denen nicht jede sämtliche Tatbestandsmerkmale verwirklicht, handelt mittäterschaftlich, wer seinen eigenen Tatbeitrag so in die gemeinschaftliche Tat einfügt, dass er als Teil der Handlung eines anderen Beteiligten und umgekehrt dessen Tun als Ergänzung des eigenen Tatanteils erscheint.

2. Ob ein Beteiligter ein so enges Verhältnis zur Tat hat, ist nach den gesamten Umständen, die von seiner Vorstellung umfasst sind, in wertender Betrachtung zu beurteilen. Wesentliche Anhaltspunkte können dabei der Grad des eigenen Interesses am Taterfolg, der Umfang der Tatbeteiligung und die Tatherrschaft oder wenigstens der Wille zur Tatherrschaft sein. Dabei ist dem Tatrichter – vor allem in Grenzfällen – ein Beurteilungsspielraum eröffnet, der revisionsrechtlich nur eingeschränkt überprüft werden kann. Enthalten die Urteilsgründe eine hinreichende Darlegung aller maßgeblichen Gesichtspunkte, ist die tatrichterliche Wertung vom Revisionsgericht auch dann hinzunehmen, wenn im Einzelfall eine andere Beurteilung möglich gewesen wäre.

3. Durch die Annahme einer bloßen Beihilfe zu Betrugsstraftaten kann der Angeklagte ausnahmsweise beschwert sein, wenn er zusätzlich wegen gewerbsmäßiger Hehlerei verurteilt worden ist. Wäre der Angeklagte Mittäter der Betrugstaten, käme eine Verurteilung wegen Hehlerei nicht in Betracht, da der (Mit-)Täter der Vortat nicht Hehler sein kann.

4. Nach ständiger Rechtsprechung ist die Frage der Handlungseinheit oder Handlungsmehrheit nach dem individuellen Tatbeitrag eines jeden Beteiligten zu beurteilen. Fördert der Gehilfe durch eine Beihilfehandlung mehrere rechtlich selbstständige Haupttaten eines oder mehrerer Haupttäter, liegt nur eine Beihilfe im Rechtssinne vor.

5. Mehrere betrügerische Einkäufe mit einer EC-Karte bilden nur dann ausnahmsweise eine natürliche Handlungseinheit und stehen in Tateinheit, wenn zwischen ihnen ein besonders enger räumlicher und zeitlicher Zusammenhang besteht. Der Senat hat dies bejaht bei Einkäufen, welche mit derselben EC-Karte innerhalb von wenigen Minuten in demselben Geschäft erfolgten. An einem entsprechend engen räumlichen und zeitlichen Zusammenhang zwischen einzelnen Einkäufen fehlt es, wenn die Einkäufe zwar teilweise in demselben Einkaufszentrum, aber in verschiedenen Geschäften; zwar taggleich in demselben Geschäft, aber nicht in enger zeitlicher Folge – etwa innerhalb weniger Minuten – oder sogar an unterschiedlichen Tagen stattfanden.

6. Zwischen der Beteiligung an der Vortat und einer anschließenden Hehlerei kommt ausnahmsweise Tateinheit in Betracht, wenn die einzelnen Betätigungsakte räumlich und zeitlich in einem so engen Zusammenhang stehen, dass sie bei lebensnaher Betrachtung schon äußerlich eine Einheit im Sinne einer natürlichen Handlungseinheit bilden.


Entscheidung

724. BGH 3 StR 451/16 – Beschluss vom 4. April 2017 (LG Oldenburg)

Keine Beteiligung an nicht vom ursprünglichen Tatplan umfassten Körperverletzungen durch den bloßen Willen zur Mitwirkung (Mittäterschaft; Beihilfe; Förderung; Tatherrschaft; fehlender objektiver Beitrag; keine Einflussnahme auf das Geschehen).

§ 224 StGB; § 25 StGB; § 27 StGB

Der bloße Wille, anderen Beteiligten bei nicht vom ursprünglichen Tatplan umfassten Körperverletzungshandlungen beizustehen, begründet weder in Form der (Mit-)Täterschaft noch in Form der Beihilfe eine Beteiligung an diesen Körperverletzungshandlungen, sofern die Umsetzung des Willens durch äußere Umstände – hier: zur Kampfunfähigkeit führende Fixierung durch einen Klammergriff – gehindert wird.


Entscheidung

767. BGH 4 StR 35/17 – Beschluss vom 13. April 2017 (LG Essen)

Notwehr (Bestimmung der erforderlichen Verteidigungshandlung: Gesamtbetrachtung).

