HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Juli 2014
15. Jahrgang
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Aufsätze und Entscheidungsanmerkungen

Transnationaler ne-bis-in-idem-Schutz nach der GRC Zum Fortbestand des Vollstreckungselements aus Sicht des EuGH

zugleich Besprechung zu EuGH HRRS 2014 Nr. 484

Prof. Dr. Frank Meyer, LL.M. (Yale), Zürich

I. Einleitung

Die Entscheidungen deutscher Gerichte zur Interpretation der Reichweite des ne-bis-in-idem-Schutzes in mehreren Verfahren gegen bereits im Ausland verurteilte NS-Kriegsverbrecher hat im deutschen Schrifttum eine intensive Debatte darüber ausgelöst,[1] ob das Inkrafttreten der Grundrechtecharta eine Ausweitung des grenzüberschreitenden Schutzes gegen Doppelbestrafung bewirkt hat. Konkret ging es um das sog. Vollstreckungselement, das Art. 50 GRC anders als noch Art. 54 SDÜ nicht mehr vorsah. Die Meinungen im Schrifttum waren (und sind) geteilt, und zwar sowohl im Ergebnis als auch in der Begründung.[2] Die wesentlichen Argumente lagen danach aber gleichwohl auf dem Tisch, womit es für Rechtspraxis und Rechtssicherheit nur noch auf eine abschlie ß ende verbindliche Entscheidung ankam. Diese konnte nur vom EuGH gefällt werden und ist nunmehr in der Rechtssache Spasic auf Vorlage des OLG Nürnberg getroffen worden.[3] Der EuGH präzisiert die Reichweite des Art. 50 GRC dahingehend, dass das Vollstreckungselement aus Art. 54 SDÜ, das die Anwendung des Grundsatzes ne bis in idem von der Bedingung abhängig macht, dass im Fall einer Verurteilung die Sanktion "bereits vollstreckt worden ist" oder "gerade vollstreckt wird", fortgilt.[4] Diese Einschränkung von Art. 50 GRC sei mit der Grundrechtecharta vereinbar, da Art. 54 SDÜ als zulässige Einschränkung des Schutzbereichs nach Art. 52 Abs. 1 GRC zu verstehen sei. Die zweite Vorlagefrage betraf die interessante Konstellation, dass in einer verurteilenden Gerichtsentscheidung eine Freiheitsstrafe und eine Geldstrafe kumulativ angeordnet wurden, aber (vorerst) nur die Geldstrafe vollstreckt wird.

Die Prüfung durch den EuGH bringt bei oberflächlicher Betrachtung in der Sache auch nichts Neues. Der Gerichtshof spult die Prüfung der Zulässigkeit der Einschränkung nach Art. 52 GRC nüchtern herunter und kommt zu Schlussfolgerungen und Ergebnissen, die auch schon im Schrifttum (ausführlicher) entwickelt worden sind. Wozu dann noch ein Besprechungsaufsatz? Zum einen verdienen die Ausführungen des EuGH zum Schutzzweck des Vollstreckungselements ebenso erhöhte Aufmerksamkeit wie das teils erschreckende Verständnis von europäischer Strafrechtspflege, das im Urteil zum Vorschein kommt. Zum anderen sollen Ausgangssachverhalt und Entscheidungsgründe zum Anlass genommen werden, um auf die Problematik der Jurisdiktionskonflikte zurückzukommen. Die Beschränkungen für Grundfreiheiten und Grundrechte, die der gegenwärtige Rechtszustand produziert und provoziert, werden im vorliegenden Fall sehr deutlich und sollen daher mit einem Appell zur Reform verbunden werden.

II. Sachverhalt

Das Vorabentscheidungsersuchen erging im Rahmen eines in Deutschland anhängigen Strafverfahrens gegen einen serbischen Staatsangehörigen, dem ein in Italien begangener Betrug zur Last gelegt wird. Der Beschuldigte soll am 20. März 2009 in Mailand einen bandenmäßigen Betrug zu Lasten eines deutschen Staatsangehörigen begangen haben. Bereits am 25. Februar 2010 hatte das Amtsgericht Regensburg einen nationalen Haftbefehl wegen des in Mailand begangenen Betrugs erlassen, der als Grundlage für den Erlass eines Europäischen Haftbefehls durch die Staatsanwaltschaft Regensburg am 5. März 2010 diente. Wegen dieser und anderer Taten erließ das Amtsgericht Regensburg am 20. November 2013 gegen Herrn Spasic erneut einen nationalen Haftbefehl.

Am 6. Dezember 2013 wurde der Beschuldigte deutschen Behörden aufgrund des Europäischen Haftbefehls vom 5. März 2010 von österreichischen Behörden übergeben und befindet sich seitdem in Deutschland in Untersuchungshaft. Der Beschuldigte hatte sich zu diesem Zeitpunkt wegen einer anderen Verurteilung im

österreichischen Strafvollzug befunden.[5] Gegen die Anordnung und Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft in Deutschland legte der Beschuldigte im Anschluss jeweils abgewiesene Beschwerden beim Amtsgericht Regensburg und beim Landgericht Regensburg mit der Begründung ein, "dass er in Deutschland nach dem Grundsatz ne bis in idem wegen der am 20. März 2009 in Mailand begangenen Tat nicht mehr verfolgt werden könne, weil gegen ihn wegen dieser Tat bereits ein rechtskräftiges und vollstreckbares Urteil des Tribunale ordinario di Milano ergangen sei".[6] In der Tat hatte das Tribunale ordinario di Milano den Beschuldigten wegen der Tat vom 20. März 2009 bereits am 18. Juni 2012 in Abwesenheit zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und einer Geldstrafe von 800 Euro verurteilt; dieses Urteil war seit dem 7. Juli 2012 rechtskräftig. Herr Spasic befand sich zu diesem Zeitpunkt bereits in Österreich in Haft,[7] legte im Verfahren aber ein schriftliches Geständnis ab. Mit Bescheid vom 5. Januar 2013 widerrief die Staatsanwaltschaft beim Tribunale ordinario di Milano die zwischenzeitliche Aussetzung der Strafvollstreckung und verfügte die Inhaftnahme des Verurteilten zur Verbüßung seiner oben genannten Freiheitsstrafe von einem Jahr und die Begleichung der Geldstrafe von 800 Euro. Die Geldstrafe hat der Betroffene später (am 23. Januar 2014) entrichtet.

Gegen die Entscheidung des Landgerichts Regensburg legte der Beschuldigte dann eine weitere Beschwerde mit der zusätzlichen Begründung ein, dass er zwischenzeitlich die Geldstrafe von 800 Euro beglichen habe. Das nunmehr befasste Oberlandesgericht Nürnberg wandte sich daraufhin mit einer Vorlage zur Klärung der Streitfragen an den EuGH.[8]

III. Schutzbereich von Art. 50 GRC

Art. 50 GRC verbrieft den anerkannten allgemeinen unionsrechtlichen Rechtsgrundsatz[9] des Verbots der Doppelverfolgung.[10] Anders als Art. 4 ZP VI EMRK und Art. 54 SDÜ gilt Art. 50 GRC sowohl innerhalb der mitgliedstaatlichen Rechtssysteme als auch in horizontal-transnationaler und (theoretisch) in supranational-vertikaler Dimension.[11] Art. 50 GRC verbürgt kein absolutes Recht, sondern unterliegt dem allgemeinen Einschränkungsvorbehalt in Art. 52 Abs. 1 GRC.[12] Danach muss jede Einschränkung der Ausübung von Grundrechten und -freiheiten gesetzlich vorgesehen sein, den Wesensgehalt dieser Rechte und Freiheiten achten sowie den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wahren; d.h. die Einschränkung muss den von der Union anerkannten und dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer tatsächlich entsprechen und zu ihrer Erreichung geeignet, erforderlich und angemessen sein.[13] EuGH und diverse Stimmen im deutschen Schrifttum sehen in Art. 54 SDÜ eine solche zulässige Einschränkung des transnational-horizontalen Schutzbereichs.[14] Für die anderen Dimensionen des Rechts greift Art. 54 SDÜ von vornherein nicht.

