HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

April 2005
6. Jahrgang
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Schrifttum

Markus D. Dubber, Einführung in das US-amerikanische Strafrecht, C.H. Beck, München, 2005 (Reihe: JuS-Schriftenreihe, Ausländisches Recht: Bd. 173), XVII, 216 S., Kart., ISBN 3-406-53042-7, € 19,80

I. Das US-amerikanische Strafrecht sieht sich seit langem dem Vorwurf ausgesetzt, "theoriefeindlich" sowie "unsystematisch" zu sein, und nur wohlwollende Stimmen versuchen diese Vorwürfe durch das Attribut "pragmatisch" oder den Hinweis auf eine "andere Rechtskultur" abzuschwächen. Markus D. Dubber, Professor an der Buffalo School of Law (State University of New York) und Direktor des dortigen "Buffalo Criminal Law Center" (http://wings.buffalo.edu/law/bclc), muss in seiner "Einführung in das US-amerikanische Strafrecht" gegen viele Vorurteile kämpfen und - das sei vorweggenommen - entkräftet diese weitgehend. Aber der Reihe nach.

II. Einleitend beschäftigt sich Dubber zunächst mit dem Stellenwert des common law im Bereich des Strafrechts

(Teil 1, S. 1 ff.). Dubber relativiert hier unter anderem die verbreitete Meinung, dass das US-amerikanische Strafrecht vorwiegend auf Richterrecht beruhe. Von Dubber erfahren wir, dass sich der Schwerpunkt der Rechtsproduktion von der Judikative auf Exekutive und Legislative verschoben hat (S. 7 ff.) und dass an die Stelle des strafrechtlichen Richterrechts moderne Strafrechtskodifikationen getreten sind, die ähnlich ihren kontinentaleuropäischen Entsprechungen nahezu alle Gesellschaftsbereiche (straf-)rechtlich erfassen. Sie sind es auch, die das US-amerikanische Strafrecht zu einem schwer fassbaren Arbeitsgegenstand machen (S. 2). Neben dem Strafrecht der 50 Bundesstaaten gibt es ein Strafrecht des Bundes und eine unüberschaubare Fülle an Nebenstrafrecht auf allen administrativen Ebenen (S. 3). Um der Unübersichtlichkeit Herr zu werden, wählt Dubber einen eigenen Zugang zum US-amerikanischen Strafrecht, der zugleich der modernste ist: Dubbers Buch ist eine Einführung in den sog. "Model Penal Code" (MPC), einem Musterstrafgesetzbuch (S. 17 ff.), das nach langjährigen Vorarbeiten 1962 von dem privaten American Law Institute veröffentlicht wurde (zur Entstehungsgeschichte siehe Dubber, Penal Panopticon: The Idea of a Modern Model Penal Code, in: Buffalo Criminal Law Review, Vol. 4 No. 1 [2000], S. 53-100; zugänglich über http://wings.buffalo.edu/law/bclc/bclr.htm). Der Model Penal Code war Anstoß zu Reformbemühungen in 40 der 50 Bundesstaaten der USA und ist nach dem Ende des common law-Strafrechts zum "gemeinsamen Nenner" im amerikanischen Strafrecht geworden (S. 16).