§ 32 Abs. 2 StGB

Der Rahmen der nach § 32 StGB erforderlichen Verteidigung wird von den gesamten Umständen der objektiven Kampflage bestimmt, namentlich vom konkreten Ablauf von Angriff und Abwehr, von Stärke und Gefährlichkeit des Angreifers und den Verteidigungsmöglichkeiten des Angegriffenen (vgl. BGH NJW 1989, 3027). Maßgebend sind insoweit ferner die Absichten des Angreifers und die von ihm ausgehende Gefahr einer Rechtsgutsverletzung.


Entscheidung

747. BGH 1 StR 55/17 – Beschluss vom 24. Mai 2017 (LG Traunstein)

Schuldunfähigkeit (Intelligenzminderung als schwere andere seelische Abartigkeit).

§ 20 StGB

Zwar kann eine Intelligenzminderung ohne nachweisbaren Organbefund dem Eingangsmerkmal des „Schwachsinns“ unterfallen und damit eine besondere Erscheinungsform schwerer anderer seelischer Abartigkeiten darstellen (vgl. BGH NStZ-RR 2015, 71), die zu einer erheblich verminderten oder sogar aufgehobenen Schuldfähigkeit führen kann. Die bloße Minderung der geistigen Leistungsfähigkeit begründet eine solche Beeinträchtigung aber nicht.


II. Materielles Strafrecht – Besonderer Teil


Entscheidung

786. BGH 2 StR 342/16 – Urteil vom 17. Mai 2017 (LG Aachen)

Diebstahl (irrtumsbedingte Gewahrsamslockerung, Abgrenzung zum Betrug; nicht verkehrsfähige Betäubungsmittel als Tatobjekt); Raub (Abgrenzung zum Diebstahl; nicht verkehrsfähige Betäubungsmittel als Tatobjekt); nachträgliche Gesamtstrafenbildung (Einbeziehung einer früheren Strafe; Ausschluss des Nachtragsverfahrens).

§ 242 Abs. 1 StGB; § 263 Abs. 1 StGB; 460 StPO

1. Hat sich der Täter eine Sache durch Täuschung verschafft, so ist für die Abgrenzung des Tatbestandsmerkmals der Wegnahme im Sinne des Diebstahlstatbestandes von der Vermögensverfügung im Sinne des Betrugstatbestandes auch die Willensrichtung des Getäuschten und nicht nur das äußere Erscheinungsbild des Tatgeschehens maßgebend. Betrug liegt vor, wenn der Getäuschte auf Grund freier, nur durch Irrtum beeinflusster Entschließung Gewahrsam übertragen will und überträgt. In diesem Fall wirkt sich der Gewahrsamsübergang unmittelbar vermögensmindernd aus. Diebstahl ist gegeben, wenn die Täuschung lediglich dazu dienen soll, einen gegen den Willen des Berechtigten gerichteten eigenmächtigen Gewahrsamsbruch des Täters zu ermöglichen oder wenigstens zu erleichtern.

2. Als Diebstahl werden insbesondere auch solche Fallgestaltungen erfasst, in denen der Gewahrsamsinhaber mit der irrtumsbedingten Aushändigung der Sache eine Wegnahmesicherung aufgibt, gleichwohl aber noch zumindest Mitgewahrsam behält, der vom Täter gebrochen wird. Vollzieht sich der Gewahrsamsübergang in einem mehraktigen Geschehen, so ist die Willensrichtung des Getäuschten in dem Zeitpunkt entscheidend, in dem er die tatsächliche Herrschaft über die Sache vollständig verliert. Hat der Gewahrsamsinhaber, der die wahren Absichten des Täuschenden nicht erkannt hat, den Gegenstand übergeben, ohne seinen Gewahrsam völlig preiszugeben, und bringt der Täter die Sache nunmehr in seinen (Allein-) Gewahrsam, so liegt hierin eine Wegnahme, wenn der Ausschluss des Berechtigten von der faktischen Sachherrschaft ohne oder gegen dessen Willen stattfindet.

3. Ein Gewahrsamsbruch im Sinne des Diebstahlstatbestandes kann in Fällen vorliegen, in denen die täuschungsbedingte Aushändigung von Amphetamin an den Angeklagten nur „zu Prüfzwecken“ erfolgt. Der endgültige Gewahrsamsverlust tritt erst dann ein, wenn der Angeklagte das Amphetamin nicht zurückgibt, sondern einsteckt, wenn dies gegen den Willen des ursprünglichen Gewahrsamsinhabers geschieht.