IV. Begründung der Zulässigkeit der Einschränkung durch den EuGH

1. Bedeutung und Aussagekraft der Erläuterungen

Sowohl EuGH als auch Schrifttum stützen ihre Begründungsansätze entscheidend auf die Erläuterungen des

Präsidiums des Konvents.[15] Diese Erläuterungen sollen nach der Vorstellung von Art. 52 Abs. 7 GRC als Auslegungshilfe dienen,[16] ohne selbst unmittelbar rechtsverbindlich zu sein. Was den Erläuterungen in Bezug auf die Fortgeltung von Einschränkungen aus dem SDÜ tatsächlich entnommen werden kann, ist nicht unumstritten.[17] Bisweilen wird diesbezüglich auch zwischen Art. 54 und Art. 55 SDÜ differenziert.[18] Die bisher befassten Gerichtshöfe verstehen die Erläuterungen dahingehend, dass der Anwendungsbereich von Art. 50 GRC zwischen den Mitgliedstaaten dem Besitzstand nach Art. 54–58 SDÜ entsprechen sollte.[19] Die Konventsmaterialien sind in dieser Hinsicht allerdings keineswegs so eindeutig, wie dies von den bisher befassten Gerichtshöfen dargestellt wird.[20] Zudem wären sie unter keinen Umständen unmittelbar rechtsverbindlich, weshalb es genauerer Begründung bedurft hätte, warum der eindeutige Normwortlaut übergangen und der Schutzgehalt der Norm erheblich beschränkt werden darf.[21] Hierzu lässt sich allenfalls vorbringen, dass der von Art. 54 ff. SDÜ abgedeckte Anwendungsbereich von ne bis in idem nur einen Teilbereich von Art. 50 GRC erfasst, was die fehlende Aufnahme in den Wortlaut erklären könnte. Rechtlich bedeutungslos wäre ein Vollstreckungselement aber auch für die anderen Schutzdimensionen nicht. Die Engführung auf die grenzüberschreitend-vertikale Schutzrichtung ergibt sich erst aus dem Zusammenhang mit einer ganz bestimmten Deutung der Ratio des Vollstreckungselements sowie dem (gegenwärtigen) Fehlen eines praktischen Anwendungsbereichs für die vertikal-horizontale Dimension.[22]

2. Das Prüfungsprogramm des Art. 52 Abs. 1 GRC

a) Zielsetzung und Kontextualisierung

Selbst wenn es im Konvent eine solche Einschränkungsintention gegeben haben sollte, sind die Würfel damit aber nicht automatisch gefallen, denn Art. 52 Abs. 1 GRC stellt ein abgestuftes Prüfungsprogramm auf, das jede geplante Einschränkung durchlaufen muss. In diesem Zusammenhang ließe sich durch den Verweis auf die Erläuterungen allenfalls noch feststellen, dass die genannten Normen als Vorschriften zu gelten haben, die einem unionsrechtlich anerkannten Ziel i.S.v. Art. 52 Abs. 1 GRC dienen. Letztlich wäre aber auch das egal, da es keiner finalen Zweckbestimmung als Einschränkung zum Zeitpunkt des Erlasses des jeweiligen Rechtsaktes bzw. der GRC bedarf. Vielmehr wächst Art. 54 SDÜ diese Funktion ex post zu. Er mutiert mit Inkrafttreten der Grundrechtecharta von einer rechtsbegründenden Norm zu einer rechtsbeschränkenden Norm. Allenfalls diese Umwidmung kann den Erläuterungen entnommen werden. Ein Attest der grundrechtsdogmatischen Zulässigkeit dieser Einschränkungen verkörpern die Erläuterungen nicht. Entscheidend bleibt aber, dass auch gesetzlich vorgesehene Einschränkungen, den Wesensgehalt der eingeschränkten Rechte und Freiheiten zu achten haben, mit den von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten korrespondieren und verhältnismäßig sein müssen. Bei dieser Prüfung sind die Entwicklung des Rechtshilferechts sowie der Grundfreiheiten und -rechte seit den Tagen des Konvents zu beachten. Die Legitimation der Einschränkung ist nicht retroaktiv zu prüfen, sondern muss sich an heutigen Bedingungen messen lassen. Vor allem muss sie in Bezug zu dem neuen Unionsziel der Gewährleistung eines Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts gesetzt werden.

Der EuGH erkennt dies durchaus und bettet Art. 54 SDÜ ebenso in den Kontext des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts ein wie er kooperationsrechtliche Alternativen zu einer Zweitbestrafung diskutiert. Der Gerichtshof verkennt jedoch Gehalt und Dimension dieser Zielvorgaben. Dies kommt bei der Prüfung der Verhältnismäßigkeit ganz offen zum Ausdruck. In das Zentrum der Prüfung rückt nicht das Doppelbestrafungsverbot mit seinem grundrechtlichen Schutzgehalt, sondern die Ratio des Vollstreckungselements. Nach Auffassung des EuGH soll das Vollstreckungselement verhindern, dass ein in einem ersten Vertragsstaat rechtskräftig Verurteilter nicht mehr wegen derselben Tat in einem zweiten Vertragsstaat verfolgt werden kann und somit letztlich einer Strafe entgeht, wenn der erste Vertragsstaat die verhängte Strafe nicht hat vollstrecken lassen.[23] Vor allem

gehe es darum, der Gefahr entgegenzuwirken, dass der Verurteilte der Strafe entgeht, weil er das Gebiet des Urteilsstaats verlassen hat.[24] Dieser Schutzzweck bedürfe effektiver Verwirklichung bei der Präzisierung des Schutzbereichs von Art. 50 GRC. Die intrinsische Wertigkeit dieser Ratio und damit zugleich ihr Gewicht innerhalb der Verhältnismäßigkeitsabwägung erhöht der EuGH dadurch, dass er eine innere Verbindung zum Unionsziel, den EU-Bürgerinnen und -Bürgern gem. Art. 3 Abs. 2 EUV einen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts ohne Binnengrenzen zu bieten, herstellt[25] und das Vollstreckungselement als Ausfluss der (vermeintlichen) Handlungsanweisung in Art. 67 Abs. 3 AEUV deutet, Maßnahmen zu treffen, die ein hohes Maß an Sicherheit gewährleisten.[26] Zu der Deutung von Art. 54 SDÜ als zulässiger Einschränkung des Doppelbestrafungsverbots sieht sich der EuGH mithin geradezu verpflichtet, denn ein hohes Maß an Sicherheit lässt sich natürlich nur dann gewährleisten, wenn rechtskräftig Verurteilte nicht ihrer Strafe entgehen können.

b) Begründungsdefizite oder: "Die scheinbare Irrelevanz von Grundrechtserwägungen"

Hierzu ist indessen zunächst zu entgegnen, dass die Ratio des Vollstreckungselements nicht präzise dargestellt wird. Es dient primär der Verhinderung von "forum fleeing" oder auch missbräuchlichem "forum shopping";[27] nicht allgemein der Linderung von Vollzugsdefiziten. Die Konsequenzen dieses Unterschieds macht der vorliegende Fall recht deutlich, denn in der Rechtssache Spasic lagen weder Flucht noch eine sonstige bewusste Entziehung bzw. Manipulation des Verfahrensortes[28] vor. Vielmehr kam es zu der ersten Verurteilung im Wege einer Abwesenheitsentscheidung, die ihrerseits schon als solche rechtsstaatliche Bedenken hervorrufen müsste. Sieht man das Vollstreckungselement aber primär als ein Vehikel um Flucht und Missbrauch begegnen zu können, drängt sich in Konstellationen wie der vorliegenden eher die Frage auf, wie es um die Pflicht von Union und Mitgliedstaaten bestellt ist, Unionsbürger in einem Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts effektiv vor Doppelbestrafung zu schützen. Der Gedanke, dass ein verurteilter Unionsbürger ein Recht darauf haben könnte, auch vor Vollziehung der ausgeworfenen Strafe nicht mehrfach verfolgt bzw. verurteilt zu werden, kommt dem EuGH nicht. Dem EuGH gelingt es nur mit einer verzerrenden Erweiterung der Ratio des Vollstreckungselements, eine (scheinbar) friktionsfreie primärrechtliche Anbindung des Vollstreckungselements an Art. 3 Abs. 2 EUV und Art. 67 Abs. 3 AEUV herzustellen.

An dieser Stelle muss die kritische Betrachtung des EuGH-Urteils sowohl grundrechtsdogmatisch als auch perspektivisch noch weiter in die Tiefe gehen, denn die Ausführungen haben bedenkliche Implikationen nicht nur für den Doppelbestrafungsschutz, sondern für die Ausarbeitung des Grundrechtsschutzes im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts insgesamt. Offenbar denkt man im EuGH, dass Art. 50 GRC nur eine Normhülle ohne materiellen Kern ist, dessen Inhalt sich allein nach Art. 54 SDÜ bemisst. Art. 50 GRC hat Art. 54 SDÜ als Grundlage des Doppelbestrafungsverbots indessen vollständig abgelöst; das zeigt sich nicht nur an der primärrechtlichen Stellung, sondern gerade auch darin, dass der Schutzgehalt von Art. 50 GRC im Hinblick auf seine Wirkungsdimensionen deutlich weiter reicht als Art. 54 SDÜ. Was macht aber den normativen Kern dieses neuen Grundsatzes aus? Mit keiner Silbe wird auf diesen Aspekt und seine Wechselwirkung mit einem wie auch immer gedeuteten Vollstreckungselement eingegangen. Kurzum: Die grundrechtliche Seite des Falles wird ausgeblendet. Es dominiert eine einseitige Sicherheitsfokussierung. Dass die Handlungen der Mitgliedstaaten im Kontext des Art. 67 ff. AEUV häufig eine deutliche Schlagseite zugunsten der effektiven Realisierung nationaler Strafverfolgungsinteressen haben, ist kriminalpolitisch wohl gar nicht anders zu erwarten. Dass aber das zentrale justizielle Unionsorgan so wenig Lust und Elan verspürt, den Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts voll zur Entfaltung zu bringen und für einen konkordanten Ausgleich seiner Teilelemente zu sorgen, bestürzt. Die Instrumente der Zusammenarbeit im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts dienen nicht allein als allgemeiner Sicherheits- und Vollzugsdienst der Union. Das Raum-Ziel ist ungleich komplexer und vielschichtiger. Obgleich es nicht an Versuchen mangelt, kann freilich nicht behauptet werden, dass es schon gelungen wäre, eine vollends überzeugende materielle Verbindung der strafrechtlichen und polizeilichen Zusammenarbeit mit dem Raum-Konzept herzustellen.[29] Aus Sicht der mitgliedstaatlichen Regierungen soll der Raum als Metapher wohl ohnehin nichts an Abstraktheit einbüssen und rechtspraktisch die Konzentration weiterhin den sicherheitspolitischen Bezügen gelten. Dabei wird natürlich unterschlagen, was im interessierten Schrifttum eigentlich als ausgemacht gilt und schon an anderer Stelle ausführlicher dargelegt wurde:[30] Der Begriff des Raumes bezieht sich als rechtlicher Gestaltungsrahmen auf das Wertedreieck in Art. 67 Abs. 1 AEUV insgesamt. Weder ein genereller Vorrang noch ein primärer Fokus auf Sicherheit lassen sich für die strafrechtliche Zusammenarbeit aus Art. 67 Abs. 3 AEUV ableiten.[31]

