HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Dezember 2007
8. Jahrgang
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Schrifttum

Tudor Avrigeanu: Ambivalenz und Einheit – Eine Untersuchung zur strafrechtswissenschaftlichen Grundlagendiskussion der Gegenwart anhand ihrer Bezüge zu Kants Philosophie; 253 Seiten, ISBN 3-8329-1628-8, 58 Euro, Nomos, Baden-Baden 2006.

Die Philosophie, so Feuerbach, der Ahnherr der deutschen Strafrechtswissenschaft, habe die Aufgabe, "uns bei der Aufsuchung allgemeiner, aber aus positiven Quellen abzuleitender Grundsätze zur Führerin zu dienen". Feuerbach entwickelt auf Grundlage der Philosophie Kants bekanntlich eine maßgeblich auf die negative Generalprävention abstellende Straftheorie, welche sein Meister, Vergeltungstheoretiker par excellence, als "Schlangenwindungen der Glückseligkeitslehre" geißelte. Auch im heutigen straftheoretischen Diskurs wird von verschiedenster Seite und mit durchaus unterschiedlichen Folgerungen auf die Rechtsphilosophie Kants zurückgegriffen. Mit Blick auf dieses Phänomen will Avrigeanu, der Verfasser der von Kindhäuser betreuten Bonner Dissertation, Positionen Kants als Kreuzungspunkte verschiedener straftheoretischer Denkrichtungen in seiner Arbeit aufzeigen. Ausdrücklich verzichtet Avrigeanu bei seiner Suche nach Verbindendem auf eigene Stellungnahmen zu denjenigen Streitpunkten, welche die Schulen trennen (S. 22 f .).

Auch eine dergestalt begrenzte Themenstellung ist einer Monographie würdig, bietet die heutige Auseinandersetzung um den Sinn und Zweck der Strafe doch Anlass zur Ernüchterung: Einerseits setzen sich viele, auch bedeutende Strafrechtslehrer nur noch oberflächlich mit den rechtsphilosophischen Grundlagen der Straftheorie auseinander, wie Avrigeanu an vielen Stellen seiner Arbeit in schöner Deutlichkeit herausstreicht (S. 11 f ., 147 ff., 189 ff.). Andererseits sind in der Vergangenheit die Differenzen zwischen den am Deutschen Idealismus orientierten Strafrechtsschulen so ausgiebig gepflegt worden, dass der Verfasser nicht zu Unrecht die "mangelnde Bereitschaft, dem Gegner sorgfältig zuzuhören", beklagt (S. 25). Dieser "Familienstreit" (S. 51) ist umso erstaunlicher, als alle Familienangehörigen in positivistischen (S. 46 ff.) respektive zweckrational-kriminalpolitischen Konzeptionen gemeinsame Gegner haben (S. 38 ff.). Während sich letztere durch eine rechtspolitikfreundliche Kargheit an theoretischen Voraussetzungen empfehlen, die ihnen zu großer Wirkmächtigkeit verhilft, erschließen sich die auf Kant oder Hegel gründenden Strafrechtstheorien vollständig erst im Zusammenhang mit der Staats-, Rechts- und Moralphilosophie (S. 19). Doch ist es nicht nur die Komplexität ihrer Prämissen, die idealistische Strafrechtskonzeptionen zu einem von nur wenigen Experten gepflegten Betätigungsfeld machen. Es ist auch der von Stratenwerth beklagte Umstand, viele Teilnehmer des straftheoretischen Diskurses seien vorwiegend mit sich selbst beschäftigt (S. 25), der dazu beigetragen hat, dass sich die heutige Rechtspolitik von rechtsphilosophischen Grundlagen weitgehend entbunden fühlt. In besonderem Maße gilt dies für die europäische und internationale Strafrechtspolitik, deren praktische Bedeutung zunimmt, während die kritische Reflexion derselben abnimmt. Avrigeanu benennt dieses Problem zwar in seiner Arbeit (S. 186 f .) widmet sich ihm aber lediglich vermittelt durch die Schilderung der (schwachen) Kant-Rezeption in der französischen Strafrechtswissenschaft (S. 203 ff.).

Die Suche nach verbindenden Elementen beginnt der Verfasser bei den "Rechtsphilosophischen Grundentscheidungen", die er in seinem ersten Kapitel thematisiert. Ausführlich entfaltet Avrigeanu die Kontroverse darüber, ob – in Anlehnung an Kant – jedes Subjekt die sittliche und rechtliche Welt kraft seiner Vernunft selbst entwirft oder ob – in Anlehnung an Hegel – sittliche und rechtliche Institutionen ihrerseits die Person mitkonstituieren. Avrigeanu zitiert umfänglich Stellungnahmen von Köhler einerseits und Jakobs andererseits. Als Ergebnis hält er fest, beide Strafrechtslehrer wendeten sich (mit Kant) gegen die Konzeption eines klugen, glückssuchenden Individuums (S. 62 ff.) und beide begriffen das personentheoretische Modell Hegels als Weiterführung desjenigen Kants (S. 81 ff.). Diese Einsichten sind weder neu noch spektakulär. Indes hätten sie Anlass geboten, die Leistungskraft eines anspruchsvollen Personenmodells gerade in Abgrenzung zu dem wirkmächtigen und vorgeblich "modernen" Strafrechtsverständnis zu demonstrieren, dessen Theoriegebäude Strafe als technisch-zweckrationale Reaktion versteht, ohne dem Delinquenten eine freiheitstheoretisch fundierte Rechtfertigung für seine Bestrafung bieten zu können. Anstatt diesen Vorzug der an Kant und Hegel geschulten Straftheorien zu betonen, kapriziert sich der Verfasser auf die Darstellung größerer und kleinerer Positionsänderungen, namentlich in Köhlers Auffassung vom Verhältnis zwischen Subjekt und Sittlichkeit (S. 90 ff.), und auf die daraus resultierenden Annäherungen und Distanzierungen innerhalb der idealistischen "Strafrechtsfamilie".

In seinem zweiten Kapitel verhandelt der Verfasser die "umstrittene Erbschaft des Finalismus". Dogmengeschichtlich nimmt der von Welzel entwickelte Finalismus eine Mittelstellung zwischen dem Naturalismus des frühen und dem Normativismus des späten 20. Jahrhun-

derts ein. Angesichts dieser zentralen Stellung ist die Auseinandersetzung mit dem Finalismus zwar naheliegend. Der Verfasser hätte indes deutlicher herausarbeiten müssen, dass viele straftheoretischen Konzeptionen, namentlich die kriminalpolitisch-funktionalistischen Ansätze von Roxin und Jakobs, auf die Überwindung des Finalismus und seiner ontologischen Fundierung zielten. Deutlich unter den von diesem Thema gebotenen Möglichkeiten bleibt der Verfasser auch bei seiner Suche nach verbindenden Elementen in der heutigen Diskussion. Insoweit hält er lediglich fest, die "Jakobs"- und "Wolff"-Schule achteten den wissenschaftlichen Fortschritt, den der Finalismus gegenüber dem Naturalismus darstelle (S. 128). Dieses schlichte Fazit wird weder der Erbschaft des Finalismus noch der Diskussion unter den Erben gerecht. Bei einer stärkeren Aufarbeitung der Ausgangspunkte, von denen aus die Attacken auf den Ontologismus Welzels geritten worden sind, hätten sich leicht weitere Gemeinsamkeiten finden lassen. Beispielsweise würde Jakobs der Feststellung E.A. Wolffs, der Finalismus klammere den "Sinnbezug" bzw. die soziale Dimension der Handlung aus, kaum widersprechen.