4. Nicht verkehrsfähige Betäubungsmittel können nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs fremde bewegliche Sachen und damit Tatobjekt eines Raubes oder eines Diebstahls sein. An dieser Rechtsauffassung hält der Senat fest.


Entscheidung

761. BGH 2 StR 580/16 – Urteil vom 26. April 2017 (LG Aachen)

Sexuelle Nötigung (Erheblichkeit der sexuellen Handlung: erforderliche Gesamtbetrachtung, keine veränderte Auslegung aufgrund der Einführung der sexuellen Belästigung); Strafzumessung (Berücksichtigung der mehrfachen Tatbegehung über einen längeren Zeitraum und des Schaffens eines „Klimas sexueller Übergriffigkeit“).

§ 184h Nr. 1 StGB; § 184i Abs. 1 StGB; § 46 StGB

1. Als erheblich im Sinne des § 184h Nr. 1 StGB sind solche sexualbezogenen Handlungen zu werten, die nach Art, Intensität und Dauer eine sozial nicht mehr hinnehmbare Beeinträchtigung des im jeweiligen Tatbestand geschützten Rechtsguts besorgen lassen (st. Rspr-). Dazu bedarf es einer Gesamtbetrachtung aller Umstände im Hinblick auf die Gefährlichkeit der Handlung für das jeweils betroffene Rechtsgut; unter diesem Gesichtspunkt belanglose Handlungen scheiden aus (vgl. BGHSt 29, 336, 338).

2. Die Einführung eines Auffangtatbestands für belästigend wirkende körperliche Berührungen in sexuell bestimmter Weise in § 184i Abs. 1 StGB wirkt sich nicht auf die Auslegung des Begriffs der Erheblichkeit in § 184h Nr. 1 StGB aus. Der Gesetzgeber bezweckte mit der Einführung des § 184i StGB nicht, bisher von § 184h Nr. 1 StGB aF erfasste Verhaltensweisen aus dem Schutzbereich herauszulösen und diese nunmehr nur noch unter den dort genannten Voraussetzungen in § 184i StGB unter Strafe zu stellen. Ziel der Neuregelung war es vielmehr, bisher strafrechtlich nicht erfasstes Verhalten auch unterhalb der Schwelle des § 184h Nr. 1 StGB zu pönalisieren.

3. Dass Taten sich über einen langen Zeitraum erstreckten, darf nicht bei der Zumessung der Einzelstrafen zu Ungunsten des Angeklagten berücksichtigt werden. Dass einer ersten oder zweiten Tat weitere nachgefolgt sind, ist regelmäßig für deren Unrechtsgehalt ohne strafzumessungsrelevante Bedeutung. Dies mag anders sein, wenn von vornherein eine Mehrzahl von Taten geplant ist und darin die nach § 46 Abs. 2 StGB berücksichtigungsfähige „rechtsfeindliche Gesinnung“ des Täters zum Ausdruck kommt.

4. Ist das Klima sexueller Übergriffigkeit Folge aller oder einiger Taten, so kann dieses dem Angeklagten nur im Rahmen der Gesamtstrafenbildung oder nur in diesen Fällen, für die es festgestellt wurde, angelastet werden (vgl. BGH NStZ 2014, 701).


Entscheidung

726. BGH 3 StR 475/16 – Beschluss vom 22. März 2017 (LG Wuppertal)

Bei Faustschlägen in der Hand gehaltenes Feuerzeug als gefährliches Werkzeug (objektive Beschaffenheit, Art der Benutzung; Eignung zur Herbeiführung erheblicher Verletzungen); Begehung „mittels“ eines gefährlichen Werkezugs (unmittelbare Einwirkung auf den Körper des Opfers); Vergewaltigung (Erzwingung sexueller Handlungen durch Drohung mit Gewalt gegen eine dem Opfer nahestehende Person); Voraussetzungen der Mittäterschaft bei der Körperverletzung (bestimmende oder fördernde Einflussnahme erforderlich; bloßes Einverständnis mit und/oder Billigung von Gewalthandlungen nicht ausreichend).