Alle drei Raum-Komponenten müssen integriert entwickelt und zur (konkordanten) Entfaltung gebracht werden.[32] Die Unionsorgane bleiben gleichermaßen zum angemessenen Ausgleich zwischen Freiheit, Sicherheit und Recht verpflichtet,[33] wobei der gemeinsame Fluchtpunkt der freizügigkeits- und grundrechtsberechtigte Unionsbürger ist.[34] Das bedeutet auch, dass e iner Engführung der Freiheitsdimension auf Freizügigkeitsschutz entschieden entgegenzutreten und einer Interpretation der Art. 67 ff. AEUV Vorrang einzuräumen ist, die im Einklang mit dem weiten Verständnis von Art. 51 GRC auf bürgerliche Freiheiten in einem umfassenden Sinn Bezug nimmt.[35] Gefragt ist damit allgemein eine transnationale Grundrechtsdogmatik, die den transnationalen, d.h. Grenzen übergreifenden Gehalt der Grundrechte entwickelt und eine Typisierung der neuen Formen der Einwirkung auf Grundrechte bei der transnationalen Strafrechtspflege in der EU vornimmt.[36] Bezogen auf Doppelbestrafung und Doppelverfolgung müsste die Argumentation dazu zunächst vom Kopf auf die Füße gestellt werden. Ausgangspunkt der Auseinandersetzung muss die Ratio des Doppelbestrafungsverbots sein und die Zulässigkeit von Ausnahmen muss vom Recht her begründet und konstruiert werden.

Bezeichnenderweise spielt die Ratio des Doppelbestrafungsverbots in der Entscheidung keine Rolle. Allerdings sind weder die materielle Quelle des Doppelbestrafungsverbots noch die Begründung seiner grenzüberschreitenden Anwendung befriedigend geklärt.[37] Hier bedarf es noch einiger Grundlagenarbeit. Für den EGMR ist die Garantie Ausfluss des Schutzes der Menschenwürde,[38] die den Rechtsfrieden einer bereits verfolgten Person einschließt. In der Wissenschaft stehen Rechtsstaatlichkeit und Verfahrensfairness im Vordergrund.[39] Es finden sich aber auch subjektiv-rechtliche Bezugnahmen auf das Persönlichkeitsrecht und allgemeine Gerechtigkeitserwägungen.[40] Eser sieht eine Verschränkung von materiellen Schutzzwecken (insb. Menschenwürde) und prozessualen Rechtssicherheitsaspekten.[41] Noch seltener finden sich Versuche zur normativen Erläuterung der horizontal-transnationalen Anwendung in der EU.[42] Sie wird meist mit dem Schutz der Freizügigkeit (Art. 45 Abs. 1 GRC, Art. 21 AEUV) begründet[43] oder allgemeiner als ein Gebot zum (kompensierenden) Schutz der Bürger vor den gewachsenen Möglichkeiten zur grenzüberschreitenden Strafverfolgung (im Schengenraum) gesehen.[44] Bisweilen wird die transnationale Geltung als Konsequenz des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung dargestellt,[45] jedoch fehlt es diesem "Grundsatz" an einem primärrechtlichen Kern, weshalb man für die Geltungsbegründung doch wieder auf die Freizügigkeit zurückgreifen müsste.[46] Dass ein Verbot der transnationalen Doppelverfolgung durch Konzentration und effiziente Auslastung der Strafverfolgungsressourcen auch einer effektiven transnationalen Strafverfolgung hilft,[47] mag im Schengenraum tatsächlich eine Zweckerwägung gewesen sein, muss aber als Ratio unter der Ägide der GRC als überholt gelten. Ohnehin lässt sich eine effiziente und sachgerechte Verfahrensallokation über Art. 54 SDÜ gerade nicht erreichen. Als maßgeblich erweist sich danach in Rechtsprechung und Schrifttum vor allem die Grundfreiheit der Freizügigkeit.

Der EuGH zapft die Freizügigkeit in seiner Argumentation (ganz entgegen seiner eigenen Rechtsprechung zur Auslegung der Tatbestandsmerkmale des Doppelbestrafungsverbots) nur als Reservoir für die Rechtfertigung

des Grundrechtseingriffs an. Der abstrakte Schutz des freizügigen Bürgers als passiver Sicherheitsrezipient muss als Legitimation herhalten, ohne zu erörtern, dass mit der intendierten Doppelbestrafung ganz konkret in die Freizügigkeit (und andere Rechtspositionen) einer konkreten anderen Person eingegriffen wird. Es tritt damit der merkwürdige Umstand ein, dass bei der Bewertung von bis und idem eine andere Freizügigkeitsdimension und ein anderer Betroffenenkreis angesprochen ist als bei deren Eingrenzung.[48]

Stellte man bei der rechtlichen Bewertung die Linse scharf auf die Grundrechtsbeeinträchtigung ein, kämen zwei weitere Problemkomplexe in Blick. Dass grenzüberschreitende Fälle multiple Gerichtsbarkeiten produzieren, ist eine Binse. Der vorliegende Fall zeigt aber anschaulich, dass Jurisdiktionskonflikte bzw. überlappende Jurisdiktionen nicht allein das Spiegelbild der Phänomenologie der Deliktsbegehung sind, sondern das Produkt gezielter Schaffung extraterritorialer Gerichtsbarkeiten. Dies geschieht teilweise gesteuert über internationale oder supranationale Rechtsakte, vielfach (und häufiger) aber durch weitgehend unreflektierte, wenn nicht gar willkürliche Gestaltung des nationalen Strafanwendungsrechts.[49] Dass hierdurch massiv in Grundrechte und Grundfreiheiten eingegriffen wird und sich diese Eingriffe nur schwer rechtfertigen lassen, wird auf politischer Ebene weithin ignoriert, ändert aber nichts am rechtlichen Befund.[50] Die Nutzung vieler traditioneller genuine links ist in der gegenwärtigen Form mit Art. 7 GRC, Art. 18 und 21 AEUV sowie einzelne Justizgrundrechten nicht mehr vereinbar.[51] In dieser Hinsicht bedürfte es einer deutlichen Zurückschneidung nationaler Jurisdiktionsansprüche über Auslandssachverhalte.[52] Dies beträfe auch den vorliegenden Fall, denn die Bundesrepublik stützt ihr ius puniendi gegenüber Spasic auf das passive Personalitätsprinzip. Dieses Prinzip gilt unter den klassischen Jurisdiktionsprinzipien als der schwächste und kontroverseste genuine link.[53] Innerhalb der EU wirkt es geradezu anachronistisch. Zusätzlich zu den verfassungsrechtlichen Bedenken spricht in der EU grundsätzlich gegen diesen Grundsatz, dass er mit dem primärrechtlichen Diskriminierungsverbot (Art. 18 EUV) unvereinbar ist.[54] Letztlich können die deutschen Gerichte damit schon gar keinen europarechtlich legitimen Anspruch auf Anwendung deutschen Strafrechts und Ausübung eigener Gerichtsbarkeit geltend machen. Dies stört die Strafverfolgungsbehörden indessen nicht. Solange das passive Personalitätsprinzip im StGB statuiert ist, wird es als quasi "gottgegeben" praktiziert und nicht weiter hinterfragt. Auch der EuGH zeigt sich in seinem Urteil nicht empfänglich für die Konsequenzen der Kumulierung von Vollstreckungselement und exorbitanten Jurisdiktionsansprüchen.