In seinem letzten Kapitel widmet sich Avrigeanu der Straftheorie Kants und derjenigen Hegels. Großen Raum nimmt insoweit die Kritik Schünemanns an vergeltungstheoretischen Positionen ein (S. 147 ff.). So wirft Schünemann den idealistischen Strafrechtskonzeptionen vor, sie könnten nicht erklären, weshalb eine Vielzahl von Normverletzungen keine Strafe als Wiederherstellung des Rechts nach sich zögen, sondern allein zivilrechtliche Rechtsfolgen zeitigten. Die von Avrigeanu unterbreiteten Gegeneinwände überzeugen. Doch hätte er deutlicher herausarbeiten können, dass Schünemann die Pointe Hegels, der Straftäter verletze das Recht als Recht, unterschlägt. Auch Schünemanns Vorwurf, die idealistischen Straftheorien orientierten sich ausschließlich an der Verletzung eines Gebotes, nicht aber an einer "bestimmten Dignität" desselben (S. 151), hätte sich mit Hinweis auf den Begriff "Straftheorie" leicht entkräften lassen: Kant und Hegel haben auf die Frage nach der Rechtfertigung der Strafe als Institution ihre Antworten gegeben. Lehnt man mit Schünemann diese Antworten ab und beruft sich stattdessen auf die positive Generalprävention als Strafzweck, folgen daraus keine – im Vergleich mit vergeltungstheoretischen Konzeptionen – engeren inhaltlichen Grenzen für den Strafgesetzgeber. Solche Grenzen sollen nach heute herrschender Ansicht erst aus der Verpflichtung des Strafgesetzgebers auf den Schutz von Rechtsgütern folgen. Doch figuriert, seinem großen Versprechen zum Trotz, das Rechtsgut in praxi lediglich als ein Gesichtspunkt in einer umfassenderen verfassungsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsprüfung. Kant und Hegel hätten einer solchen Verhältnismäßigkeitsprüfung nicht widersprochen, sondern im Duktus ihrer Zeit zur Berücksichtigung der "Strafklugheit" gemahnt. Im übrigen widerlegen – auch darauf hätte der Verfasser eingehen können – die Ausführungen Kants und Hegels zur Strafklugheit das verbreitete Missverständnis, beide Philosophen begnügten sich mit dem "quia peccatum" und leugneten sämtliche mit dem Strafrecht verfolgten Zwecke. Wohl aber beharren sie darauf, dass Strafe ihrem Begriff nach kein Mittel ist, auch wenn sie als Mittel verwendet werden kann. Nimmt man aber die Strafe als ein Mittel unter anderen wahr, verschwimmen ihre Besonderheiten, an deren Rechtfertigung sich viele Philosophen, nicht nur Kant und Hegel, abgearbeitet haben.

Es ist das Verdienst der Arbeit Avrigeanus, auf die heutigen, am Deutschen Idealismus orientierten Bemühungen zur Rechtfertigung der Strafe hingewiesen zu haben. Dabei ruft er zwar manchen Berührungspunkt der miteinander streitenden Strafrechtsschulen in Erinnerung. Indes versäumt er es, die Vorzüge einer so betriebenen Strafrechtswissenschaft aufzuzeigen und verliert sich nicht selten in kleinteiligen Textexegesen und Vergleichen einzelner Diskussionsbeiträge. Aus diesem Grund dürfte Avrigeanus Arbeit nur bedingt dazu beitragen, den Kreis der Diskutanten um solche Strafrechtler zu erweitern, die den Streit um eine tragfähige Straftheorie bislang aus einigem Abstand verfolgt haben. Den Teilnehmern des Diskurses aber wird die Dissertation – trotz der beeindruckenden Lesearbeit Avrigeanus – nur wenig Neues bieten.

Wiss. Ass. Dr. Michael Kubiciel, Regensburg

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Burhoff, Detlef; Neidel, Olaf; Grün, Hans-Peter: Geschwindigkeits- und Abstandsmessungen im Straßenverkehr; 697 Seiten, ZAP Verlag 2007, Herne.

Nur knapp zwei Jahr nach dem Erscheinen des "Handbuchs für das straßenverkehrsrechtliche OWi-Verfahren" bringt der ZAP-Verlag mit dem neuen Werk der Autoren Detlef Burhoff, Olaf Neidel und Hans-Peter Grün ein weiteres Handbuch heraus, das sich mit den technischen und rechtlichen Fragen der Geschwindigkeits- und Abstandsmessung im Straßenverkehr befasst. Die sich zunächst aufdrängende Frage nach etwaigen Überschneidungen mit dem zunächst erschienenen Handbuch verflüchtigt sich nach einer ersten Befassung mit dem Werk allerdings schnell. Dem ZAP-Verlag ist es wieder einmal gelungen, mit exzellenten Autoren aus beiden Fakultäten, der juristischen sowie der technischen, ein Buch herauszugeben, das die Bedürfnisse des Praktikers auf den Punkt trifft.

Zum Richter am Oberlandesgericht Hamm, Detlef Burhoff und seiner "Handbuch-Küche", aus der neben vielen anderen Fachpublikationen insbesondere das zwischenzeitlich in 5. Auflage erschienene "Handbuch für die strafrechtliche Hauptverhandlung" sowie das in 4. Auflage erschienene "Handbuch für das strafrechtliche Ermittlungsverfahren" zu erwähnen sind, erübrigen sich weitere Ausführungen. Interessant ist aber, wer die Co-Autoren sind, die das technische Know-How einbringen. Diese Wahl ist mit den beiden Sachverständigen Hans-Peter Grün und Olaf Neidel offensichtlich hervorragend gelungen. Beide haben nach langjähriger Tätigkeit als Sachverständige die "Verkehr-Unfall-Technik Sachverständigengesellschaft mbH" gegründet, deren Tätigkeitsschwerpunkt - ein Schelm, wer Böses dabei denkt - in der Überprüfung amtlicher Messungen im Straßenverkehr liegt.