§ 25 Abs. 2 StGB; § 177 StGB; § 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB

1. Wer zur Verstärkung von Faustschlägen gegen Kopf und Oberkörper des Opfers zur Verstärkung der Schlagkraft ein Feuerzeug in die (zur Faust geschlossene) Hand nimmt, begeht in der Regel schon deshalb keine Körperverletzung gemäß § 224 Abs. 1 Nr. 2 Var. 2. StGB, weil es an einer Begehung „mittel“ eines gefährlichen Werkzeugs fehlt. Diese erfordert vielmehr eine unmittelbare Einwirkung mit dem entsprechenden Gegenstand auf den Körper des Opfers. Darüber hinaus kommt die Einordnung des Feuerzeugs als gefährliches Werkzeug allenfalls bei Feststellungen zu Größe, Gewicht und Materialbeschaffenheit in Betracht, aus denen sich eine Eignung zur Herbeiführung von Verletzungen ergibt.

2. § 177 Abs. 1 Nr. 2 StGB a.F. erfasste auch solche Fälle, in denen sich das Zwangsmittel nicht gegen das Opfer der Vergewaltigung, sondern gegen eine diesem nahestehende dritte Person richtete. § 177 Abs. 5 Nr. 2 StGB n.F. erfordert seinem Wortlaut nach hingegen ausdrücklich, dass sich die Drohung gegen das Opfer selbst richtet. Die Erzwingung sexueller Handlungen in der Weise, dass der Täter dem Opfer mit Gewalt gegen eine diesem nahestehende Person droht, wird allerdings nunmehr von § 177 Abs. 2 Nr. 5 StGB n.F. erfasst, unter den Voraussetzungen des § 177 Abs. 6 Satz 2 Nr. 1 StGB n.F. i als besonders schwerer Fall eingestuft und ist als Vergewaltigung zu tenorieren.


Entscheidung

815. BGH 4 StR 186/16 – Beschluss vom 28. Juni 2017 (LG Bochum)

Betrug (Vermögensschaden: Prinzip der Gesamtsaldierung; Eingehungsbetrug im Falle eines Risikogeschäfts; Verlust von Anlagegeldern als Vermögensschaden); Konkurrenzen (Tatserien).

§ 263 Abs. 1 StGB; § 52 StGB

1. Ein Vermögensschaden im Sinne des Betrugstatbestandes tritt ein, wenn die Vermögensverfügung des Getäuschten bei wirtschaftlicher Betrachtungsweise unmittelbar zu einer nicht durch Zuwachs ausgeglichenen Minderung des wirtschaftlichen Gesamtwerts seines Vermögens führt (Prinzip der Gesamtsaldierung). Maßgebend ist der Zeitpunkt der Vermögensverfügung, also der Vergleich des Vermögenswertes unmittelbar vor und nach der Verfügung. Spätere Entwicklungen berühren den tatbestandlichen Schaden nicht.

2. Wurde der Getäuschte zum Abschluss eines Vertrages verleitet (Eingehungsbetrug), sind bei der für die Schadensfeststellung erforderlichen Gesamtsaldierung der Geldwert des erworbenen Anspruchs gegen den Vertragspartner und der Geldwert der eingegangenen Verpflichtung miteinander zu vergleichen. Der Getäuschte

ist geschädigt, wenn sich dabei ein Negativsaldo zu seinem Nachteil ergibt. Ist der Getäuschte ein Risikogeschäft eingegangen, kommt es bei der Bestimmung des Schadens maßgeblich auf die täuschungs- und irrtumsbedingte Verlustgefahr an, die über die vertraglich zugrunde gelegte hinausgeht. Ein drohender, ungewisser Vermögensabfluss stellt erst dann einen Schaden dar, wenn der wirtschaftliche Wert des gepfändeten Vermögens bereits gesunken ist. Dies ist der Fall, wenn der Geldwert des seitens des Getäuschten erworbenen Anspruchs infolge der Verlustgefahr geringer ist als derjenige der eingegangenen Verpflichtung. Dieser Minderwert des im Synallagma Erlangten ist unter wirtschaftlicher Betrachtungsweise zu bestimmen und festzustellen.

3. Bei Abschluss eines Anlagegeschäfts liegt daher ein Vermögensschaden im Sinne des Betrugstatbestandes nur insoweit vor, als die vom Getäuschten eingegangene Verpflichtung wertmäßig die aus der Geldanlage resultierenden Ansprüche einschließlich der zur Zeit des Vertragsschlusses gegebenen Gewinnmöglichkeiten übersteigt.

4. Die Gefahr, während der Laufzeit die Anlagegelder zu verlieren, kann nicht mit einem Vermögensschaden im Sinne des Betrugstatbestandes im Zeitpunkt der Vermögensverfügung gleichgesetzt werden. Die Gefahr eines Totalverlusts ist vielmehr einer der Umstände, welche in die nach wirtschaftlichen Maßstäben vorzunehmende Bewertung der Werthaltigkeit der aus der Anlage resultierenden Ansprüche einzustellen sind

5. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist das Konkurrenzverhältnis bei Tatserien für jeden Beteiligten gesondert nach dem Umfang seiner Tatbeiträge zu beurteilen.