Über den Model Penal Code und die beigegebenen Erläuterungen lässt sich das US-amerikanische Strafrecht systematisch und inhaltlich erfassen (siehe hierzu deutsche Übersetzung des MPC von Richard M. Honig, Entwurf eines amerikanischen Musterstrafgesetzbuches, Berlin 1965, Reihe: Sammlung außerdeutscher Strafgesetzbücher in deutscher Übersetzung, Bd. 86). Dies gilt im besonderen für den Bereich des Allgemeinen Teils, mit dem der Model Penal Code das "Chaos" des alten common law ordnet und den Versuch unternimmt, "ein rationales System von Strafrecht" zu erstellen (S. 19). Grundlage und zugleich Schwerpunkt der Darstellung des Allgemeinen Teils ist ein dreistufiger Verbrechensaufbau (§ 1.02 MPC, vgl. S. 34 ff.), bestehend aus "Handlung und Tatbestandsmäßigkeit" (Teil 2, S. 42 ff.), "Rechtfertigung" (Teil 3, S. 139 ff.) und "Entschuldigung" (Teil 4, S. 178 ff.). Der dreistufige Aufbau ist dem deutschen Leser aus Lehrbüchern vertraut und bietet diesem an vielen Stellen Gelegenheit zu rechtsvergleichenden Studien. Markus Dubber selbst beschränkt sich freilich nicht auf das amerikanische Strafrecht, sondern bereichert seine Darstellung mit Bezügen zum deutschen Strafrechtssystem. Ein gutes Beispiel ist die Lehre vom Notstand (S. 144 ff.), die zusammen mit der Unterscheidung zwischen Unrecht und Schuld ein Dauerbrenner im amerikanisch-deutschen Strafrechtsdialog ist (Siehe hierzu nur den Sammelband von Eser/Fletcher [Hrsg.], Rechtfertigung und Entschuldigung, Rechtsvergleichende Perspektiven, Bd. I, 1987). So heißt es etwa im Lehrbuch von Jescheck/Weigend in bezug auf den berühmten Mignonnette-Fall von 1884 (Fall Dudley & Stephens: Drei schiffbrüchige Seeleuten töten einen vierten, verzehren ihn und überleben dadurch): "Ohne die Gliederung des Verbrechensbegriffs in Tatbestandsmäßigkeit, Rechtswidrigkeit und Schuld und die weitere Differenzierung dieser Merkmale durch Unterscheidungen wie rechtfertigender und entschuldigender Notstand bleibt die Lösung dieses Falles unsicher und von Gefühlserwägungen abhängig." (Jescheck/Weigend, Lehrbuch des Strafrechts, Allg. Teil, 4. Aufl. 1988, § 21 I 2) Ohne in die Tiefen der dogmatischen Unterscheidung zwischen Unrecht und Schuld einzugehen, bemüht sich Dubber doch um ein differenzierteres Bild der Lage. So kennt der Model Penal Code zwei Erscheinungsformen von Notstand: zum einen den rechtfertigenden Notstand (choice of evils, necessity, § 3.02 MPC, S. 144 ff.) nach dem Prinzip der Zweck-Mittel-Abwägung; zum anderen eine Art Nötigungsnotstand (duress, Nötigung, § 2.09 MPC, S. 180 ff.) für von anderen Personen ausgehende Zwänge, der zu einem Ausschluss der strafrechtlichen Verantwortlichkeit auf Ebene der Schuld führt. Einen im engeren Sinne entschuldigenden Notstand dagegen gibt es nicht. Aus diesem Grund ist der Fall der drei Schiffbrüchigen, die einen vierten opfern, um selbst zu überleben, weder über rechtfertigenden Notstand (da im Verhältnis von Leben gegen Leben kein Überwiegen feststellbar, S. 148) noch über Nötigung (da keine Nötigung durch eine andere Person, S. 182 f.) zu lösen. Dass dieser Fall nach deutschem Recht über entschuldigenden Notstand nach § 35 StGB zu lösen gewesen wäre, ist aber sicher kein Beweis für die Überlegenheit der deutschen und die Unterkomplexität der nordamerikanischen Strafrechtsdogmatik.

Der Model Penal Code ist sicherlich ein großer Schritt zu einer Verwissenschaftlichung des US-amerikanischen Strafrechts (ein weiterer Vorreiter dieser Entwicklung ist George P. Fletcher, vor allem durch seinen Klassiker "Rethinking Criminal Law", Boston: Little, Brown, 1978). Die Vorstellungen eines "theoriefeindlichen" und "systemfreien" Strafrechts gehen am modernen Strafrecht Nordamerikas im wesentlichen vorbei. Trotz der Annäherungen darf allerdings nicht übersehen werden, dass der Model Penal Code trotz oder gerade wegen seines "Pragmatismus in Grundsätzen" (S. 19) innerhalb der amerikanischen Rechtstradition steht und sich von anderen modernen, vor allem kontinentaleuropäischen Strafrechtskodifikationen in mancher Hinsicht unterscheidet. Auffällig ist vor allem die ungewöhnliche Dichte an Legaldefinitionen von wichtigen Rechtsbegriffen wie etwa Handlung (§ 2.01 MPC, vgl. S. 42 ff.), Vorsatz (§ 2.02 MPC, S. 61 ff.), Kausalität (§ 2.03 MPC, S. 107 ff.), interessanterweise aber auch für die Ziele staatlichen Strafens (§ 1.02 MPC, S. 31 ff.). Dieser Detailreichtum erklärt sich aus der Zielsetzung des Codes, den Richtern so wenig wie möglich Freiraum zur Entwicklung von richterrechtlichen Strafnormen ("common law crimes", verboten nach § 1.05 (1) MPC) zu geben (S. 18).