Grün und Neidel befassen sich zunächst mit den technischen Grundlagen der wichtigsten Messverfahren und weisen insbesondere auf häufig vorkommende Fehler hin. Besonders dankbar ist die Integration zahlreicher Skizzen und Messfotos, anhand derer die Messungen nach dem Prinzip richtig/falsch erläutert werden. Burhoff schließt sich dann zunächst mit einem Abriss ausgesuchter Verfahrensfragen an, bevor dem Leser über 300 Seiten "Arbeitshilfen" angeboten werden, die für die Bearbeitung entsprechender Fälle äußerst hilfreich sind, so eine Zusammenstellung der wichtigsten, nicht aus dem Ordnungswidrigkeiten- bzw. Straßenverkehrsrecht stammenden Normen, wie etwa dem Eichgesetz, der Eichordnung und der länderspezifischen Richtlinien für die Messverfahren. Als besonders praktisch erweist sich hierbei ein alphabetisch aufgebautes "Rechtsprechungslexikon".

Jahre nach den wegbereitenden Ausführungen eines Ulrich Löhle tritt damit erneut ein Doppel aus technischer und juristischer Kompetenz an, das dem Praktiker Hilfe anbietet, um der Kritiklosigkeit mancher Gerichte gegenüber Messungen zu begegnen und die mitunter ärgerlichen Platitüden der gerichtsbestellten (Gefälligkeits-) Gutachter zu demaskieren und der Ordnungsgemäßheit einer Messung wirklich auf den Grund zu gehen. In diesem Sinne sei das Buch aber durchaus auch dem mit Verkehrsverfahren befassten Richter nahegelegt.

Das Buch nennt sich zwar selbst nicht "Handbuch", es ist jedoch eines in des Wortes bestem Sinne. Durch das Komprimat aus technischer Erläuterung, die auch und insbesondere dem habituell technisch nicht sonderlich versierten Juristen das Verständnis der Messverfahren vermittelt, juristischer Darstellung der wesentlichen Verfahrensfragen in der gebotenen Kürze, ergänzt durch ein alphabetisches Rechtsprechungslexikon sowie die An-die-Hand-Gabe der wichtigsten Normen und Richtlinien für die Messverfahren, darf dieses Buch im Koffer eines in diesem Bereich tätigen Rechtsanwalts nicht fehlen. Das Buch ist zwar weniger als etwa das "Handbuch für das straßenverkehrsrechtliche OWi-Verfahren" geeignet, einen ersten Einstieg in die komplexe Materie zu vermitteln, es setzt vielmehr Kenntnisse sowohl der technischen als auch der juristischen Grundstrukturen voraus, es ist aber für den Praktiker ein perfektes "Vademecum", das auf einen Blick und äußerst systematisch alle wesentlichen Informationen vermittelt.

Dr. Marcus Böttger , VBB Rechtsanwälte, Düsseldorf

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Nils Graßmann: Rechtsbehelfe gegen Unterlassen im Strafverfahren – Ein Beitrag zur Dogmatik der Beschwerde , Nomos Universitätsschriften Recht, Band 424, Nomos Verlagsgesellschaft, 243 S., € 46,-, Baden-Baden 2004.

Mit seinem Werk leistet Graßmann einen wertvollen Beitrag zu der – freilich bisher eher verhalten geführten – Diskussion um die Zulässigkeit von Rechtsbehelfen gegen unterlassene Entscheidungen. Darüber hinaus arbeitet er in vergleichsweise knapper Form den aktuellen Wandel in der Dogmatik der Beschwerde heraus. Zudem bietet er einen guten Überblick über einzelne Anwendungsprobleme dieses Rechtsmittels, insbesondere ihre zahlreichen Ausschlussgründe.

Zu Recht weist Graßmann bereits eingangs darauf hin, dass zwar die Systematik der einzelnen Rechtsbehelfe und ihr Zusammenspiel ständiger Gegenstand wissenschaftlicher Diskussion gewesen, die Frage, ob ein solcher auch dann statthaft sei, wenn ein erwartetes oder zu erwartendes Verhalten des hierzu berufenen Prozessbeteiligten ausleibe, bisher jedoch nur wenig aufgearbeitet worden sei. Insbesondere der Gesetzgeber habe sich einer Regelung dieses Problemkreises bisher vollständig enthalten. Graßmann beschränkt sich gemäß seiner eigenen Zielsetzung darauf, die Problematik der unmittelbaren Anfechtbarkeit, also eines Rechtsbehelfs speziell gegen das Unterlassen im Strafverfahren darzustellen. Die repressive Behandlung des Unterlassens – vom Verf. als für das deutsche Recht überwiegend geklärt bezeichnet (S. 18) – bleibt dagegen außer Betracht. Diese bestehenden und weitestgehend anerkannten "Sanktionsmöglichkeiten" – beispielhaft angeführt sei nur die Strafmilderung im Schuldspruch oder der Staatshaftungsanspruch nach § 839 BGB i.V.m. Art. 31 GG – nehmen allein die verzögerte, gegebenenfalls sogar vollständig ausgebliebene Entscheidung aus der Perspektive nach Abschluss des Strafverfahrens in den Blick. In Bezug auf solche Mittel aber, die den Prozessparteien zur Verfügung stehen, um Verfahrensverzögerungen bereits im Laufe des Prozesses zu verhindern, konstatiert der Verf. zutreffend eine weitgehende Ungeklärtheit. Daher wirft er in seiner Arbeit die Frage auf, ob und inwieweit es angebracht ist, Rechtsbehelfen im laufenden Prozess diese Funktion zu geben.

Graßmann zeigt im Verlauf seines Werkes bestehende Unsicherheiten hinsichtlich der Möglichkeit einer Anfechtung unterbliebenen Prozessverhaltens im Detail auf. Umfassend betrachtet er die verschiedenen Rechtsbehelfe und führt sie jeweils einer theoretisch stimmigen und praktikablen, den widerstreitenden Interessen gerecht werdenden Lösung zu. Hierbei entwickelt er einen eigenen Ansatz, indem er den telos des Begriffs der Rechtsbehelfe in den Mittelpunkt seiner Ausführungen stellt und die Funktion der einzelnen Rechtsbehelfe daran misst und ausrichtet.

Die von Frisch begleitete und von Graßmann im Wintersemester 2003/2004 der juristischen Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg vorgelegte Dissertation bestimmt ausgehend von den Zielen des Strafverfahrens die Aufgaben der Rechtsbehelfe im Allgemeinen und die einzelner im Besonderen. Auf diese Weise will der Verf. nicht ohne Berücksichtigung der gegen die Statthaftigkeit von Rechtsbehelfen sprechenden Gesichtspunkte den jeweiligen Gegenstand des Rechtsbehelfs herausarbeiten und im Anschluss daran die systematisch fundierte Antwort auf die Frage geben, ob das Unterlassen Gegenstand des jeweiligen Rechtsbehelfs – im Mittelpunkt steht das Rechtsmittel der prozessualen Beschwerde [1] – sein kann.