Entscheidung

719. BGH 3 StR 122/17 – Beschluss vom 16. Mai 2017 (LG Mönchengladbach)

Erheblichkeit sexualbezogener Handlungen (nicht mehr hinnehmbare Rechtsgutsbeeinträchtigung; Gesamtbetrachtung; belanglose Handlungen; kurze Berührung des bekleideten Geschlechtsteils; Hinzukommen weiterer Umstände; Gewicht des Übergriffs).

§ 176 StGB; § 184h Nr. 1 StGB

1. Als erheblich im Sinne von § 184h Nr. 1 StGB sind solche sexualbezogenen Handlungen zu werten, die nach Art, Intensität und Dauer eine sozial nicht mehr hinnehmbare Beeinträchtigung des im jeweiligen Tatbestand geschützten Rechtsguts besorgen lassen. Zur Feststellung der Erheblichkeit bedarf es einer Gesamtbetrachtung aller Umstände im Hinblick auf die Gefährlichkeit der Handlung für das jeweils betroffene Rechtsgut; unter diesem Gesichtspunkt belanglose Handlungen scheiden aus (vgl. zuletzt etwa BGH HRRS 2016 Nr. 536).

2. Tatbeständen, die – wie § 176 Abs. 1 StGB – dem Schutz von Kindern oder Jugendlichen dienen, sind an das Merkmal der Erheblichkeit geringere Anforderungen zu stellen als bei Delikten gegen die sexuelle Selbstbestimmung Erwachsener. Allerdings reichen auch hier kurze, flüchtige oder aus anderen Gründen unbedeutende Berührungen, insbesondere des bekleideten Geschlechtsteils, dafür grundsätzlich nicht aus. Die Schwelle zur Erheblichkeit kann jedoch überschritten sein, wenn über die bloße kurze Berührung hinaus weitere Umstände hinzukommen, die das Gewicht des Übergriffes erhöhen.


Entscheidung

794. BGH 2 StR 574/16 – Urteil vom 26. April 2017 (LG Köln)

Begriffsbestimmungen (Erheblichkeit einer sexuellen Handlung; Auslegung des Begriffs der Erheblichkeit nach Einführung des Tatbestandes der sexuellen Belästigung).

§ 184h Nr. 1 StGB; § 184i StGB

1. Die Einführung eines Auffangtatbestands für belästigend wirkende körperliche Berührungen in sexuell bestimmter Weise wirkt sich nicht auf die Auslegung des Begriffs der Erheblichkeit aus. Der Gesetzgeber bezweckte mit der Einführung des Tatbestandes der sexuellen Belästigung nicht, bisher vom Erheblichkeitsbegriff erfasste Verhaltensweisen aus dem Schutzbereich herauszulösen und diese nunmehr nur noch unter den dort genannten Voraussetzungen als sexuelle Belästigung unter Strafe zu stellen. Ziel der Neuregelung war es vielmehr, bisher strafrechtlich nicht erfasstes Verhalten auch unterhalb der Schwelle des Erheblichkeitsbegriffs zu pönalisieren.

2. Ein Einfluss auf die Auslegung des Begriffs der Erheblichkeit ergibt sich auch nicht dadurch, dass die Rechtsprechung bei der Prüfung der Erheblichkeit der sexuellen Handlung auf eine nach Art, Intensität und Dauer sozial nicht mehr hinnehmbare Beeinträchtigung des im jeweiligen Tatbestand geschützten Rechtsguts abstellt, womit bisher eine Abgrenzung zwischen strafbaren und straflosem Verhalten verbunden war, nunmehr aber nur noch eine solche zwischen den Tatbeständen des sexuellen Missbrauchs Schutzbefohlener, des sexuellen Missbrauchs von Kindern und der sexuellen Nötigung bzw. Vergewaltigung einerseits und demjenigen der sexuellen Belästigung andererseits vorzunehmen ist. Denn dieser Begriff der „sozial nicht mehr hinnehmbaren Beeinträchtigung“ bezieht sich auf andere, weiterreichende Rechtsgüter als dasjenige, das von dem Tatbestand der sexuellen Belästigung geschützt ist.