Eng mit diesem Komplex verbunden ist eine dritte Grundrechtsdimension. Jurisdiktionskonflikte werden sich, gerade auch bei komplexen grenzüberschreitenden Sachverhalten, nicht per se ausschließen lassen. Sobald man sich aber klarmacht, dass in der Möglichkeit, sich in rechtlich nicht regulierter Weise einer Vielzahl von Strafverfolgungsmaßnahmen in einer Vielzahl von Ländern (wegen desselben Verhaltens!) ausgesetzt zu sehen, sowohl eine Beeinträchtigung von materiellen Grundrechten als auch von Justizgrundrechten liegen kann,[55] ergibt sich daraus eigentlich die zwingende Notwendigkeit, die Suche nach Lösungen für diesen Missstand zu intensivieren. Nimmt man den Anspruch der GRC ernst, dann begründen Eingriffe in den Schutzbereich der Charta-Rechte nicht nur einen Abwehranspruch (duty to respect), sondern auch positive Schutzpflichten. Obgleich die Schutzpflichtdogmatik in der grundrechtsbezogenen Rechtsprechung des EuGH noch keinen nachhaltigen Niederschlag gefunden hat,[56] ist man sich für die GRC relativ einig, dass der Schutzbereich ihrer Grundrechte neben dem klassischen Abwehrrecht auch Schutz- und Gewährleistungspflichten (duty to protect und duty to fulfill) einschließt.[57] Als Ausfluss einer solchen Schutzpflicht ist zu fordern, dass Unionsorgane und Mitgliedstaaten Mechanismen zur kontrollierten, grundrechtsschonenden und gerichtlich überprüfbaren Koordinierung von Jurisdiktionskonflikten schaffen.[58]

Ferner sind (als notwendiges komplementäres Element) konsequent Ausbau und Integration der strafrechtlichen Zusammenarbeit voranzutreiben. Dies muss im Einklang mit den Grundrechten der Unionsbürger und den speziellen Grundrechtsgefahren und Anforderungen, die eine

transnational-arbeitsteilige Strafverfolgung aufwirft, geschehen. Dabei soll hier nicht in die Debatte eingestiegen werden, ob Justizbehörden befugt sind, aus primärrechtlichen Bindungen ungeschriebene Versagungsgründe gegenüber sekundärrechtlichen Kooperationspflichten zu entwickeln.[59] Vielmehr gibt der Fall Spasic Grund zum Nachdenken in anderer Hinsicht: Es geht um das Ermessen der Mitgliedstaaten bezüglich der effektiven Nutzung der Instrumente der strafrechtlichen Zusammenarbeit und ihre Wechselwirkung mit den Grundrechten von Beschuldigten, Opfern und Drittbetroffenen. Während in den Urteilen des EuGH und den rechtspolitischen Statements der mitgliedstaatlichen Regierungen immer wieder die Notwendigkeit effektiver Zusammenarbeit betont und auf eine konsequent diesem Ziel dienliche Rechtsanwendung gedrängt wird, zeichnet der EuGH in Spasic ein ganz anderes Bild. Effektiv funktionieren muss ein Rechtshilfeinstrument letztlich nur dann, wenn sich ein Mitgliedstaat zu dessen Nutzung entscheidet. Effektivität bezieht sich offenbar nicht auf das Gesamtsystem und die konsequente Nutzung der Instrumente zur effektiven Strafverfolgung und Grundrechtsschonung, sondern nur auf die potenziell effektive Nutzbarkeit. Ein ähnlich schiefes Bild hatte der Gerichtshof schon bei der Freizügigkeit gezeichnet.

c) Erforderlichkeit und Angemessenheit

Dieser Gedankengang des EuGH ist für die Zulässigkeitsprüfung nach Art. 52 Abs. 1 GRC von grosser Bedeutung, denn wie eingangs erläutert muss der Einsatz des Vollstreckungselements auch erforderlich und angemessen zur Erreichung des Einschränkungsziels sein. Gäbe es einen einfacheren bzw. milderen Weg zur Realisierung des Vollzugs der Strafe aus der ersten Verurteilung, wäre die Ermöglichung einer zweiten Verurteilung, um zu verhindern das ein bereits Verurteilter seiner Strafe entgeht, evident unverhältnismäßig.

Es ist bereits an anderer Stelle zutreffend bemerkt worden, dass ein Vollstreckungselement in einem einheitlichen Raum der Freiheit, der Sicherheit und Rechts deplatziert wirkt;[60] unabhängig davon, ob der Verurteilte geflohen ist oder nicht. An diesem Punkt setzen auch Vertreter der Wissenschaft an, die auf die Möglichkeiten der Rechtshilfe als Alternative verweisen;[61] z.B. die Auslieferung des Verurteilten ins Erstverfolgerland auf der Basis eines Europäischen Haftbefehls, die Übernahme der Vollstreckung oder die Vollstreckung von Geldstrafen nach Rahmenbeschluss 2005/214.[62]

Hieran war auch im konkreten Fall zu denken, denn in einem Beisatz zur zweiten Vorlagefrage erwähnt der EuGH en passant, dass diese Strafe weiterhin vollstreckt werden kann. Für gleich geeignet hält er die verfügbaren Optionen zur Sicherstellung der Vollstreckung dagegen nicht (Rz. 68). Zwar räumt der Gerichtshof ein, dass es "gewiss zahlreiche Instrumente gibt, die die Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten im Bereich des Strafrechts erleichtern sollen" (Rz. 65), namentlich Rahmenbeschluss 2009/948 (Beilegung von Jurisdiktionskonflikten), Rahmenbeschluss 2002/584 (Europäischer Haftbefehl) sowie Rahmenbeschlüsse 2005/214 (Geldsanktionen) und 2008/909 (Europäische Vollstreckungsanordnung). Doch unterliege ihre Nutzung eben verschiedenen Voraussetzungen und hänge letzten Endes von einer Entscheidung des Mitgliedstaats ab, in dem sich das Gericht befindet, das ein rechtskräftiges Strafurteil gefällt hat. Dieser Mitgliedstaat sei nämlich unionsrechtlich nicht verpflichtet, für die tatsächliche Vollstreckung der mit diesem Urteil verhängten Sanktionen zu sorgen (Rz. 69). Hinzu kommt für die Vollstreckungsübernahme, dass diese grundsätzlich nur durch Heimat- oder Residenzstaat in Betracht kommt, (ausser bei Flucht- und Abschiebungsfällen) von der Zustimmung des Verurteilten abhängt und sich zusätzlich am Resozialisierungsinteresse des Verurteilten auszurichten hat[63]. Sie ist also nicht primär als Mittel zur Gewährleistung effektiver Vollstreckung konzipiert. Das muss sie freilich auch nicht sein, denn für diesen Zweck gibt es den Europäischen Haftbefehl. Nur am Rande sei angemerkt, dass die Nutzung des Europäischen Haftbefehls im konkreten Fall zur Ermöglichung der Strafverfolgung gleich zweimal scheinbar reibungslos funktioniert hat.

Für den EuGH impliziert dagegen bereits die bloße Notwendigkeit des Rückgriffs auf die Vollstreckungsbedingung zur Ermöglichung einer zweiten Verfolgung, dass "das derzeit im Unionsrecht vorgesehene System – aus welchem Grund auch immer – nicht ausgereicht hat, um auszuschließen, dass Personen, die in der Union rechtskräftig verurteilt wurden, der Strafe entgehen"[64]. Mit seiner Auffassung ist der EuGH jedoch nicht allein. Auch Stimmen im Schrifttum fordern ein Festhalten am Vollstreckungselement, um Entziehungsversuchen effektiv entgegenwirken und rechtspolitisch bedenkliche Ergebnissen vermeiden zu können,[65] "da auch die weit entwickelten

Rechtshilfeinstrumente der EU noch Lücken aufweisen."[66] Besonders pointiert argumentiert Satzger, der die Notwendigkeit, am Vollstreckungselement festzuhalten, im Umkehrschluss aus der mangelnden Integration des Rechtsraums ableitet.[67] Kurz: Erforderlichkeit und Angemessenheit müssen anhand der Realitäten, nicht nach Fiktionen bewertet werden. Letztlich spielt es aber gar keine Rolle, welcher Einheitlichkeitsgrad erreicht ist. Ein Diskurs hierüber wäre nicht zielführend, weil sich die rechtlichen Anforderungen an die Unionsorgane und Mitgliedstaaten nicht aus dem empirischen Ist-Zustand ergeben. Ontologisch lässt sich der Verzicht auf ein Vollstreckungselement sicherlich nicht begründen. Dies ist auch nicht erforderlich, weil der Lissabonner Vertrag die Gewährleistung (und damit implizit die Errichtung) eines Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts zum Unionsziel erhebt, Art. 3 Abs. 2 EUV. Hieran hat sich das Handeln der Organe und Mitgliedstaaten auszurichten. Ein defizitärer Ist-Zustand kann die Akteure daher nicht von ihrer unionsrechtlichen Verantwortung entbinden. Vielmehr ist er als Handlungsauftrag zu begreifen.