Schließlich will der Verf. einen Wandel der Dogmatik wie der Aufgaben der Beschwerde im Strafverfahren durch die Rechtsentwicklung der vergangenen Jahre nachweisen. Die Arbeit gliedert sich in acht Teile.

Zunächst gewährt der Verf . eine kurze Einleitung in das Thema, wobei er vor allem das zu bearbeitende Feld absteckt (S. 17-19). Im Anschluss daran erfolgt eine Bestandsaufnahme und erste kritische Übersicht bzgl. des Umgangs der Rechtsprechung und der Literatur mit dem Problem der Zulässigkeit von Rechtbehelfen gegen unterlassene Entscheidungen (§ 1, S. 21-60).

Graßmann erarbeitet hierzu zunächst einen auf die Rechtspraxis bezogenen Überblick, indem er den tatsächlichen Umgang der Rechtsprechung mit der Frage der Zulässigkeit von Rechtsbehelfen gegen unterlassene Entscheidungen im Strafverfahren darstellt (S. 21-40). Seinen Rechtsprechungsüberblick unterteilt er in die Analyse der Entscheidungen des Reichsgerichts, der Fachgerichte seit 1948 sowie des EGMR. Während er für ersteres feststellt, dass sich diesbezüglich lediglich eine einzige Entscheidung [2] findet, konstatiert er für die zweite Gruppe die Existenz zahlreicher einschlägiger Entscheidungen (S. 23 ff.). Die im Folgenden von ihm dargestellten obergerichtlichen Entscheidungen gruppiert er um die grundsätzliche Differenzierung, ob es sich bei Ihnen um Revisionsurteile – bestimmte Arten unterlassener Entscheidungen können, wie Graßmann eingangs klarstellt, vergleichsweise unumstritten zum Gegenstand einer Verfahrensrüge gemacht werden und folgen insoweit den allgemeinen Regeln – oder um Entscheidungen über die wesentlich stärker umstrittene und bereits in den Grundlagen ungeklärte Frage der Statthaftigkeit der isolierten Anfechtungen unterlassener Entscheidungen im Strafverfahren mittels der Beschwerde handelt. Am Ende seiner Auswertung sieht Graßmann "ein relativ konsistentes Bild" der herrschenden Meinung: Entweder sähen die Beschwerdegerichte eine Möglichkeit, dem Verhalten des Ausgangsgerichts einen Entscheidungswert zu entnehmen, obgleich eine förmliche Entscheidung gerade nicht getroffen wurde, oder sie verneinten einen solchen Entscheidungswert und bezeichneten das Verhalten des Ausgangsgerichts vielmehr als "bloße Untätigkeit", die jedoch nicht durch eine Beschwerde nach § 304 StPO angefochten werden könne. Dieser Befund Graßmanns deckt sich auch weitgehend mit der einschlägigen Kommentarliteratur. [3]

Der Verf. präzisiert sodann den Ansatz der Rechtsprechung und nimmt eine Typologisierung der verschiedenen Arten unterlassener Entscheidungen vor, indem er das Unterlassen in die Gruppen " Prozessentscheidungen" (Entscheidungen, durch die ein Antrag für unzulässig erklärt wird), "konkludente Entscheidungen" und "Nicht-Entscheidungen" (als unterlassene Entscheidungen i.e.S.) einteilt. Angesichts dessen, dass die h.M. zwischen Unterlassungen mit Entscheidungswert einerseits und bloßer Untätigkeit andererseits differenziert, wirft er sowohl die Frage nach den Kriterien für die Abgrenzung von Entscheidung und Nichtentscheidung als auch die Frage danach auf, in welchen Fällen eine Nicht-Entscheidung einer Entscheidung in ihrer Bedeutung gleichkomme. Graßmanns diesbezügliche Auswertung ergibt, dass die Rechtsprechung in dem prozessual relevanten Verhalten eines Entscheidungsträgers dann eine Entscheidung erblickt, wenn dieses Verhalten den auf den Fortgang des Verfahrens bezogenen Willen des Entscheidungsträgers zum Ausdruck bringt (S. 48).

Schließlich widmet Graßmann sein abschließendes Kapitel innerhalb des ersten Paragrafen der Kritik an der Formel der Rechtsprechung. Dabei geht es ihm weniger um eine solche, die die Prämissen der herrschenden Meinung akzeptiert und lediglich Anwendungsschwierigkeiten aufzeigt, sondern vielmehr um eine grundsätzliche Infragestellung bereits dieser Prämissen (S. 57 ff.) . Seiner Ansicht nach scheint die Gleichbehandlung von unterlassener und ablehnender Entscheidung per Analogie in ihren logischen Voraussetzungen fragwürdig, denn es liege gerade kein Verhältnis gleicher, also einander entsprechender Rechtsbeeinträchtigungen vor, sondern ein Verhältnis a maiore ad minus zugunsten der unterlassenen Entscheidungen. Freilich zieht auch Graßmann hieraus nicht den Schluss, dass die Ansicht der h.M. für das Strafverfahren nicht aufrecht zu erhalten sei, sondern er stellt zunächst nur fest, dass der Befund lediglich Fragen nach dem Zusammenhang von Rechtsverletzungen und Rechtsbehelfen im Strafverfahren aufwerfe (S. 58 f.). Im Mittelpunkt seiner Kritik steht die These, die unterlassene Entscheidung verletze quantitativ stärker als die ablehnende Entscheidung.

Der zweite Paragraf (S. 61-97) knüpft unmittelbar an diese von Graßmann­ geäußerte Kritik an, indem er sich der Grundlagen vergewissert, auf denen das Gebäude der Dogmatik der Rechtsbehelfe im Strafverfahren beruht. Indem er zunächst die Aufgaben des Strafverfahrens ermittelt und sie zueinander ins Verhältnis setzt (S. 61-81) sowie im Anschluss daran die allgemeinen Funktionen der Rechtsbehelfe (S. 82-89) bestimmt, überprüft er, ob und inwieweit die Rechtsbehelfsdogmatik des Strafverfahrens die Überprüfung von Rechtsverletzungen bezweckt und diese Aufgabe der Rechtsbehelfe möglicherweise durch weitere den Rechtsbehelfen durch das Strafverfahren zugewiesene Aufgaben eingeschränkt wird. Mittels dieser Vorgehensweise dient der zweite Paragraf dem Verf. vor allem zur Darstellung seines eigenen Ansatzes, der sich zur Lösung der beschriebenen Konflikte eines vom ihm sog. "teleologischen Begriffs der Rechtsbehelfe" bedient.