Entscheidung

810. BGH 4 StR 109/17 – Beschluss vom 21. Juni 2017 (LG Hagen)

Nötigung (Feststellung der Ausführung des geforderten Verhaltens); gewerbsmäßige unerlaubter Abgabe von Betäubungsmitteln an Minderjährige (Berücksichtigung des jugendlichen Alters der Abnehmer in der Strafzumessung).

§ 240 Abs. 1 StGB; § 29a Abs. 1 Nr. 1 BtMG

1. Für die Annahme einer (vollendeten) Nötigung ist entscheidende Voraussetzung, dass der Genötigte als Folge des auf ihn ausgeübten Drucks mit dem von ihm geforderten Verhalten zumindest begonnen hat.

2. Ein vom Täter erstrebtes Verhalten des Genötigten, das er von diesem nicht verlangt, ist dafür nicht ausreichend, weil das durch § 240 StGB geschützte Rechtsgut die Freiheit der Willensentschließung und Willensbetätigung ist.

3. Zwar kann das jugendliche Alter des Abnehmers dem wegen gewerbsmäßiger unerlaubter Abgabe von Betäubungsmitteln Angeklagten bei der Strafzumessung auch dann angelastet werden, wenn ein Vorsatz nicht sicher feststellbar ist. Voraussetzung hierfür ist aber, dass dem Angeklagten insoweit wenigstens Fahrlässigkeit zur Last fällt.


Entscheidung

822. BGH 4 StR 386/16 – Beschluss vom 21. Juni 2017 (LG Hannover)

Trunkenheit im Verkehr (absolute Fahruntüchtigkeit bei Radfahrern); Verbot der Verschlechterung (Geltung nach Verweisung an eine große Strafkammer als erstinstanzliches Gericht; Berücksichtigung im Revisionsverfahren von Amts wegen).

§ 316 StGB; § 328 Abs. 2 StPO; § 331 Abs. 1 StPO

1. Der Senat sieht keinen Anlass, die obergerichtliche Rechtsprechung zur absoluten Fahruntüchtigkeit bei Radfahrern einer näheren Prüfung zu unterziehen.

2. Das Verbot der reformatio in peius nach gilt auch dann, wenn das Landgericht die Sache gemäß § 328 Abs. 2 StPO an eine große Strafkammer verwiesen hat, die sodann als erstinstanzliches Gericht entscheidet.


Entscheidung

819. BGH 4 StR 228/17 – Beschluss vom 5. Juli 2017 (LG Detmold)

Sexueller Missbrauch von Schutzbefohlenen (Obhuts- bzw. Abhängigkeitsverhältnis: Über- und Unterordnung, Vorliegen bei häuslicher Gemeinschaft, Kenntnis des Geschädigten, Abwesenheit des Erziehungsberechtigten); Nötigung (Vollendung bei Erreichung eines Teilerfolgs).

§ 174 Abs. 1 Nr. 1 StGB; § 174 Abs. 2 Nr. 1 StGB; 240 Abs. 1 StGB

1. Die Tatbestände des § 174 Abs. 1 Nr. 1 StGB und des § 174 Abs. 2 Nr. 1 (in der Fassung vom 01. April 2004 bis 26. Januar 2015) bzw. Abs. 3 Nr. 1 (in der Fassung ab 27. Januar 2015) setzen voraus, dass zwischen Täter und Opfer ein Verhältnis besteht, kraft dessen eine Person unter 16 Jahren dem Täter zur Erziehung, zur Ausbildung oder zur Betreuung in der Lebensführung anvertraut ist. Erforderlich hierfür ist ein Abhängigkeitsverhältnis im Sinne einer Unter- und Überordnung, die den persönlichen, allgemein menschlichen Bereich umfasst, in welchem einer Person das Recht und die Pflicht obliegt, die Lebensführung des Jugendlichen und damit dessen geistig-seelische Entwicklung zu überwachen und zu leiten.

2. Allein aus dem Zusammenleben in häuslicher Gemeinschaft kann jedoch nach ständiger Rechtsprechung noch kein Obhutsverhältnis hergeleitet werden.

3. Das Obhuts- und damit das Unterordnungsverhältnis muss als solches auch dem Geschädigten bewusst gewesen sein, denn der Tatbestand des sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen schützt, wie sich aus der Gesetzessystematik ergibt, vor allem die sexuelle Selbstbestimmung.

4. Eine nur ganz kurzfristige Verantwortlichkeit während der Abwesenheit des Erziehungsberechtigten nicht ausreicht, um ein Obhutsverhältnis zu begründen.