V. Folgen und Verwerfungen

Der vorliegende Fall führt drastisch vor Augen, woran es gegenwärtig gebricht. Da ist zum einen die lapidare Feststellung, dass die Mitgliedstaaten keine unionsrechtliche Pflicht zur Nutzung bestimmter Instrumente trifft. Gewiss existiert keine sekundärrechtliche, womöglich aber eine primärrechtliche. Zumindest ließe sich plausibel machen, dass das mitgliedstaatliche Ermessen vor dem Hintergrund der menschenrechtlichen Implikationen stark reduziert ist.[68] Auch der EuGH gibt in dieser Richtung zumindest einen Fingerzeig zu einer milderen Lösung, ohne eine Verpflichtung aussprechen zu wollen: Im Rahmen der konkreten Anwendung der Vollstreckungsbedingung von Art. 54 SDÜ könne im Einzelfall nicht ausgeschlossen werden, dass die zuständigen nationalen Gerichte auf der Grundlage von Art. 4 Abs. 3 EUV und der von der Kommission erwähnten Instrumente miteinander in Kontakt treten und Konsultationen aufnehmen, um zu prüfen, ob der Mitgliedstaat der ersten Verurteilung tatsächlich beabsichtigt, die verhängten Sanktionen zu vollstrecken.[69] Die deutschen Gerichte halten das bislang offenbar nicht für nötig, sondern weisen lapidar auf das Fehlen von Anträgen des Erstverfolgerstaats hin.[70]

Ohnehin spricht auch dieser Blickwinkel wiederum Bände, denn mit der Anspielung auf die Unionstreue ist gemeint, dass ein Zweitverfolgerstaat nicht voreilig die Strafvollstreckung im Erstverfolgerstaat vereiteln können soll; insb. wenn die dortigen Behörden gar nichts von der erneuten Verfolgung wissen. Auch der Gedanke der Ressourcenschonung kommt hier ins Spiel. Darauf, dass auch der Schutz von Grundrechten und Grundfreiheiten eine solche Konsultation gebieten könnten, kommt der EuGH erneut nicht. Damit wird der Betroffene letztlich der Willkür der Mitgliedstaaten weitgehend schutzlos ausgeliefert. Generell ist die große Schwäche der Entscheidung, dass sie sich nicht für die Gründe des Ausbleibens der Strafvollstreckung interessiert. Der EuGH hält die Notwendigkeit des Vollstreckungselements bei Ausbleiben der Vollstreckung unabhängig von ihrem Grund für indiziert. Es überrascht deshalb nicht, dass in dem Urteil keine einzige Zeile den diesbezüglichen Bemühungen Italiens gewidmet ist.

In dieser Hinsicht müssen die Konsequenzen der Entscheidung noch einmal in aller Klarheit ungeschminkt vor Augen geführt werden. Der Beschuldigte wird zum potenziellen Spielball der Mitgliedstaaten. Eine Verurteilung schützt ihn nicht vor erneuter Verfolgung und Verurteilung, wenn der Erstverfolgerstaat sich nicht um die Vollstreckung kümmert. Dessen Desinteresse oder Schlampigkeit haben für die Mitgliedstaaten (abgesehen von der Ressourcenverknappung) keine direkten nachteiligen Folgen. Vielmehr können andere, wie im vorliegenden Fall territorial gar nicht zuständige Staaten auf der Grundlage einer äußerst kritikträchtigen Jurisdiktionsbasis einfach nochmal verfolgen und verurteilen. Dieses Spiel ließe sich dann mehrfach wiederholen. Wenn die Auffassung des EuGH richtig wäre, könnte ein Spanier, der in Frankreich, einen Unfall verursacht, bei dem ein Belgier, ein Niederländer, ein Deutscher und ein Luxemburger zu Schaden kommen, scheinbar völlig legitim und vollständig im Einklang mit der Ratio des Vollstreckungselements insgesamt sechs Mal strafverfolgt und verurteilt werden, ohne das Art. 50 GRC ihn schützt, solange sich keiner der Staaten nach seinem Urteil dazu bequemt, auch die Strafvollstreckung zu betreiben. Denn unionsrechtlich verpflichtet sind die Mitgliedstaaten in dieser Hinsicht ja zu nichts. Das hier etwas nicht stimmen kann, ist augenfällig. Es ist mit dem Schutzzweck

von ne bis in idem unvereinbar, dass die Möglichkeit der Doppelverfolgung vom Engagement bzw. umgekehrt der Gleichgültigkeit oder Nachlässigkeit des Vollstreckungsstaates abhängt. Hier zeigt sich, dass man die Ratio des Vollstreckungselements nicht völlig losgelöst von der Ratio des ne-bis-in-idem-Grundsatzes diskutieren kann. Der EuGH tut aber genau dies, womit die Lasten einseitig auf Seite des Verfolgten verschoben werden. Dieses anstößige Ergebnis wird nur dadurch kaschiert, dass man die vom Erhalt des Vollstreckungselements Betroffenen durchgängig als Flüchtige bzw. Personen darstellt, die sich gezielt der Vollstreckung entzogen haben. Das ist in dieser Allgemeinheit unehrlich und unrichtig, wie der konkrete Fall zeigt. Und es verharmlost die grundrechtlichen Konsequenzen der Beibehaltung des alten SDÜ-Regimes.

Es mag gegenwärtig weiterhin Fälle geben, in denen noch ein kriminalpolitisches Bedürfnis eintritt, bei Scheitern der Vollstreckung eines ersten Urteils eine erneute Verfolgung einzuleiten. Die Mitgliedstaaten treffen jedoch positive Schutzpflichten, die Notwendigkeit einer erneuten Strafverfolgung zu minimieren bzw. (wenn möglich) zu eliminieren. Erforderlich kann der Rückgriff auf ein Vollstreckungselement daher allenfalls dann sein, wenn alle Möglichkeiten ausgelotet und ausgereizt wurden, für eine Vollstreckung des ersten Urteils zu sorgen.[71] Darüber hinaus lässt sich eine derart gravierende Einschränkung des transnationalen Doppelverfolgungsverbots der GRC nicht rechtfertigen. Es kann nicht sein, dass die einzige denkbare Konsequenz einer nicht erfolgten oder nicht effizienten Nutzung des unionalen Rechtshilfesystems die erneute Verfolgung eines bereits Verurteilten ist. Auch dieses Vorgehen kann aber nur eine kurz- bis mittelfristige Übergangslösung sein. Die Verpflichtungen der Unionsorgane und Mitgliedstaaten reichen weiter. Verurteilte und Verfolgte dürfen nicht einseitig die Konsequenzen grundlegender Systemfehler tragen. Dass sie (angeblich) Straftaten begangen haben, beraubt sie nicht dauerhaft und umfassend der Schutzbedürftigkeit. Die GRC begründet eine Grundrechtsverwirklichungspflicht im gesamten Anwendungsbereich des Unionsrechts für Unionsorgane und Mitgliedstaaten. Wenn diese ein transnationales Kooperations- und Verfolgungssystem schaffen, trifft sie auch eine direkte Gestaltungsverantwortung, um die Mechanismen zur Gewährleistung eines Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts im Einklang mit den Grundrechten und Grundfreiheiten zu halten. Hierin liegt auch der eigentliche Schlüssel zu einer konkordanten Behandlung von Jurisdiktionskonflikten und Doppelverfolgung: Es bedarf nicht nur einer Zurückschneidung der nationalen Strafanwendungsrechte, sondern auch einer rechtsförmigen Koordinierung der Auflösung von Mehrfachzuständigkeiten.[72]

Schließlich ist das Rechtshilfesystem weiter zu verbessern, zu integrieren und von Friktionen zu befreien. In Bezug auf das Verbot der Doppelverfolgung könnte z.B. über die Vollstreckungsanordnung hinaus noch stärker über eine stellvertretende Strafvollstreckung nachgedacht werden, die sich funktional eher am EG-Vollstreckungsübereinkommen orientiert. Man wird auch noch viel genauer darauf schauen müssen, aus welchen Gründen der Europäische Haftbefehl zur Strafvollstreckung nicht funktioniert; insb. welche Versagungsgründe in der Praxis in Doppelverfolgungsfällen überhaupt eine Rolle spielen.[73] Insgesamt behindern aber vor allem die Mitgliedstaaten derzeit noch die Realisierung kohärenter Ansätze. Es kann auf Dauer jedoch nicht das Pech der Bürger sein, dass die Mitgliedstaaten Rahmenbeschlüsse nicht wirksam bzw. nicht rechtzeitig nutzen oder sich derart viele Versagungsvorbehalte herausverhandeln, dass grundrechtliche Effizienzschäden auftreten.

VI. Schlussbetrachtung

Der EuGH hat eine große Chance vertan, das Doppelverfolgungsverbot zu einem echten transnationalen Verfassungsprinzip auszubauen und sich damit auf dem Gebiet der strafrechtlichen Zusammenarbeit ein weiteres Mal als Grundrechtsgerichtshof zu positionieren. Hat er bei der Vorratsdatenspeicherung seine Innovationskraft strahlen lassen, ist davon beim ne-bis-in-idem-Grundsatz nichts zu spüren. Dabei hätte die Verankerung des ne-bis-in-idem-Grundsatzes in Art. 50 GRC die Möglichkeit geboten, die Sektoralisierung der ne-bis-in-idem-Gewährleistungen (in diversen Vertragswerken und Rechtsbereichen) zu überwinden und eine Meta-Regel von primärrechtlichem Rang zu etablieren.[74] Art. 50 GRC darf sich nicht zu einem autonomen Justizgrundrecht für den gesamten Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts entwickeln. Der EuGH hält Art. 50 GRC in den Fesseln von Art. 54 SDÜ gefangen. Weder werden vom EuGH die grundrechtlichen Dimensionen der Problematik durchleuchtet, noch werden Anklänge einer dogmatischen Hinwendung zu positiven Schutzpflichten in seinem Urteil zur Vorratsdatenspeicherung fruchtbar gemacht. Damit verharrt der ne-bis-in-idem-Schutz in einer Gedankenwelt mitgliedstaatlicher Verfolgungs- und Sicherheitsinteressen und verpasst den Sprung, zu einem Element der grundrechtsgetragenen Integration des

Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts zu werden. Allerdings konnte im Bereich der strafrechtlichen Zusammenarbeit schon zuletzt nicht mehr davon gesprochen werden, dass der Gerichtshof als Motor der Integration agiert. Er überlässt auch in diesem Fall, wie schon zuvor bei "Melloni" oder "Radu", den Mitgliedstaaten das Feld, die dann nach ihren eigenen nationalen Interessen über Nutzung oder Nichtnutzung des Instrumentariums befinden dürfen.[75]

Postscriptum

Die zweite Vorlage ist eine Reminiszenz an die Grundsatzentscheidung "Gözütok".[76] Deren Kenntnisnahme mag den Verfolgten möglicherweise auch zur späten Zahlung der Geldstrafe bewogen haben. Im Unterschied zum "Klassiker" war vorliegend aber noch kumulativ eine Freiheitsstrafe ausgeurteilt worden. Art. 54 SDÜ ist in einer solchen Situation überzeugend dahin auszulegen, "dass die bloße Zahlung der Geldstrafe, die gegen eine Person verhängt wurde, der mit der gleichen Entscheidung eines Gerichts eines anderen Mitgliedstaats eine bislang nicht vollstreckte Freiheitsstrafe auferlegt wurde, nicht den Schluss zulässt, dass die Sanktion im Sinne dieser Bestimmung bereits vollstreckt worden ist oder gerade vollstreckt wird".[77] Der Begriff der Sanktion in Art. 54 SDÜ sei nicht dahin zu verstehen, dass eine Sanktion vollstreckt worden sein muss, sondern dass im Falle der Verhängung von zwei kumulativen Hauptstrafen, beide gebündelt als "Sanktion" im Sinne der Norm zu behandeln sind. Im Hinblick auf die vom EuGH verfochtene Ratio des Vollstreckungselements ist dies nur folgerichtig, weil sonst clevere Verurteilte durch schnelle Ableistung der milderen Sanktion in den Genuss des Doppelbestrafungsverbots gelangen könnten.


[1] BGHSt 56, 11 ff. = HRRS 2010 Nr. 1053; vgl. schon früher zu einem ähnlich gelagerten Fall LG Aachen, 8.12.2009, 52 Ks 9/08, StV 2010, 237.

[2] Vgl. z.B. befürwortend Burchard/Brodowski StraFo 2010, 179, 183; Eckstein ZStW 124 (2012), 490, 523; Radtke, in: Böse, EnzEuR, Bd. 9 (2013), § 12 Rn 58; Hackner NStZ 2011, 425, 429; dagegen Böse GA 2011, 504, 506 ff; Merkel/Scheinfeld ZIS 2012, 206, 212; Heger ZIS 2009, 406, 408; Stalberg, Zum Anwendungsbereich des Art. 50 der GRCh der EU (ne bis in idem) (2013), S. 179.

[3] EuGH v. 27.05.2014, Rs. C-129/14 (Fall Zoran Spasic), HRRS 2014 Nr. 484.

[4] EuGH, Rs. C-129/14, Rz. 74.

[5] Aufgrund eines von der Staatsanwaltschaft Innsbruck am 27. August 2009 wegen anderer, in gleicher Weise begangener Delikte erlassenen Europäischen Haftbefehls war der Beschuldigte am 8. Oktober 2009 in Ungarn festgenommen und sodann den österreichischen Behörden übergeben worden. Am 26. August 2010 wurde er in Österreich rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von sieben Jahren und sechs Monaten verurteilt.

[6] Vgl. EuGH, Rs. C-129/14, Rz. 32.

[7] Er wurde aufgrund eines von der Staatsanwaltschaft Innsbruck (Österreich) erlassenen Europäischen Haftbefehls am 27. August 2009 wegen eines gleichartigen anderen Delikts am 8. Oktober 2009 in Ungarn festgenommen und an die österreichischen Behörden übergeben. Am 26. August 2010 wurde er in Österreich rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von sieben Jahren und sechs Monaten verurteilt, EuGH, Rs. C-114/14, Rz. 30.

[8] Aus dem Sachverhalt des Vorlageverfahrens ist nicht ersichtlich, warum nicht bereits die österreichischen Behörden die Problematik der Doppelbestrafung aufgeworfen und vorgelegt haben. Dies mag seinen Grund darin haben, dass Art. 3 Abs. 2 RB-EuHB seinerseits ein Vollstreckungselement kennt und sowohl in Wortlaut als auch gerichtlicher Interpretation nach der Vorlage von Art. 54 SDÜ modelliert ist. Allerdings muss man sich fragen, ob nicht auch Art. 3 Abs. 2 RB-EuHB auf seine Zulässigkeit als Einschränkung von Art. 50 GRC hätte geprüft werden müssen. Die Zusammenarbeit auf der Grundlage eines Europäischen Haftbefehls fällt zweifelsohne in den Bereich der Durchführung des Unionsrechts i.S.v. Art. 51 Abs. 1 GRC. Allerdings müsste das Doppelbestrafungsverbot des Art. 50 GRC als solches (jenseits spezifischer völkervertraglicher Regelungen) im Auslieferungsverkehr auch prinzipiell gelten. Dies hängt wiederum davon ab, ob man das Auslieferungsverfahren als unterstützendes Verwaltungsverfahren oder als integralen Bestandteil eines grenzüberschreitend-arbeitsteiligen Strafverfahrens sieht. Letzteres würde dann zur Anwendbarkeit des Grundsatzes führen, doch ist diese Einstufung immer noch nicht zur herrschenden Meinung erstarkt.

[9] EuGH v. 15.10.2002, verb. Rs. 238/99 P u.a. (LVM), Slg 2002, I-8375, Rn 59; EuGH v. 29.6.2006, Rs. C-289/04 P (Showa Denko PP), Slg 2006, I-5859, Rn 50; EuG v. 1.7.2009, Rs. T-24/07; EuG v. 26.11.2008, Rs. T-263/06.

[10] Jarass , Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2. Aufl. (2013), Art. 50 GRC Rn. 1, 8; Eser, in: J. Meyer, GRC, 4. Aufl. (2014), Art. 50 Rn. 5 ff.; zu tatbestandlichen Unklarheiten in Art. 50 GRC, van Bockel, The ne bis in idem principle in EU law (2010), S. 17 f.

[11] Allg. Eser, in: J. Meyer (Fn. 10)., Art. 50 Rn 6 ff., 11 ff., 16a; Radtke, in: Böse (Fn. 2), § 12 Rn 1 ff. In den Erläuterungen zur Charta der Grundrechte (ABl. 2007, C 303, S. 17), heißt es zu Art. 50, dass der Grundsatz ne bis in idem nicht nur innerhalb der Gerichtsbarkeit eines Staates, sondern auch zwischen den Gerichtsbarkeiten mehrerer Mitgliedstaaten Anwendung findet.

[12] Jarass (Fn. 10), Art. 50 Rn. 11; vgl. auch Böse, in: FS Kühne (2013), S. 519, 526.

[13] Becker, in: Schwarze, EU-Kommentar, 3. Aufl. (2012), Art. 52 GRC Rn. 5, 6 ff.

[14] Eckstein ZStW 124 (2012), 490, 523; Radtke, in: Böse (Fn. 2), § 12 Rn 58; s.a. Burchard/Brodowski StraFo 2010, 179, 182 ff.; Ambos, Intern. StR., 4. Aufl. (Im Erscheinen), § 10 Rn 132.

[15] Ebenso BGHSt 56, 11, 15; den Erläuterungen zur Charta der Grundrechte (ABl. 2007, C 303, S. 17, 31).

[16] Becker, in: Schwarze (Fn. 13), Art. 52 GRC Rn. 20; Burchard/Brodowski StraFo 2010, 179, 183.

[17] Anders BGHSt 56, 11, 15, wonach kein Zweifel besteht.

[18] Zu Letzterem eingehend Böse, in: FS Kühne (Fn. 12), S. 519, 529: Ein Festhalten daran sei auf mittlere Sicht in Ordnung, solange noch keine vollständige Integration der Rechtshilfeinstrumente im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts erfolgt ist. Zudem wird in den Konventsmaterialien weitaus deutlicher als beim Vollstreckungselement, dass die klar eingegrenzten Ausnahmen des Art. 55 SDÜ von der Klausel in Art. 52 Abs. 1 GRC über die Einschränkung von Art. 50 GRC abgedeckt sind; a.A. Hackner NStZ 2011, 425, 427: nur noch gegenüber Schengen-assoziierten Staaten; ähnlich Schomburg/Suominen-Picht NJW 2012, 1190 f.

[19] BGHSt 56, 11, 15.

[20] Merkel/Scheinfeld ZIS 2012, 206, 210; Böse GA 2011, 506; Nestler HRRS 2013, 337, 339. Bei unbefangener Sichtung des Wortlauts und unter Einbeziehung der Systematik der Art. 54 ff. SDÜ beziehen sich die genannten Ausnahmen, in denen die Mitgliedstaaten vom Übereinkommen abweichen dürfen, nicht auf Art. 54 SDÜ, sondern nur auf Art. 55 SDÜ. Innerhalb von Art. 54 SDÜ war das Vollstreckungselement zudem keine Ausnahme vom Schutzbereich, sondern Tatbestandsvoraussetzung für die Eröffnung des Schutzbereichs.