Im Hinblick auf die erstgenannte Frage – nämlich nach den Zielen des Strafverfahrens im Hinblick auf die Aufgabe der Rechtsbehelfe – stellt Graßmann zunächst die von Niese [4] abgeleitete Vorüberlegung an, eine grundsätzliche Unterscheidung von verfahrensimmanenter und verfahrensexterner Betrachtung des Prozesses vorzunehmen und die folgende Untersuchung dementsprechend zu strukturieren (S. 62 f .). Sodann untersucht er zunächst das Ziel des Strafverfahrens im innerprozessualen Raum, indem er zum einen den die Rechtskraft in den Mittelpunkt stellenden Ansatz Goldschmidts [5] (S. 63

ff.) und zum anderen das Gegenkonzept der Ausrichtung des Strafverfahrens auf die Ermittlung der materiellen Wahrheit [6] darstellt. Bei der Untersuchung des Verfahrens aus der externen Perspektive nimmt er Bezug auf die Thesen Pawlowskis [7] und Luhmanns [8] . Anschließend stellt Graßmann die Verbindung von Prozess- und materiellem Recht über den Zweck des Verfahrens in Form der sog. "transzendenten Modells" vor (S. 70 ff.), um schließlich in einer Synthese festzustellen, dass das Ziel des Strafverfahrens in einer umfassend gerechten Entscheidung liege (S. 77 ff.).

Abschließend fasst Graßmann das Ergebnis dieses Teils seiner Arbeit dahingehend zusammen, dass das immanente Ziel der rechtlichen Institution des Strafverfahrens darin bestehe, eine verbindliche und gerechte Endentscheidung herbeizuführen, wobei die Gerechtigkeit das umfassende Ziel und den Maßstab für verschiedene untergeordnete in Konflikt zueinander stehende Ziele, wie etwa die Ermittlung der richtigen Entscheidung, die Wahrung der Rechte des Betroffenen oder die Rechtskraft, bilde (S. 97). Angesichts dessen, dass durch Rechtsbehelfe die Qualität hoheitlichen Verhaltens überprüft werde und alle Rechtsbehelfe im teleologischen Zusammenhang derjenigen rechtlichen Regelungen ständen, die ihren jeweiligen Prüfungsmaßstab bildeten, spreche die teleologische Ausdeutung der Rechtsbehelfsregelungen immer für möglichst weitgehenden Rechtsschutz. Daher müsse die Begrenzung von Rechtsschutzmöglichkeiten sich ihrerseits teleologisch legitimieren lassen. Sie müsse sich einerseits aus dem Verfahrensziel selbst – insbesondere dem Prinzip der Rechtssicherheit – andererseits aber auch aus organisatorischen Belangen ableiten lassen.

Über diesen bereits erheblichen Erkenntnisgewinn hinaus dient der zweite Paragraf aber auch noch einem weiteren Zweck: Die hier angestellten Überlegungen Graßmanns bilden das notwendige gedankliche Fundament für die Beantwortung derjenigen Fragen, die sich im Zusammenhang mit der dogmatischen Ausgestaltung der einzelnen Rechtsbehelfe ergeben (vgl. §§ 3 f., S. 98-162).

Dementsprechend führt der dritte Paragraf die im Vorangegangenen unter II. (S. 82 ff.) angestellten Überlegungen zu den allgemeinen Funktionen von Rechtsbehelfen insoweit fort, als der Verf. sich nunmehr den spezifischen Funktionen der einzelnen Rechtsbehelfe sowie der teleologischen Bestimmung ihres Gegenstandes widmet (S. 98-124). Graßmann arbeitet also die Aufgaben der einzelnen Rechtsbehelfe heraus und zieht die Folgerungen, die sich aus diesen Betrachtungen für den Gegenstand des jeweiligen Rechtsbehelfs ergeben. Hierbei spart er wegen der besonderen dogmatischen Probleme bei der strafprozessualen Beschwerde gem. §§ 304 ff. StPO selbige noch aus und widmet diesem Rechtsbehelf einen eigenen Paragrafen (§ 4, S. 125-162). In einer im Hinblick auf den Untersuchungszweck sinnvollen Beschränkung seiner Analyse verzichtet er zudem auf eine ausführliche Berücksichtigung von Berufung und Revision, weil diese Rechtsmittel allein gegen das Verfahren abschließende Entscheidungen zulässig sind, die allesamt formgebunden und daher einer Anfechtung unterlassener Entscheidungen nicht zugänglich sind.

Die weitere Unterteilung dieses Abschnitts richtet sich aus an der Differenzierung zwischen Rechtsbehelfen gegen strafprozessuale Entscheidungen innerhalb (I., S. 99-114) und außerhalb des Verfahrens (II., S. 115-123), soweit sie im Hinblick auf die Anfechtbarkeit prozessualen Unterlassens von Bedeutung sein können. Unter I. untersucht Graßmann zunächst die ordentlichen Rechtsbehelfe gegen gerichtliche Entscheidungen (Antrag gem. § 100 d Abs. 6 StPO), diejenigen gegen Maßnahmen der Staatsanwaltschaft und ihrer Hilfsbeamten, anschließend die außerordentlichen Rechtsbehelfe gegen strafprozessuales Geschehen (Anträge nach § 33a, 311a StPO) und formlose Rechtsbehelfe (Dienstaufsichtsbeschwerde, Gegenvorstellung). Unter II. folgt eine Betrachtung von Funktion und Gegenstand des Rechtsbehelfs nach §§ 23 ff., der Verfassungsbeschwerde sowie der Beschwerde nach Art. 34 ff. EMRK.

Hierbei gelangt Graßmann zu dem Ergebnis, dass angesichts des Umstands, dass strafprozessuale wie außerstrafprozessuale Rechtsbehelfe grundsätzlich der Überprüfung von Eingriffen dienen, die Form, in der sich das zu überprüfende Verhalten verwirklicht, auf die Zulässigkeit des Antrags keine Auswirkung haben könne. Daher sei die Anfechtbarkeit auch unterlassener Entscheidungen für jedes der von ihm untersuchten Rechtsbehelfe zu bejahen (S. 124).

Im Anschluss daran beschäftigt Graßmann sich im – mit dem vorangegangenen in thematisch engem Zusammenhang stehenden – vierten Paragrafen mit dem Rechtsmittel der Beschwerde gegen unterlassene Entscheidungen im Strafverfahren selbst (S. 125-162). Die Berechtigung, ihr ein eigenes Kapitel zu widmen, entnimmt Graßmann der Feststellung, dass die strafprozessuale Beschwerde im Kontext der Frage nach der Anfechtbarkeit von Unterlassen im Strafverfahren eine Sonderstellung einnehme. Weder sei ihr Anwendungsbereich so starr festgelegt, noch sei er – lege man die Ansicht der h.M. zugrunde – derart weit gefasst wie z.B. derjenige der Verfassungsbeschwerde. Vor dem Hintergrund der Erkenntnis, dass eine Beschränkung der Statthaftigkeit eines Rechtsmittels sich nicht bereits aus sich selbst heraus legitimiere, sondern es vielmehr einer inneren Rechtfertigung bedürfe, die Beschränkung des Beschwerdegegenstandes aufrecht zu erhalten, obwohl angesichts der Aufgaben des Rechtsmittels eine weniger restriktive Interpretation möglicher Beschwerdegegenstände dienlich wäre, arbeitet der Verf. zunächst die spezifischen Aufgaben der strafprozessualen Beschwerde heraus (S. 125-139), um im Anschluss daran Rückschlüsse von diesen Aufgaben auf den Gegenstand der Beschwerde zu ziehen (S. 140-162).