III. Fazit: Markus D. Dubber hat eine gut lesbare und anspruchsvolle "Einführung in das US-amerikanische Strafrecht" geschrieben. Hervorzuheben ist an dieser

Stelle der großzügig bestellte Registerapparat, der das Buch um ein Stichwort- und Paragraphenverzeichnis, aber auch durch ein strafrechtliches Prüfungsschema bereichert. Es steht außer Zweifel, dass das Buch von Dubber einen wichtigen Beitrag zur wissenschaftlichen "Ehrenrettung" des modernen US-amerikanischen Strafrechts leistet.

Wiss. Mit. Sascha Ziemann, Univ. Frankfurt am Main

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Maya Thumm: Strafbarkeit des Anbietens von Internetglücksspielen gemäß § 284 StGB, Verlag Dr. Kovac, Hamburg 2004, 137 Seiten, broschiert, ISBN 3-8300-1554-2, 68 Euro.

Bezogen auf die Auslegung und Anwendung der §§ 284 ff. StGB ist in den letzten Jahren vor allem um die Frage gestritten worden, ob sog. Sportwetten mit festen Gewinnquoten (Oddset-Wette) als Glücksspiele im Sinne des § 284 StGB einzuordnen sind. Mit der die Anwendbarkeit des § 284 StGB zutreffend befürwortenden Entscheidung des BGH (JZ 2003, 858 m. Anm. Wohlers und Anm. Lesch JR 2003, 344) ist die diesbezügliche Diskussion nun zwar zu einem vorläufigen Abschluss gekommen; sie dürfte aber angesichts der durch die divergierenden nationalen Bewilligungspraxen sowie der zuletzt durch die Gambelli-Entscheidung des EuGH (NJW 2004, 139 ff.) aufgeworfenen grundlegenden Legitimationsprobleme auch weiterhin für Diskussionsstoff sorgen (vgl. hierzu auch bereits BVerwG NJW 2001, 2648, 2650 sowie - jeweils unter Bezugnahme auf EuGH NJW 2004, 139, aber mit gegensätzlichen Schlussfolgerungen - BayObLG NStZ 2004, 445 f.; Ohlmann WRP 2005, 48, 60 ff. einerseits und LG Hamburg NStZ-RR 2005, 44 andererseits).

Besondere Probleme ergeben sich dann, wenn Glücksspiele über das Internet angeboten werden: Jedenfalls dann, wenn das Glücksspiel vom Ausland aus und über ausländische Server angeboten wird, fehlt es an einem Handeln im Inland, mit der Folge dass die Anwendbarkeit des deutschen Strafrechts davon abhängig ist, ob man einen Erfolgsort im Inland begründen oder sich mit der Intention des Täters begnügen kann, Spiele im Inland zu einer Teilnahme zu veranlassen (vgl. hierzu z.B. NK-Wohlers, 8. Lfg. [Stand: 30.8.2000], § 284 Rn 42; Wohlers JZ 2003, 860, 862, jeweils m.w.N.). Ziel der von Samson betreuten und im Oktober 2002 von der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel als Dissertation angenommenen Untersuchung ist es, die Frage zu klären, "ob sich die Anbieter von online-casinos durch ihre Tätigkeit nach deutschem Recht gem. § 284 strafbar machen" (S. 12).

Die Abhandlung ist im Wesentlichen in zwei Abschnitte geteilt: Zunächst wird ein Einblick in die Entstehungsgeschichte, Struktur und Funktionsweise des Internets gegeben (S. 11-34). Im Anschluss daran wird dann die Subsumierbarkeit des Anbietens von Internetglücksspielen unter § 284 StGB geprüft (S. 34-125), wobei hier der Schwerpunkt auf einer Auseinandersetzung mit den Tathandlungsalternativen des § 284 StGB liegt (S. 40 ff.).

Bevor auf den Inhalt der Abhandlung eingegangen wird, lassen sich einige kritische Anmerkungen zur formalen Seite nicht vermeiden: Die eigentliche Abhandlung umfasst netto 114 Seiten, wobei - bedingt durch die gewählte Schriftart sowie dadurch, dass in weiten Teilen der Arbeit jeder Satz zu einem eigenständigen Absatz gemacht wurde - nicht allzu viel Text pro Seite vorhanden ist. Festzustellen bleibt weiterhin, dass die Seitenangaben im Inhaltsverzeichnis nicht stimmen und sich im Literaturverzeichnis einige Werke an eher ungewohnten Stellen finden - der "Tröndle/Fischer" findet sich unter Fischer und der "Lackner/Kühl" unter Kühl, während z. B. der "Schönke/Schröder" wie gewohnt eingeordnet wird. In dieses Bild fügt es sich dann ein, dass auch Orthografie und Grammatik nicht an allen Stellen über jeden Zweifel erhaben sind.