[21] S.a. Schomburg/Suominen-Picht NJW 2012, 1190, 1191, die das Fehlen des Vollstreckungselements als eindeutige gesetzgeberische Entscheidung im Sinne eines Verzichts werten; ähnlich Anagnostopoulos, in: FS Hassemer (2010), S. 1121, 1136 f.

[22] Nach Voet van Vormizeele, in: Schwarze (Fn. 13), Art. 50 GRC Rn. 5, soll allerdings das EU-Kartellsanktionsrecht ein Anwendungsfall der vertikalen Dimension sein; die Anwendbarkeit von Art. 50 GRC hinge in diesem Fall freilich davon ab, ob das EU-Kartellrecht dem Strafbegriff des Unionsrechts genügt; abl. z.B. Öberg EuCLR 2013, 273, 288 ff., 293.

[23] EuGH, Rs. C-129/14, Rz. 58. Dabei verweist der Gerichtshof auf sein Urteil in der Rechtssache Kretzinger, EuGH v. 18.07.2007, Rs. C 288/05, Slg. 2007, I, 441, Rz. 51, wo zum Zweck der Klausel ebenfalls ausgeführt wurde, dass die Vollstreckungsbedingung verhindern soll, dass ein in einem ersten Vertragsstaat rechtskräftig Verurteilter dann, wenn dieser Staat die verhängte Strafe nicht hat vollstrecken lassen, nicht mehr wegen derselben Tat verfolgt werden kann und somit letztlich einer Strafe entgeht.

[24] EuGH, Rs. C-129/14, Rz. 64.

[25] EuGH, Rs. C-129/14, Rz. 61, 63.

[26] EuGH, Rs. C-129/14, Rz. 62.

[27] Merkel/Scheinfeld ZIS 2012, 206, 207 f.; Zöller, in: FS Krey (2010), S. 501, 518 f.; Hecker, Europäisches Strafrecht, 4. Aufl. (2012), § 13 Rn. 38. Missbräuche durch Staaten werden allgemein ausgeblendet.

[28] Solange man dem Betroffenen nicht als missbräuchlich vorwerfen will, dass er durch sein schriftliches Geständnis in einem in Italien initiierten Abwesenheitsverfahren das Zustandekommen einer ersten Verurteilung befördert hat.

[29] Weyembergh Maastricht Journal of European and Comparative Law 12 (2005), 149, 166; Müller-Graff EuR 2009, Beiheft 1, 105, 125; Meyer EuR 2011, 169, 188; ders., in: vd Groeben/Schwarze/Hatje (Hrsg.), Europäisches Unionsrecht, 7. Aufl. (im Erscheinen), AEUV, Vor Art. 82 ff., Rn. 25 f.

[30] Herrnfeld, in: Schwarze (Fn. 13), Art. 67 AEUV, Rn. 7; Meyer EuR 2011, 169, 188 ff; ders., in: vd Groeben/Schwarze/Hatje (Hrsg.) (Fn. 29), AEUV, Vor Art. 82 ff., Rn. 25 f.; Möstl EuR 2009, Beiheft 3, S. 33, 39.

[31] Möstl EuR 2009, Beiheft 3, S. 33, 39.

[32] Meyer EuR 2011, 169, 189; Herrnfeld, in: Schwarze (Fn. 13), Art. 67 AEUV, Rn. 7.

[33] Möstl EuR 2009, Beiheft 3, S. 33, 43.

[34] Klip, European criminal law: an integrative approach, 2. Aufl. (2012) S. 469 ff.; Mansdörfer HRRS 2010, 12; Meyer EuR 2011, 169, 188 ff; ders., in: vd Groeben/Schwarze/Hatje (Hrsg.) (Fn. 29), Vor Art. 82 ff., Rn. 26; Müller-Graff EuR 2009, Beiheft, 105, 125 f.

[35] Vgl. auch Herrnfeld, in: Schwarze (Fn. 13), Art. 67 Rn. 7; Luchtman Utrecht Law Review 7 (2001), S. 74, 75.

[36] Dazu allg. Meyer, in: Leible/Terhechte, EnzEuR, Bd. 3 (2014), §  37, Rn 36 .

[37] Zu den überlieferten Begründungsansätzen s. Vervaele Utrecht Law Review 9 (2013), S. 211, 212; Lelieur Utrecht Law Review 9 (2013), 198, 199 ff.

[38] Peters/Altwicker, Europäische Menschenrechtskonvention, 2. Aufl. (2012), § 24 Rn 8.

[39] Radtke, in: Böse (Fn. 2), § 12 Rn 1; Schomburg/Lagodny/Gleß/Hackner-Schomburg ,Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, 5. Aufl. (2012), Art. 54 SDÜ Rn 65; Karpenstein/Mayer/Sinner, EMRK – Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (2012), Art. 4 ZP VII zur EMRK Rn 1 (Gewährleistung eines fairen Verfahrens); Vervaele Utrecht Law Review 9 (2013), S. 211, 213; weiter Hackner NStZ 2011, 425, 427: Art. 54 SDÜ verwirklicht das Grundrecht auf Rechtssicherheit und Gerechtigkeit.

[40] Mansdörfer , Das Prinzip des ne bis in idem im europäischen Strafrecht (2004), S. 17 f, 213 ff: Persönlichkeitsrecht; Thomas, Das Recht auf Einmaligkeit der Strafverfolgung (2002), S. 36, 120 ff, 143: Entfaltungsfreiheit und Schutz vor dauerhafter Friedlosigkeit; van Bockel (Fn. 10), S. 26 f.: Subjektives Recht auf faires Verfahren, Rechtssicherheit und Verhältnismäßigkeit.

[41] Eser , in: J. Meyer (Fn. 10), Art. 50 Rn. 7; Lelieur Utrecht Law Review 9 (2013), 198, 210: Principle of personal legal certainty.

[42] Van Bockel (Fn.10), S. 28: Das Fehlen eines gemeinsamen Nenners erschwere auch die Internationalisierung dieser Garantie; ausf. Versuche aber schon bei Kniebühler, Transnationales "ne bis in idem" (2005), S. 64 ff.; Lelieur Utrecht L. Rev. 9 (2013), 198, 199, 203 ff.

[43] EuGH v. 9.3.2006, Rs. C-436/04 (Van Esbroeck), Rn 33 ff; EuGH v. 28.9.2006, Rs. C-467/04 (Gasparini u.a.) Rn 27; EuGH v. 28.9.2006, Rs. C-150/05 (Van Straaten), Rn 45 ff; EuGH v. 18.7.2007, Rs. C-288/05 (Kretzinger), Slg 2007, I-6441, Rn 33; GAin Kokott, Schlussanträge v. 8.9.2011, Rs. C-17/10 (Toshiba), Rn 100; Schomburg/Lagodny/Gleß/Hackner-Schomburg (Fn. 39), Art. 54 SDÜ Rn 65; van Bockel (Fn. 10), S. 64 ff.; Böse HRRS 2012, 19, 20. Jarass (Fn. 10), Rn. 1, verweist in Anknüpfung an die Charta-Erläuterungen lediglich auf Art. 54 ff SDÜ, Art. 7 PIF-Konvention (ABl. 1995 C 316/49), Art. 10 Übk. über Bekämpfung der Bestechung (ABl. 1997 C 195/2). Gegen eine vorrangige Konzentration auf die Freizügigkeit spräche die normativ eigentlich kaum zu rechtfertigende Benachteiligung von Drittstaatsangehörigen.

[44] Böse GA 2003, 744, 750 f.; Schlussanträge GA Colomer v. 19.9.2002, Rs. C-187/01 und C-385/01 (Gözütok und Brügge), Slg. 2003, I-5689, Rz. 49: Grundsatz stützt sich auf die zwei Pfeiler der Rechtssicherheit und Gerechtigkeit.

[45] Eckstein ZStW 124 (2012), 490, 513; Ligeti eucrim 2009, S. 37, 38.

[46] Vgl. Möstl Common Market Law Review 47 (2010), 405, 415 f, 418 ff.; Meyer, in: vd Groeben/Schwarze/Hatje (Hrsg.) (Fn. 29), AEUV, Art. 82 Rn.6.

[47] So Ambos (Fn. 14), § 10 Rn. 125; Böse GA 2003, 744, 750 .

[48] Dabei räumt der EuGH implizit der äußerst abstrakten Freizügigkeitsgefährdung der Unionsbürger insgesamt den Vorrang vor der konkreten Beeinträchtigung einer Einzelperson ein.

[49] Zu den Wurzeln bei Binding Merkel/Scheinfeld ZIS 2011, 206, 212.

[50] Ausf. Böse, in: Böse/Meyer/Schneider (Hrsg.), Conflicts of Jurisdiction in Criminal Matters in the European Union, Volume II: Rights, Principles and Model Rules (2014[im Erscheinen]), Kapitel 2 und 3.

[51] Ausf. Böse , in: Böse/Meyer/Schneider (Hrsg.) (Fn. 50), Kapitel 2 B. und C., Kapitel 3 E. ; Zimmermann, Strafgewaltskonflikte in der Europäischen Union (im Erscheinen), u.a. S.88, 99, 168.