Wenn dem zuerst genannten Arbeitsschritt im Hinblick auf die bloße Seitenzahl auch nicht der Schwerpunkt der Arbeit zukommt, so gilt in inhaltlicher Hinsicht eher das Gegenteil. Sein Erkenntniswert sowie die Bedeutung für die Thesen Graßmanns im Übrigen sind kaum hoch genug zu schätzen: Im Rahmen eines Rekurses sowie einer

Präzisierung der Aufgaben der Beschwerde im Strafverfahren stellt der Verf. zunächst den aus seiner Sicht "historisch überkommenen Ansatz" dar, der von einer Beschwerde als Rechtsmittel zur Überprüfung von Entscheidungen im Hinblick auf den Ausgang des Verfahrens ausgeht (S. 126 ff.). Sodann stellt er den in der Literatur [9] zum Teil vertretenen "ergänzenden Ansatz" vor, nach dem die Beschwerde als Instrument des allgemeinen Rechtsschutzes betrachtet wird (S. 132 ff.), um schließlich zu dem Ergebnis zu gelangen, dass die Antwort auf die Frage nach dem Spielraum des Gesetzgebers sich nur finden lasse, wenn die Beschwerde in die Systematik des gesamten Verfahrens eingebettet betrachtet werde – der sog. "umfassende Ansatz": Die Beschwerde als Instrument zur Durchführung eines gerechten Strafverfahrens (S. 138 f.).

Im zweiten Abschnitt dieses Paragrafen untersucht Graßmann dann, wie die soeben gefundenen Ergebnisse sich auf den Gegenstand des Rechtsmittels der Beschwerde auswirken. Dabei richtet legt er – entsprechend seinem Untersuchungsziel – sein besonderes Augenmerk auf die Frage nach der Tauglichkeit prozessualen Unterlassens als Beschwerdegegenstand. Auch hier legt er seinen eigenen Ansatz, die teleologische Bestimmung des Beschwerdegegenstandes, zugrunde und gelangt hierbei – im Hinblick auf die unter § 3 gefunden Ergebnissen vollkommen konsequent – zu dem Ergebnis, dass der Beschwerde die Aufgabe zukomme, prozessuales gerichtliches Verhalten einer Richtigkeits- wie einer Rechtmäßigkeitskontrolle zu unterziehen. Nur eine Interpretation der Regelungen des § 304 StPO dahingehend, dass sämtliches gerichtliches prozessuales Verhalten mit der Beschwerde anfechtbar sei, ermögliche es aber, diesem Ziel gerecht zu werden. Während also die h.M. die Beschwerde allein gegen Entscheidungen zulasse [10], spricht aus Graßmanns Sicht insbesondere das Verfassungsrecht für eine extensivere Auffassung. Mehr noch sieht er entgegen der h.M. auch die reine Untätigkeitsbeschwerde im Strafverfahren grundsätzlich und ohne Weiteres als statthaft an, wenn sie auch – wie er sogleich einschränkend zugibt – infolge der Anwendung der weiteren Zulässigkeitsvoraussetzungen einer Untätigkeitsbeschwerde nur selten zulässig sein wird (S. 162). Die von der h.M. vorgenommene Unterscheidung zwischen unterlassenen Entscheidungen einerseits und bloßer Untätigkeit anderseits habe nach Ansicht Graßmanns damit gerade keine Berechtigung. [11]

Auf dem Boden seiner im Wege einer teleologischen Bestimmung des Beschwerdegegenstandes entwickelten Ansicht, nach der die Beschwerde grundsätzlich auch gegen bloße Untätigkeit statthaft sei, untersucht Graßmann im fünften Paragrafen (S. 163-217) sodann die Frage, ob anerkannte Begrenzungen oder der gesamte Ausschluss einer an sich statthaften Beschwerde in gleichem Maße auch für solche gegen unterlassene Entscheidungen gelten. Dies ist, wie der Verf. eingangs des Abschnitts zu Recht konstatiert, unter dem Gesichtspunkt eines möglichst umfassenden Rechtsschutzes nicht selbstverständlich, vielmehr bedürfe die Übertragung des Ausschlusses auf die Beschwerde gegen unterlassene Entscheidungen einer zusätzlichen Begründung. Auch hier fühlt Graßmann sich der von ihm propagierten Vorgehensweise verpflichtet, indem er für den jeweiligen Ausschlusstatbestand der Beschwerde prüft, ob der mit der Rechtsmittelbegrenzung verfolgte Zweck auch einen Ausschluss der Beschwerde gegen unterlassene Entscheidungen zu legitimieren vermag.

Hierzu untersucht er zunächst die unmittelbar in den §§ 304 ff. StPO geregelten Ausschlusstatbestände (§ 304 Abs. 4, § 305 direkt und analog, § 310 sowie der Ausschluss aus allgemein-prozesslogischen Gründen), im Anschluss diejenigen der einzelnen Teile der StPO, im Weiteren solche, die die Begrenzung der Beschwerde nach dem derivativen Zweck des Rechtsmittels vornehmen, also speziell auf den jeweiligen Regelungskontext abheben (bspw. solche im Zusammenhang mit Überprüfungen ermittlungsbehördlicher Grundrechtseingriffe nach § 161a StPO oder im Zusammenhang mit Verfahrenseinstellungen gem. § 153 ff. StPO) (S. 176-214), um schließlich die Ausschlusstatbestände des GVG einer entsprechenden Analyse zuzuführen (S. 214-217).

Das letzte große Kapitel seiner Arbeit (§ 6) widmet der Verf. der Anwendung der weiteren allgemeinen Beschwerdevorschriften sowie den spezifischen praktischen Problemen der Beschwerde gegen Unterlassen im Strafverfahren und wird – spätestens – damit dem Untertitel der Arbeit mehr als gerecht (S. 219-231).

Gemäß dem üblichen Prüfungsaufbau beschäftigt er sich zunächst mit den Zulässigkeitsvoraussetzungen, also den Voraussetzungen für eine Sachentscheidung über die Beschwerde. Freilich weisen, was Graßmann auch ausdrücklich klarstellt, nicht alle Zulässigkeitsmerkmale der Beschwerde Besonderheiten auf, soweit Gegenstand der Beschwerde ein prozessuales Unterlassen ist. So bedürfen etwa Fragen der örtlichen wie der sachlichen Zuständigkeit ebenso wenig einer gesonderten Problematisierung wie solche der Form. Erörterung finden bei ihm indes das Erfordernis der Beschwer im Zusammenhang mit der Beschwerde gegen Unterlassen, insbesondere die Frage der Anwendbarkeit des Grundsatzes der Tenorbeschwer und die Erkenntnis der Unanwendbarkeit dieses Grundsatzes auf die Beschwerde gegen prozessuales Unterlassen (S. 219-222), Fragen von Frist und Verwirkung (S. 222-224) sowie des Rechtsschutzbedürfnisses bei der Beschwerde gegen Unterlassen (S. 224 f.).