In inhaltlicher Hinsicht kommt Thumm zu dem Ergebnis, dass das Betreiben eines online-casinos nicht nach § 284 StGB strafbar ist. Zwar verwirkliche der Anbieter von Internetglücksspielen durch sein Verhalten die Tathandlungsalternativen des Veranstaltens - abhängig von der technischen Ausgestaltung entweder in unmittelbarer oder in mittelbarer Täterschaft (S. 45-80) -, des Haltens von Glücksspielen (S. 81) und des Bereitstellens von Einrichtungen für Glücksspiele (S. 81-91), es fehle aber an der Anwendbarkeit des deutschen Strafrechts (S. 80, 81, 91). Etwas überraschend ist nun, dass dieser Standpunkt auf etwas mehr als einer Seite "begründet" wird. Im Rahmen dieser Ausführungen findet sich dann nur eine einzige Fundstelle, mit der im Übrigen die Aussage belegt wird, "dass die Internetseiten von online-casinos sehr häufig auf Servern abgelegt sind, die sich in der Karibik befinden. Ein beliebter Standort ist z.B. Antigua." Die Nichtanwendbarkeit des deutschen Strafrechts leitet Thumm aus der Erwägung ab, dass es an einem Handeln im Inland fehlt und - jedenfalls in den Fällen, in denen sich der Server im Ausland befindet - auch ein Erfolgsort im Inland nicht vorhanden sei. Eine Auseinandersetzung mit abweichenden Stimmen findet nicht statt, der entsprechende Meinungsstand wird weder referiert noch auch nur erwähnt.

Im Rahmen der nachfolgenden Auseinandersetzung mit der Tathandlungsalternative des Werbens für ein Glücksspiel (§ 284 Abs. 4 StGB) findet dann zwar doch eine Auseinandersetzung wenigstens mit den Ansätzen von Sieber und Cornils statt, doch auch hier nicht direkt bezogen auf die Anwendbarkeit des deutschen Strafrechts, sondern im Hinblick auf die Frage, ob abstrakte Gefährdungsdelikte einen tatbestandlichen Erfolg aufweisen oder nicht (S. 104 ff.). Thumm vertritt insoweit die Auffassung, abstrakte Gefährdungsdelikte würden "in der Regel einen formal tatbestandlichen Erfolg erfordern" (S. 113). Bezogen auf § 284 Abs. 4 StGB sei allerdings unabhängig davon, ob man den tatbestandlichen Außenerfolg im tatsächlichen Zugang beim Benutzer sehe oder

aber schon das bloße Zugänglichmachen auf einem Server ausreichen lasse, die Anwendbarkeit des deutschen Strafrechts nicht gegeben, wenn sich der Server nicht in Deutschland, sondern im Ausland befinde (S. 120 ff.).

Die Abhandlung bietet einige durchaus interessante Ansätze für die Auslegung der Tathandlungsalternativen des § 284 StGB, die aber für das Ergebnis der vorliegenden Untersuchung selbst keinen tragenden Gehalt haben. Die insoweit im Vordergrund stehende These - die Unanwendbarkeit des deutschen Strafrechts bei Glücksspielen, die vom Ausland aus über im Ausland belegene Server angeboten werden - wird ohne Auseinandersetzung mit dem abweichenden einschlägigen Schrifttum schlicht aus dem Gesetz deduziert. Den Anforderungen, die an eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dieser Frage zu stellen sind, kann dies nicht genügen.

Prof. Dr. Wolfgang Wohlers, Zürich.

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Renée M. Watkins-Bienz: Die Hart-Dworkin Debatte. Ein Beitrag zu den internationalen Kontroversen der Gegenwart (Schriften zur Rechtstheorie, Heft 220), Verlag Duncker & Humblot, Berlin 2004, 213 S., br., 56,00 EUR.