[52] Vgl. hierzu einen aktuellen Vorschlag mit Modell-Regeln Böse/Meyer/Schneider (Hrsg.) (Fn. 50), Kapitel 10.

[53] Böse/Meyer ZIS 2011, 336, 341. Böse/Meyer/Schneider, in: dies. (Hrsg.), Conflicts of Jurisdiction, Volume I (2013), S. 411, 418. Ambos stellt seine völkerrechtliche Zulässigkeit in Frage, in: Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch, 2. Aufl. (2011), Vor §§ 3-7 Rn. 34, 36 m.w.N.

[54] Dies zeigt die aktuelle Untersuchung Böse/Meyer/Schneider (Fn. 50). In Betracht käme allenfalls eine Umstellung auf ein passives Domizilprinzip, doch lässt sich eine strafverfolgungstechnische Notwendigkeit für eine solche Erweiterung kaum nachweisen. Zudem geriete sie auch in einen eklatanten Konflikt mit den Grundfreiheiten.

[55] Meyer, in: Böse/Meyer/Schneider (Hrsg.) (Fn. 50), Kapitel 4 E.IV.1.b), F.

[56] Breuer, in: Grabenwarter, EnzEuR, Bd. 2 (2014), § 7 Rn. 18 ff., 27; Borowsky, in: J. Meyer (Fn. 10), Art. 51 GRC Rn. 31.

[57] Borowsky, in: J. Meyer (Fn. 10), Art. 51 Rn. 32; Meyer, in: Böse/Meyer/Schneider (Hrsg.) (Fn. 50), Kapitel 4 E.III.1., G.

[58] Diese Schutzpflicht lässt sich materiell-rechtlich ( Meyer , in: Böse/Meyer/Schneider (Hrsg.) (Fn. 50), Kapitel 4 E.IV.1.b) und prozessrechtlich ( Böse , in: Böse/Meyer/Schneider (Hrsg.) (Fn. 50), Kapitel 3 E.III.1, IV; Hüttemann, Principles and Perspectives of European Criminal Procedure, EUI PhD thesis (2012), S. 179; Meyer, in: Böse/Meyer/Schneider (Hrsg.) (Fn. 50), Kapitel 4 E.IV.2) begründen.

[59] Ambos/König/Rackow-Meyer, Rechtshilferecht in Strafsachen (2014), § 79 IRG Rn. 808 ff. m.w.N.

[60] Merkel/Scheinfeld ZIS 2012, 206, 211; Auch Eser, in: J. Meyer (Fn. 10) konstatiert, dass das Vollstreckungselement rechtspolitisch nicht zu rechtfertigen ist, Art. 50 Rn. 14. Und für Radtke, in: Böse (Fn. 2), § 12 Rn. 4, 6, ist der transnationale Doppelbestrafungsschutz auch Ausdruck des Erwachsens eines einheitlichen Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts.

[61] Böse GA 2011, 504, 508 ff.; Lelieur Utrecht Law Review 9 (2013), 198, 209; Safferling, Internationales Strafrecht, (2011), § 12 Rn. 84 f., will am Vollstreckungselement aus funktionalen Überlegungen nur unter der Voraussetzung festhalten, dass keine unionsweiten Rechtshilfemaßnahmen vorhanden sind, die eine Vollstreckung der Strafe gewährleisten. Dabei scheint Safferling einen konkreten Maßstab anzulegen, mit dem auf die Möglichkeit wirksamer Rechtshilfe im konkreten Fall abgestellt wird und bei Eingreifen von Versagungsgründen im Einzelfall ein weiteres Verfahren möglich wird.

[62] Zu ersten praktischen Erfahrungen Johnson eucrim 2013, 65, 66 ff.

[63] EuGH, Rs. C-129/14, Rz.70. RB 2008/909/JI vom 27. November 2008 über die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung auf Urteile in Strafsachen, durch die eine freiheitsentziehende Strafe oder Maßnahme verhängt wird, für die Zwecke ihrer Vollstreckung in der Europäischen Union (Europäische Vollstreckungsanordnung), ABl. L 327/27, Erwägungsgrund 9; anders das EG-VollstrÜbk, das sich auf effektive Sicherstellung der Strafvollstreckung konzentriert.

[64] EuGH, Rs. C-129/14, Rz. 71.

[65] Burchard/Brodowski StraFo 2010, 179, 185; Satzger, in: FS Roxin (2011), S. 1515, 1522 f.; Ambos (Fn. 14), § 10 Rn. 132; Hecker (Fn. 27), § 13 Rn. 39; Nestler HRRS 2013, 337, 344; Eckstein ZStW 124 (2012), 490, 523.

[66] So Ambos (Fn. 14), § 10 Rn. 132, der wie der EuGH auf die Vollstreckungsverweigerungsgründe abhebt.

[67] Satzger, in: FS Roxin (Fn. 65), S. 1515, 1522; ders., Internationales und Europäisches Strafrecht, 6. Aufl. (2013), § 10 Rn. 70.

[68] Vgl. z.B. BVerfGE 96, 100 f.: "(1.) Stellt ein Gesetz die Vornahme oder das Unterlassen einer Maßnahme in das Ermessen der zuständigen Behörde, so greift die Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG, wenn das Entscheidungsprogramm des Gesetzes der Behörde aufgibt, bei der Ermessensausübung rechtlich geschützte Interessen des Betroffenen zu berücksichtigen. (2.) Das Gesetz über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen und das Übereinkommen über die Überstellung verurteilter Personen veranlassen ein Verfahren, in dem die Grundrechtsposition des Verurteilten neben dem öffentlichen Interesse an der Strafverfolgung zu berücksichtigen ist. Findet ein zweistufiges Verfahren statt, in dem vor der Bewilligungsentscheidung des Bundesministeriums der Justiz die Staatsanwaltschaft als Vollstreckungsbehörde die vollstreckungsrechtlichen Belange prüft und eine Überstellung anregt, so muß der Resozialisierungsanspruch des Verurteilten bei der Entscheidung der Staatsanwaltschaft Berücksichtigung finden. Art. 19 Abs. 4 GG verbürgt insoweit den gerichtlichen Rechtsschutz zur Prüfung, ob die Vollstreckungsbehörde ihr Ermessen fehlerfrei ausgeübt hat."

[69] EuGH, Rs. C-129/14, Rz. 73.

[70] Der BGH spricht die Möglichkeit konkreter Schritte durch Italien offen unter dem Blickwinkel des Verfahrenhindernisses an, stellt aber lapidar fest, dass die Möglichkeiten den Gerichtshof nicht interessieren müssen, solange kein tatsächlicher Antrag vorliegt, BGHSt 56, 11, 14; s. dazu aber jetzt zumindest EuGH, Rs. C-129/14, Rz. 73.

[71] S. aber Fn. 70. Burchard/Brodowski StraFo 2010, 179, 185 erwägen ein Primat der Vollstreckung des Ersturteils, das von einem durch erweiternde Auslegung zu gewinnenden Recht auf Einmaligkeit der Strafverfolgung komplementiert werden könnte.

[72] Dabei muss freilich sichergestellt bleiben, dass "eine effektive und umfassende Verfolgung einer Straftat" möglich bleibt. Dies hebt z.B. Radtke hervor, der zu Recht darauf aufmerksam macht, dass es sowohl auf europäischer als auch nationaler Ebene an verständigen Ansätzen mangele, unter Einbeziehung aller berührten Interessen zu einer angemessenen integrierten Lösung für die Behandlung der Mehrfachverfolgungsproblematik und der Jurisdiktionsproliferation im Allgemeinen zu gelangen, Radtke, in: Böse (Fn. 2), § 12 Rn 12.

[73] Nimmt man das IRG zum Maßstab, kommt vor allem die Zustimmungsbedürftigkeit der Auslieferung eigener Staatsangehöriger zur Strafvollstreckung in den Sinn, vgl. § 80 Abs. 3 IRG. In diesem Fall befindet sich der Verurteilte aber in seinem Heimatstaat, so dass gerade in den kritischen Fluchtfällen eine Vollstreckungsübernahme in Betracht kommt; s.a. Ambos/König/Rackow-Meyer (Fn. 59), § 80 IRG Rn. 866. Im vorliegenden Fall war der Betroffene nicht Staatsangehöriger der potenziellen Vollstreckungsstaaten, womit kein Zustimmungserfordernis bestanden hätte, sondern allenfalls an die allgemeinen Versagungsgründe zu denken wäre.

[74] Siehe zu diesem Gedanken auch Vervaele Utrecht Law Review 9 (2013), S. 211, 227 f.

[75] Es ist beispielsweise überraschend, welche rechtsdogmatischen Verrenkungen der EuGH im Binnenmarkt und im Zusammenhang mit der Unionsbürgerschaft anstellt, während die gleichen Rechte und Freiheiten offenbar (trotz eindeutiger Bezugnahme in Art. 67 AEUV) im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts von wenigen Ausnahmen abgesehen keine Rolle zu spielen scheinen.

[76] EuGH v. 11.02.2003, Rs. C-187/01 und C-385/01 (Gözütok und Brügge), Slg. 2003, I-5689.

[77] EuGH, Rs. C-129/14, Rz. 85.