Anschließend werden die Regeln für die Sachentscheidung selbst einer Betrachtung unterzogen, wobei die Bestimmung des Beschwerdegegenstandes im Mittelpunkt steht (S. 225 ff.). Ist bereits für die "gewöhnliche" Beschwerde umstritten, welches der Entscheidungsgegenstand dieses Rechtsbehelfs sein soll, so lässt sich die entsprechende Frage für die Beschwerde gegen gerichtliche Untätigkeit erst recht stellen.

Graßmann schließt dieses – und gleichzeitig auch die vorstehenden – Kapitel mit der Erkenntnis, dass die Beschwerde gegen prozessuales Unterlassen an mehreren

Stellen die Umbrüche in der Dogmatik der Beschwerde verdeutliche, die die heute bestehenden Aufgaben der Beschwerde erforderliche mache. Vom ursprünglich als zwingend auf den Fortgang des Strafverfahrens ausgerichteten Rechtsmittel sei die Beschwerde zu einem Instrument des Individualrechtsschutzes umgewidmet worden. So könne der Grundsatz der Tenorbeschwerde nicht länger aufrechterhalten werden, vielmehr reiche es für das Zulässigkeitsmerkmal der Beschwer aus, wenn die Verletzung von Rechten des Beschwerdeführers plausibel gemacht werde. [12] Ferner setze weder die ordentliche noch die sofortige Beschwerde gegen strafprozessuales Unterlassen grundsätzlich die Einhaltung einer Frist für die Einlegung der Beschwerde voraus. Nur in wenigen bestimmten Fällen beginne auch bei unterlassener Entscheidung die Wochenfrist des § 311 Abs. 2 StPO zu laufen; eine Verwirkung des Rechts auf Beschwerde komme jedoch in Betracht. [13] Schließlich komme dem Rechtsschutzbedürfnis als Konkurrenzregel der Rechtsbehelfe auch im Strafverfahren eine eigenständige Bedeutung gegenüber der Beschwer zu: Soweit dem Rechtsbehelfsführer eine einfachere Möglichkeit zur Geltendmachung seines Rechtsschutzziels zur Verfügung stehe, sei die Durchführung des aufwändigeren Rechtsbehelfs unzulässig.

Abschließend fasst der Verf. unter § 7 seine Thesen noch einmal in aller Kürze zusammen und bietet einen knappen Ausblick (S. 332-234).

Mit seiner lesenswerten Dissertation gewährt Graßmann dem Leser eine gute Einführung in die zur Anfechtbarkeit strafprozessualen Unterlassens vertretenen Positionen. Auf dem Boden einer teleologischen Betrachtung von Zweck, Ziel und Gegenstand der Rechtsbehelfe, insbesondere des Rechtsbehelfs der Beschwerde gem. §§ 304 ff. StPO, entwickelt er die – von der bisher wohl h.M. abweichende – These, dass auch die Beschwerde gegen bloße Untätigkeit statthaft sein müsse. Sein Verdienst liegt aber insbesondere darin, den L eser nunmehr nicht mit der bloßen Forderung nach Anerkennung einer Untätigkeitsbeschwerde allein zu lassen, sondern im Folgenden die über die Anforderung der Statthaftigkeit hinausgehenden weiteren Zulässigkeitsvoraussetzungen daraufhin zu untersuchen, ob im Zusammenhang mit einem Unterlassen als angegriffenem Prozessverhalten eine spezifische Auslegung geboten ist.

Damit bietet Graßmann einen umfassenden Überblick über das Rechtsmittel der Beschwerde gegen unterlassene Entscheidungen im Strafprozess und hält mit seiner Arbeit ein Plädoyer für einen im Lichte eines effektiven Rechtsschutzes extensiv auszulegenden Anwendungsbereich der strafprozessualen Beschwerde – ein Plädoyer, das zumindest geeignet scheint, die h.M., die dem Problem bisher eher untergeordnete Aufmerksamkeit zuteil werden lässt [14], zu einer vertiefteren Auseinandersetzung, wenn nicht gar zu einem Umdenken zu bewegen.

Wiss. Mitarbeiter Kjell Gasa, Kiel


[1] Zur Terminologie vgl. AnwKomm StPO-Rotsch/Gasa, Vorbem. §§ 296 ff. Rn. 1.

[2] RGSt 15, 332.

[3] Vgl. etwa Meyer-Goßner, § 304 Rn. 3; KK-Engelhardt, § 304 Rn. 3; beachte aber auch LR-Matt, Vor § 304 Rn. 31.

[4] Niese, Doppelfunktionelle Prozesshandlungen, 1950, S. 75 ff.

[5] Goldschmidt, Der Prozess als Rechtslage, 1925, S. 151.

[6] Vgl. etwa BVerfG NStZ 1997, 419.

[7] Pawlowski, ZZP 80 (1967), S. 345, 358, 365.

[8] Luhmann, Legitimation durch Verfahren, 1993, S. 16 ff., 23 ff.

[9] Vgl. etwa Roxin, Strafverfahrensrecht, § 2 Rn. 1 sowie die Nachw. bei Graßmann S. 72 in Fn. 70.

[10] Vgl. etwa AnwKomm StPO-Rotsch/Gasa, § 304 Rn. 2 m .w.N.

[11] Vgl. Graßmann, S. 163 in Fn. 1.

[12] Vgl. AnwKomm StPO-Rotsch/Gasa, Vorbem. §§ 296 ff. Rn. 11.

[13] Insoweit folgt die Beschwerde gegen Unterlassen den allgemeinen Regeln, vgl. AnwKomm StPO-Rotsch/Gasa, Vorbem. §§ 296 ff. Rn. 8, Vorbem. §§ 304 ff. Rn. 7 sowie § 306 Rn. 2 m .w.N.

[14] So finden sich häufig nur kurze Ausführungen zu dieser Frage, vgl. etwa AnwKomm StPO-Rotsch/Gasa, § 304 Rn. 2; KK-Engelhardt, § 304 Rn. 3; Meyer-Goßner, § 304 Rn. 3 und § 309 Rn. 5; ausführlicher SK-Frisch, § 304 Rn. 8 ff.; LR-Rosenberg, § 304 Rn. 7 ff.

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Klemke, Olaf; Elbs, Hansjörg: Einführung in die Praxis der Strafverteidigung; Reihe Praxis der Strafverteidigung, 408 Seiten, ISBN 3-8114-3614-7, 34 €, C.F.Müller, Heidelberg 2007.