In einer Arbeit aus dem Jahre 1970 nannte Jeffrie K. Murphy H.L.A. Harts "Concept of Law" (1961) "probably the best book in legal philosophy ever written". Zu diesem Zeitpunkt war Harts Werk allerdings schon zum Gegenstand heftiger Angriffe geworden. Drei Jahre zuvor hatte ein junger Yale-Professor namens Ronald Dworkin einen vielbeachteten Aufsatz veröffentlicht, in dem er am Beispiel des "Concept of Law" das rechtspositivistische "Model of Rules" einer Fundamentalkritik unterzog. In den folgenden Jahrzehnten bekräftigte und vertiefte Dworkin seine Einwände in einer Reihe weiterer Abhandlungen, die er in den Bänden "Taking Rights Seriously" (1977) und "A Matter of Principle" (1985) versammelte. Eine Gesamtdarstellung seiner eigenen Konzeption legte er 1986 in dem Buch "Law’s Empire" vor. Nach dem Tod von Hart und John Rawls gilt Dworkin (geb. 1931) gegenwärtig als der wohl einflußreichste anglo-amerikanische Rechtsphilosoph. In der rechtstheoretischen und rechtsphilosophischen Diskussion im deutschsprachigen Raum sind sowohl Hart (vor allem dank der Pionierarbeit von Norbert Hoerster) als auch Dworkin, dessen Prinzipientheorie des Rechts von Robert Alexy in zahlreichen Veröffentlichungen aufgegriffen worden ist, intensiv präsent. Daß dieses hohe Ansehen zumindest im Falle Dworkins auf einer Überschätzung beruht, ist das mutige, aber durchaus überzeugende Fazit der von Walter Ott betreuten Züricher Dissertation von Renée M. Watkins-Bienz.

Dworkins zentrale These ist hermeneutischer Natur. Das Recht bedürfe notwendig der kreativen oder, wie er selbst sagt: der konstruktiven Deutung durch den einzelnen Interpreten. Diese konstruktive Interpretation verfolgt nach Dworkin einen rechtfertigenden Zweck, der darin besteht, ein gegebenes Rechtssystem und seine Institutionen unter Berücksichtigung der moralischen und politischen Wertordnung der jeweiligen Gemeinschaft im besten Licht zu präsentieren. All jene Gesichtspunkte, die zur interpretatorischen Erschließung und Rechtfertigung des vorgegebenen Rechtsmaterials herangezogen werden können und in dessen bestmögliche Gesamtinterpretation integrierbar sind, stellen nach Dworkin spezifisch rechtliche Argumente dar. Da sich in dieser Lesart das Recht als lückenloses System präsentiert, entfällt Dworkin zufolge der Freiraum richterlichen Ermessens. Auch in schwierigen Fällen halte das Recht die eine richtige Antwort bereit.

Bereits nach Dworkins eigener Darstellung verlangt die Herstellung umfassender Kohärenz innerhalb des Rechtssystems herkulische Kräfte. Nur ein fiktiver Richter ("Herkules") könne dieser Aufgabe gerecht werden. Wie sinnvoll aber - so fragt Watkins-Bienz zu Recht - "ist eine Doktrin, deren praktische Umsetzung göttliche Kräfte voraussetzt?" In pluralistischen Gesellschaften ist Dworkins Forderung nach umfassender Kohärenz zudem von vornherein unrealistisch. "Politische Programme, die beispielsweise Umweltschutz und wirtschaftliches Wachstum zur Sicherung eines hohen Beschäftigungsgrades, Vertragsfreiheit und Konsumentenschutz oder Mieterschutz, soziale Erwägungen wie Mindestlöhne und Handelsfreiheit usw. betreffen, konkurrieren miteinander nicht nur auf einer philosophisch abstrakten Ebene, sondern häufig auch auf der Ebene einzelner Gesetze, die mit einander widersprechenden Zielen zur Befriedigung einer bestimmten politischen und marktwirtschaftlichen Situation geschaffen worden sind." Die Fiktion der Kohärenz eines entwickelten Rechtssystems ist in Watkins-Bienz’ Worten daher "eine untaugliche Leitplanke für den Richter". Diesem bleibt in schwierigen Fällen die Aufgabe nicht erspart, "eine vom Gesichtspunkt der Konsistenz und Integrität mehr oder weniger unabhängige und vorläufige Vorstellung von Gerechtigkeit vorauszusetzen, anhand deren divergierende Interpretationsziele gegeneinander abzuwägen sind". Indem Dworkin diesen Befund wegdefiniert, erreicht er, wie Watkins-Bienz zu Recht hervorhebt, im praktischen Ergebnis das genaue Gegenteil dessen, was er in der Theorie für richtig hält. Er erweitert den subjektiven Spielraum des einzelnen Entscheiders, "und gegen diesen erweiterten Subjektivismus ist weder die These der objektiv richtigen und einzig wahren Antwort noch das Kohärenzgebot ein adäquates Heilmittel". Das mit dem positivistischen Ermessen begründete Risiko einer Gefährdung der Individualrechte wird infolge der verstärkten Moralisierung und Politisierung der Rechtsprechung faktisch nicht etwa vermindert, sondern vielmehr erhöht.