Auf dem Markt befinden sich viele gut eingeführte Werke zur Strafverteidigung. Die "Einführung in die Praxis der Strafverteidigung" von Klemke/Elbs richtet sich an den Berufseinsteiger und ist daher konkreter und handlungsbezogener als das ebenfalls sehr zu empfehlende Lehrbuch "Einführung in die Strafverteidigung" von Barton (mit Rezension Mangold HRRS 2007, 371). Klemke/Elbs widmen sich den relevanten Fragen, mit denen sich ein Strafverteidiger im Laufe eines Mandates konfrontiert sieht. Dabei orientiert sich das Grundkonzept des Werkes an dem chronologischen Ablauf eines typischen Strafverteidigungsmandates. Zunächst gehen die Autoren auf die Mandatserteilung ein und unterscheiden hier zwischen der Annahme einer Wahl- und einer Pflichtverteidigung. Für den Wahlverteidiger geben sie u.a. praktische Hinweise zum Anwaltsvertrag und etwaigen Mandatsbedingungen, den erforderlichen Vollmachten, der zivilrechtlichen Haftung des Verteidigers und schließlich der Mandatsablehnung. Es folgen Erläuterungen zum Wesen der Pflichtverteidigung, zu den Fällen notwendiger Verteidigung, zu der Bestellung zum Pflichtverteidiger und der Rücknahme der Bestellung. Die klassischen Probleme zulässigen und unzulässigen Verteidigerhandelns fehlen ebenso wenig wie Grundsätzliches zum Selbstverständnis und der Aufgabe einer modernen Strafverteidigung. Die Verteidigervergütung wird ebenfalls kurz angesprochen.

Sodann folgt der Aufbau des Einführungswerkes den einzelnen Abschnitten eines Strafverfahrens. Als zentrales Ziel von Verteidigertätigkeit im Ermittlungsverfahren stellen die Autoren die Vermeidung einer Hauptverhandlung vor und zeigen die Möglichkeiten des Verteidigers auf, dieses Ziel zu erreichen. Ausführlich werden Maßnahmen vorgestellt, die dem Verteidiger zur Informationsbeschaffung in diesem wichtigen Verfahrensabschnitt dienen. In diesem Zusammenhang finden sich auch Anregungen zur zentralen Fragestellung, ob sich ein Mandant zur Sache äußern oder schweigen soll. In einem gesonderten Abschnitt wird die Verteidigung des inhaftierten Beschuldigten behandelt.

Das Kapitel zum Zwischenverfahren ist von deutlich geringerer Länge und wird von den Autoren zunächst mit einer deutlichen Kritik an der gesetzgeberischen Konzeption dieses Verfahrensabschnittes eröffnet.

Den größten Umfang hat das Kapitel zum Hauptverfahren. Dort gehen Klemke/Elbs eingangs auf die Vorbereitung der Hauptverhandlung ein und verdeutlichen die Bedeutung einer frühzeitigen (mandatsinternen) Formulierung von Verfahrenszielen und dem Entwickeln einer Verteidigungsstrategie. Sodann wird die Umsetzung der Strategie mit den für dieses Verfahrensstadium zur Verfügung stehenden Rügen und Anträge aufgezeigt. Anschließend werden der Ablauf der Hauptverhandlung und dazu erforderliche praktische Hinweise knapp dargestellt um dann wieder etwas breiter die Beweisaufnahme und die sich dort stellenden Problem zu erläutern.

Die Verteidigung im Strafbefehlsverfahren und dem beschleunigten Verfahren findet im Anschluss noch Erwähnung; in dem letzten Kapitel des Einführungsbuches wird Verteidigung im Rechtsmittelverfahren eher angedeutet.

Neben den gängigen Hand- und Formularbüchern lag eine "Einführung in die Praxis der Strafverteidigung" nicht nur im Hinblick auf die Neueinführung des universitären Schwerpunktbereiches "Praxis der Strafverteidigung" an vielen Universitäten auf der Hand. Da immer mehr junge Assessoren in die Anwaltschaft und dort zur Strafverteidigung streben, gibt es einen Bedarf an einem soliden, gut lesbaren mit konkreten Ratschlägen versehenen Einführungswerk. All das bietet "der Klemke/Elbs". Es liegt in der Natur einer Einführung, dass die Autoren nicht jedes Einzelproblem bis ins kleinste Detail diskutieren können. Zu den wichtigen Problemen geben die Autoren dem Leser trotzdem die prominentesten Argumente an die Hand und versäumen es nicht, eigene Stellungnahmen zu bieten. Für eine detailliertere Auseinandersetzung mit dem jeweiligen Thema verweisen Klemke/Elbs den interessierten Leser auf die Lektüre der einschlägigen Urteile oder Standardwerke.

Besonders lobenswert ist der Enthusiasmus mit dem Klemke/Elbs den sich zur Strafverteidigung geneigt fühlenden Berufsanfänger deutlich zu einer engagierten, mutigen und unbequemen Berufsausübung motivieren wollen. Niederschlag findet dies zum Beispiel bei einer tendenziellen Ablehnung des Deals durch die Autoren. Jene Ermutigungen dürften bei so manchem die angestrebte Berufswahl weiter verfestigen und den Wunsch steigern, "endlich sofort anfangen" zu wollen. Der Berufseinsteiger findet in der "Einführung in die Praxis der Strafverteidigung" viele Formulierungsvorschläge und –vorlagen für den Berufsalltag. Dies ist für ihn ebenso hilfreich wie einige Tipps zu ganz praktischen Dingen, etwa der Kleidungsfrage, die sich für jeden Strafverteidiger vor seiner ersten Hauptverhandlung stellt. Derlei Passagen mögen für den erfahrenen Strafverteidiger bisweilen amüsant zu lesen sein, so manchem Berufsanfänger brennen aber gerade diese Fragen unter den Nägeln und Klemke/Elbs wollen ihn mit den typischen Einsteigerproblemen nicht alleine lassen. Berufseinsteiger dürften jedoch Hinweise zur Mandantenwerbung und –gewinnung vermissen. Die Wichtigkeit dieses Themas darf für die Zielgruppe dieses durchweg empfehlenswerten Werkes nicht unterschätzt werden und sollte die Autoren für eine etwaige Zweitauflage anregen.

Allen zur Strafverteidigung neigenden Studenten, Referendaren und Berufseinsteigern sei die Lektüre der "Einführung in die Praxis der Strafverteidigung" für eine erste Orientierung ans Herz gelegt. Nicht zuletzt bringt die Lektüre dieses Werkes an vielen Stellen Lesefreude, etwas, was nicht unbedingt von jedem juristischen Fachbuch behauptet werden kann. Der Berufsanfänger sollte sich in seiner Fachbibliothek einen Platz für dieses Buch freihalten.

Michael Tsambikakis , Rechtsanwalt und Fachanwalt für Strafrecht, Köln; Philipp Obladen, Dipl.-Jurist, Köln