Deutlich besser kommt bei Watkins-Bienz die Rechtstheorie H.L.A. Harts davon. Während Dworkin von der Frage ausgeht, weshalb Recht befolgt werden soll, versucht Hart, Recht als normatives System empirisch zu begründen, indem er die Frage beantwortet: "Weshalb wird Recht befolgt?" Hart stellt das Recht in die Mitte zwischen solchen Anordnungen, die ohne die mit ihnen

verbundene Gewaltandrohung von den Adressaten nicht befolgt werden würden, und Anordnungen ohne Gewaltandrohung, die freiwillig befolgt werden. Er macht geltend, daß das Recht auf das Element des Zwanges zwar nicht verzichten kann, daß aber für die Aufrechterhaltung eines Rechtssystems ein gewisses Maß an freiwilliger Befolgung ebensowenig entbehrlich ist. Der Klärung des Zusammenhangs von Pflichtbegründung und freiwilliger Regelbefolgung dient die Regeltheorie Harts, insbesondere seine Unterscheidung zwischen dem internen und dem externen Aspekt von Regeln. Zu Recht moniert Watkins-Bienz die Ambivalenz in Harts Verwendung dieses Begriffspaares. Zum einen bezieht Hart sich mit ihm auf das Verhalten einer Gemeinschaft. In bezug auf Regeln lege diese eine normativ-interne Einstellung an den Tag, die sich insbesondere in der Mißbilligung abweichenden Verhaltens äußere. Im Hinblick auf bloße Gewohnheiten fehle es dagegen an derartigen Reaktionen. Zum anderen wendet Hart das Begriffspaar "intern-extern" auf die Motivation des einzelnen Rechtsgenossen zur Befolgung von Regeln an. "Intern" bedeutet hier, die Regel aus einer Haltung der Akzeptanz heraus zu befolgen, "extern" heißt, sich aus Furcht vor Sanktionen an sie zu halten. Es ist ersichtlich, daß es in beiden Fällen um ganz unterschiedliche Problemstellungen geht. Im erstgenannten Zusammenhang bezieht die von Hart eingeführte Unterscheidung sich auf verschiedene Arten von Sprechakten, im zweitgenannten Kontext dient sie dagegen als Element innerhalb einer (krypto-)soziologischen Wirksamkeitsanalyse.

Watkins-Bienz scheint die Reichweite dieses Befundes allerdings zu unterschätzen. Der zentrale methodische Anspruch Harts besteht darin, "analytische Jurisprudenz" und "deskriptive Soziologie" miteinander zu einem einheitlichen Ganzen zu verbinden. Die Doppeldeutigkeiten innerhalb seiner Regeltheorie - Gleiches gilt übrigens für die von Watkins-Bienz allzu unkritisch rezipierte Abgrenzung von Primär- und Sekundärregeln - belegen das Scheitern dieses Projekts. Es zeigt sich nämlich, daß Hart statt einer einheitlichen, analytisch und soziologisch brauchbaren Theorie in Wahrheit zwei voneinander unabhängige Theoriefragmente entwickelt hat. Der sprachanalytische und der rechtssoziologische Gedankenstrang stehen bei ihm letztlich unverbunden nebeneinander.

Die fehlende Radikalität ihrer Kritik ändert aber nichts daran, daß Watkins-Bienz ein gutes Buch geschrieben hat, das eine Darstellungslücke im deutschsprachigen Schrifttum in überzeugender Weise ausfüllt. Daß von Amerika lernen nicht in allen Fällen siegen lernen heißt, ist eine Botschaft, der man in der gegenwärtigen Diskussion über die Schwächen des deutschen Universitätssystems und die vermeintlichen Heilmittel aus der Neuen Welt breites Gehör wünschen möchte.

Professor Dr. Michael Pawlik (LLM Cantab.), Universität Regensburg

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